Lukas Pallitsch fragt sich angesichts der Konstellation vieler Krisen: Braucht es vielleicht ProphetInnen, kritische Stimmen? Ein Blick in literarische Zeugnisse der ersten Hälfte des 20. Jhdts. liefert ihm Anhaltspunkte.
Sofern man Bücher, Historien und Memoiren über die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts liest, hat man oft noch das Gefühl, in eine Epoche einzutauchen, die zwar wichtig, aber vorbei ist. Etwas über eine Zeit kurz vor einem Krieg im Herzen Europas zu rezipieren, schien bis vor wenigen Monaten noch in gedanklicher Ferne. In literarischen Texten zu lesen, dass Figuren sich mit Koffern auf Bahnhöfe zubewegen, um dann in anderen Städten anzukommen, ist nun aber zu einem erschütternden Eindruck der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart geworden.
„Wir haben unser Zuhause und dann die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind.“
Diese Zeilen aus Hannah Arendts Essay „We Refugees“ (dt. „Wir Flüchtlinge“) beschreiben jenen umfassenden Verlust, von dem sich deutsch-jüdische Flüchtlinge zum Jahreswechsel 1942/43 betroffen zeigen. Der Essay, im Januar 1943 im Menorah Journal veröffentlicht, liest sich wie ein Klagelied aus heutiger Zeit: staatenlos, entrechtet und auf der Flucht.
Konstellationen erlauben, Dinge, Ereignisse oder Ideen, die zunächst wie Punkte auf einem Mosaik auseinanderliegen, in eine Beziehung zueinander zu setzen.
Wie lässt sich begreifen, was hier passiert? Mit dem Begriff der Konstellation hat man es mit einem astronomischen Begriff zu tun, um die Stellung der Himmelskörper zueinander zu erfassen. Abgesehen von den Sternbildern kann damit im Anschluss an Walter Benjamin eine gewisse Situation bzw. ein bestimmtes Verhältnis bezeichnet werden. Selbst durch eine Entleerung der astronomischen Semantik wohnt diesem Begriff durch die Sternbild-Konnotation noch ein Moment des Unvorhergesehenen und damit ein Funke Utopie inne. Emblematisch für die Relationen von Sternen kann auf den ersten Blick entfernt Wirkendes in eine Beziehung gebracht werden. Konstellationen können erkenntnisbildend sein, wie Walter Benjamin in seiner Erkenntniskritischen Vorrede seines Trauerspielbuchs ausführt: „Denn nicht an sich selbst, sondern einzig und allein in einer Zuordnung dinglicher Elemente im Begriff stellen die Ideen sich dar.“ (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 214) Konstellationen erlauben demnach, Dinge, Ereignisse oder Ideen, die zunächst wie Punkte auf einem Mosaik auseinanderliegen, in eine Beziehung zueinander zu setzen.
Leben wir auch heute in einer Krise oder nicht vielmehr in einer Zeit akkumulierender Krisen? Mit dem reißerischen Titel „Sieben auf einen Streich“ hat jüngst Bernd Ulrich in Die Zeit Artensterben, Klimawandel, Corona, Krieg, Hunger sowie Massenflucht aus Ost und Süd in eine Konstellation gebracht, indem er auf eine zusammenhängende Anordnung dieser Phänomene verwiesen hat. Wen oder was aber braucht es in Zeiten der Krisen? Diese Frage, mit der auch die Goldenen Zwanziger endeten, kommt heute wieder auf, da die Zeit – wie damals – aus den Fugen geraten ist.
Vielleicht braucht es wieder Prophetinnen und Propheten.
Was es braucht? Vielleicht braucht es wieder Prophetinnen und Propheten: Männer und Frauen als kritische Stimme, die mahnen, drohen und unbequem sind. Es gab und es gibt sie. Was aber zeichnet sie aus? Biblische Prophetie ist gekennzeichnet von einer Nähe zur gegenwärtigen Zeit. ProphetInnen sind nicht weltabgewandt, sondern haben eine Distanz zu dem, was öffentlich organisiert ist, und sind dadurch ihrer Zeit besonders nahe. Als scharfe Beobachter der Tendenzen verfügen sie über ein Gespür dafür, was zu kommen droht. Während andere noch (ver-)trösten oder gar Trost in einer Sonderwelt suchen, sind ProphetInnen unruhig in und mit der Zeit, in der sie leben. Davon zu unterscheiden ist die Wahrsagerei, die bereits zu biblischer Zeit untersagt war, weil sie ihr Geschäft mit der Angst der Menschen macht. Freilich sprechen auch ProphetInnen über Zukünftiges, aber sie kommen zu solchen Aussagen, weil sie wie ein in der Gegenwart aufgerichteter Seismograph das Erbeben des Künftigen spüren.
Kaum eine Einrichtung erträgt es auf lange Sicht, dass sie Störenfriede, die ProphetInnen immer auch sind, in ihren Reihen hat.
Dass das Feuer biblischer Prophetie irgendwie allmählich entflammt ist, steht in engem Zusammenhang mit der Strukturierung von Religion: Kaum eine Einrichtung erträgt es auf lange Sicht, dass sie Störenfriede, die ProphetInnen immer auch sind, in ihren Reihen hat, die sie unentwegt aufmerksam machen, dass ihre institutionellen Auswüchse auch über Abgründe verfügen. Man lässt dann die Aussagen von ProphetInnen nur mehr in dem Maße zu, wie sie der institutionellen Passform zuträglich sind. Möglicherweise ist auch schwache Religion prophetielos, nicht weil sie diese niederhält oder bannt, sondern weil sie sich selbst gegen sie abgeschlossen hat. Muss folglich nicht Religion, in der Art und Weise, wie sie in ihrer Organisationsform erstarkt, die prophetischen Impulse schwächen? Bedarf sie der MahnerInnen, die darauf verweisen, wie es sein könnte? Braucht sie Menschen, die auf die Selbstgenügsamkeit und Saturiertheit der Mächtigen verweist? Nelly Sachs hat diese Fragen 1949 lyrisch verdichtet und verarbeitet:
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner
der längst nicht mehr wartet am Abend –
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
Kaum zufällig sind in dem Konditionalgefüge die Zeitwörter im Konjunktiv und damit in der Möglichkeits- und nicht in der Wirklichkeitsform geschrieben: Was zunächst (noch) möglich scheint, kann jedoch wirklich werden. Das Gewicht der an die Menschheit adressierten Fragen bleibt nicht in einem rein reflexiven Bereich, sondern verlagert sich stärker auf die Handlungsebene, indem das „Ohr der Menschheit“ personalisiert und damit direkt angesprochen ist: „Würdest du hören?“
Aus heutiger Sicht wissen wir, dass auf den Propheten Jeremia kaum jemand gehört hat. Er sah den drohenden Untergang von Stadt und Tempel heraufziehen und verwies auf die korrumpierte Oberschicht. Mehrfach für seine Worte gescholten, sogar in eine Zisterne geworfen, fand er sich in trostlosen Situationen vor; er blieb zwar exponiert, aber offen, aufrichtig und kompromisslos in der Verkündigung und in seinen Konfessionen (Jer 11; 15; 17; 18; 20) schonungslos gegenüber der eigenen Überanstrengung.
Innerhalb der eigenen Institution die Grenzen der Möglichkeiten erkennen.
Und heute? Mit prophetischer Rhetorik schien Papst Franziskus 2013 noch zu sprechen, als er meinte: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Evangelii gaudium 53) Damit ist er nicht per se wirtschaftsfeindlich, vielmehr adressiert seine Kritik mit dem Demonstrativpronomen eine konkrete Form von Wirtschaft: eine „Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ (EG 53). Heute ist mit etwas Distanz festzustellen, dass Franziskus mit seiner Lebenshaltung „die Differenz zwischen Gott und dem Geschaffenen erkennt und sich kompromisslos der Frage zuwendet, wie wir unsere Lebenswelt gestalten“ (Wolfgang Treitler, in: Prophetie, Ö1, Logos 15.1.2022); dennoch muss er innerhalb der eigenen Institution die Grenzen der Möglichkeiten erkennen. Diese Differenz verarbeitet der burgenländische Dichter Siegmund Kleinl:
vorbei der kalte krieg, doch die gewalt
ist wieder da in anderer gestalt:
dschihad gegen die amoral des westens.
iran verwandelt in uran. die russen rüsten
ihre eigenen machenschaften im oligarchischen hoch.
mafiate brechen in europa ein,
erpressen geld. es rollt der rubel
und der tourismus jubelt.
gut heißt das böse jetzt und das gute böse.
zählen tut nur, wer zahlt. Es zahlt sich aus, korrupt zu sein
wie das reine schwein, das opfertier für götter.
zugedreht wird brachial der hahn,
er kann nicht krähen für ein besseres morgen.
Es ist einleuchtend, die Verse aus dem Gedichtband PropheZeit (2019) im Kontext unserer situativen Umstände zu lesen. Die Zeile „die russen rüsten/ ihre eigenen machenschaften im oligarchischen hoch“ liest sich heute, drei Jahre nach Erscheinen des Gedichts, wie eine nüchterne Feststellung. Prophetie hat eben damit zu tun, dass man zu Lebzeiten etwas nivelliert, dem man aufgrund späterer Entwicklungen Recht geben muss. „gut heißt das böse jetzt und das gute böse/ zählen tut nur, wer zahlt. Es zahlt sich aus, korrupt zu sein.“
Die Kirche wäre auf dem synodalen Weg gut beraten, die prophetischen Töne von literarischen Randzonen zu vernehmen.
Vielleicht wäre die Kirche auf dem synodalen Weg gut beraten, die prophetischen Töne von literarischen Randzonen (Gaudium et Spes 62) zu vernehmen, um einerseits „das gute Böse“ von dem „Guten“ zu unterscheiden und um andererseits das „Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit“ (Benjamin, Werke V, 578) der Zeit nicht zu versäumen. Dann ginge es im Anschluss an Johann B. Metz um ein Fundament, das auf Solidarität mit den Opfern der Geschichte und einer prophetisch eingeforderten Gerechtigkeit basiert. Es ginge weniger um Selbstgenügsamkeit oder -achtsamkeit als vielmehr um eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Leidens- und Unterdrückungszusammenhänge. Schließlich gälte es jenen Satz ernst zu nehmen, mit dem Walter Benjamin 1922 den Wahlverwandtschaften-Essay beschließt: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“ (Benjamin, Werke I, 201) In diesem aphoristischen Satz liegt ein moralischer Imperativ, der in untrennbarem Zusammenhang mit den Opfern steht.
Auf die Zukunft zu hoffen, kann demnach bedeuten, in der Gegenwart das Mosaik möglicher Krisenkonstellationen zu arrangieren, um nicht in einer Zeit zu erwachen, die schon einmal unheilvoll gewesen ist.
—-
Autor: Dr. Lukas Pallitsch ist Fachinspektor für kath. Religion (Diözese Eisenstadt/ Bildungsdirektion Burgenland) und Lehrbeauftragter an der PH Burgenland
Beitragsbild: Siegmund Kleinl