Der Bestimmung der Kirche als „gierige Institution“ gehen Marianne Egger de Campo und Hans Walz nach.
Den Begriff der Gierigen Institution prägte der in Berlin 1913 als Ludwig Alfred Cohen geborene amerikanische Soziologe Lewis Coser und bezeichnete damit eine das Individuum als Ganzes vereinnahmende Herrscherperson oder herrschende Gruppe. Coser zeigt an unterschiedlichen historischen Fallstudien welche Kennzeichen eine gierige Institution hat: Sie verlangt vollkommenes Engagement, also die gesamte Energie, Zeit und Loyalität des Individuums, das sich der Institution freiwillig (!) unterwirft. Gierige Institutionen unterbinden u.a. Liebes- u. Familienbeziehungen, weil diese die Bindung zur gierigen Institution stören würden. Dafür versprechen sie exklusive Gewinne wie Geborgenheit in einer Gruppe, den exklusiven Zugang zu Macht oder zur Wahrheit sowie spirituelle Einsichten. Gierige Institutionen sieht Coser etwa in Monarchen, die sich gegen die aufbegehrenden Stände oder adeligen Konkurrenten um den Thron durchsetzen, indem sie sich von sogenannten Hofjuden finanzieren oder von Mätressen beraten lassen. Ebenso in der bürgerlichen Familie, die sich im 19. Jahrhundert ihrer Dienstboten bemächtigt und sie einverleibt hat und in gierigen Kollektiven, die als religiöse oder politische Sekten das gesamte Leben ihrer Mitglieder bestimmen und sie nach außen abschotten.[i]
Individuen mehren die Macht der gierigen Institution, indem sie sich ihr unterwerfen und zum Werkzeug der Institution machen lassen. Außenstehende Rollenpartner werden aus dem Leben des Individuums von der gierigen Institution quasi „chirurgisch entfernt“, dafür wird ein „umfassender Status“ mit den damit verbundenen Beziehungen geboten[ii]. Diese Exklusivität des Anspruches auf die Totalität des Lebens, Denkens und Fühlens eines Individuums widerspricht für Coser unserer modernen – säkularen – Welt, denn gierige Institutionen überschreiten regelmäßig normative Grenzen, die in der modernen Welt die Privatsphäre, persönliche Freiheit und Autonomie des Individuums schützen. Zu diesen Normen gehören etwa Arbeitszeitgesetze, die regeln, wieviel seiner Lebenszeit das Individuum dem Arbeitgeber für seinen Lohn schuldet oder auch die Erlaubnis oder Fähigkeit, eine eigene Familie zu haben.
Funktionalistische Erklärungen von Normen
wollen herausfinden,
was eigentlich dahinter steckt.
Coser argumentiert funktionalistisch, d.h. er folgt der sozialwissenschaftlichen Auffassung von der Gesellschaft als Organismus, dessen einzelne Organe (bzw. soziale Institutionen) arbeitsteilig spezifische Funktionen für die Aufrechterhaltung des Organismus erfüllen und so aufeinander bezogen werden können. Funktionalistische Erklärungen bemühen sich herauszufinden, was „dahinter steckt“, also welche eigentliche Funktion bestimmte Handlungsmuster, Normen und kulturelle Praktiken abseits der behaupteten Absichten haben. Die soziologischen Lehrbuchbeispiele beschreiben dabei oft religiöse Riten, die man einerseits innerhalb des Glaubenssystems verstehen kann, deren Funktion für die Gesellschaft aber nur von der Sozialwissenschaft aufgedeckt werden kann: Wenn gläubige (=konforme) Hindus, heilige Kühe nicht töten, tragen sie – unabhängig davon, ob ihnen diese Funktion bekannt ist oder nicht – dazu bei, mit dem Kot der Tiere karge Böden zu düngen. (Heute wandelt sich diese ursprüngliche Funktion angesichts des Klimawandels und des Methanausstoßes von Rindern in eine Dysfunktion für den Bestand der Gesellschaft. Ihre Existenz wird u.a. auch durch das Befolgen dieses ursprünglich funktionalen Ritus gefährdet.)
Als selbsternannter „Häretiker in der Kirche des Funktionalismus“ [iii] geht Coser jedoch sehr kritisch mit den funktionalistischen Prämissen des Gleichgewichtszustandes im Organismus Gesellschaft um, was er auch in seinem Werk Functions of Social Conflict (auf Deutsch „Theorie sozialer Konflikte“)[iv] beweist. Dadurch sind Cosers Analysen originell, ungewöhnlich und für Nicht-Soziolog*innen wohl auch gewöhnungsbedürftig, weil sie Phänomene vergleichend nebeneinander stellen, die im Alltag als zu verschieden gelten, als dass sie eine vergleichende Perspektive rechtfertigen könnten.
So schreibt Coser der im Hinblick auf Sexualmoral gegensätzlichen Position der Promiskuität und des Zölibats, ebenso wie dem Eunuchentum im chinesischen oder byzantinischen Kaiserreich eine ähnliche soziale Funktion zu: „Sie stellen sicher, dass die totale Gefolgstreue einer Person und ihre affektiven Bindungen auf die Gruppe beschränkt und für deren Führer verfügbar bleiben.“[v]
Als der Zölibat funktional war.
In seinem 1967 im European Journal of Sociology erstmals erschienenen Essay „Greedy Organizations“, der dann als Kapitel „Die Funktionen des priesterlichen Zölibats“ in der deutschen Übersetzung 2015 bei Suhrkamp erschien, beschreibt Coser den Zölibat der Priester in dreierlei Hinsicht als funktional für die Kirche. (1) Als sie zunehmend Besitztümer anhäufte, musste ausgeschlossen werden, dass dieser Reichtum durch Vererbung an die Kinder der Priester verfallen würde. (2) Die Kirche als bürokratische Institution wiederum profitierte von der universellen Rekrutierbarkeit ihres Personals. Wäre das Priesteramt vererbbar, wären die einzelnen Priester stärker ihrer Verwandtschaft verpflichtet als der zentralen Autorität der Kirche. Dieser Mechanismus der Institutionalisierung von Herrschaftsbeziehungen wird auch von Max Weber in einem anderen Zusammenhang, nämlich der modernen Bürokratie als rationale Abkehr von der traditionalen Herrschaft beschrieben.[vi] Und (3) schließlich sollte die „Vergeudung“ der Energie der Kirchenmänner auf Frauen und eigene Familien verhindert werden, damit die Kirche exklusiven Anspruch auf deren Loyalität und Hingabe haben sollte.
Das Anwerben der Massen
gegen ungehorsame Funktionäre.
Die vehemente Durchsetzung des Zölibats im elften Jahrhundert fällt mit dem Angriff der Westkirche auf die weltliche Macht des Kaisers unter Papst Gregor VII. zusammen und das sei, so Coser unter Verwendung zahlreicher kirchenhistorischer Quellen, kein Zufall. Die Kirche des elften Jahrhunderts beanspruchte die Vormachtstellung des Papstes gegenüber dem weltlichen Herrscher und das Recht, den Kaiser abzusetzen. Papst Gregor VII. appellierte nicht nur an die Priester, sich an ihr Keuschheitsgelübde zu halten, sondern „warb auch Laien im Kampf gegen auf Abwege geratene Kleriker an. Indem er verfügte, dass Beichten bei unkeuschen Priestern wertlos waren, brachte er die Laien gegen die ungehorsamen Priester auf, denn die Laien dachten nun, dass ihr eigenes Seelenheil von ungehorsamen Priestern gefährdet werden konnte. Hildebrand [Gregor VII.] wich hierbei markant von der bisherigen päpstlichen Politik ab. Während frühere Päpste die priesterliche Elite zu disziplinieren trachteten, ohne die scharfen Statusunterschiede zwischen Priestern und Laien zu verletzen, benutzte Hildebrand bewusst Laien als Gehilfen in der Schlacht gegen ungehorsame Mitglieder der Priesterhierarchie. Wie Mao zu seiner Zeit, warb er die Massen gegen ungehorsame Funktionäre an.“[vii] Dieses Zitat zeigt abermals Cosers analytischen Blick, dem Parallelen in vermeintlich nicht vergleichbaren sozialen Phänomenen nicht verschlossen bleiben.
Erschreckende Kontinuität
einer kirchlichen Überwachungsstruktur.
Was hätte wohl Coser zu einem Gebetszettel aus dem gegenwärtigen Schriftenstand einer süddeutschen Großstadtgemeinde gesagt, der von einer Opus-Dei-Frauengruppe regelmäßig ausgelegt wird? „O Jesus, Hoherpriester, bewahre Deine Priester…, bewahre unbefleckt ihre gesalbten Hände, die täglich Deinen heiligen Leib berühren, bewahre rein die Lippen, die gerötet sind von Deinem kostbaren Blut, bewahre rein und unirdisch ihre Herzen…Herr schenke uns viele heilige Priester…“. Es sei angemerkt, dass die Enzyklika „Sacerdotalis caelebatus“ (Nr. 93) von Paul VI. ausdrücklich empfiehlt, dass „verantwortliche Laien“ die Priester überwachen, ob sie sich auch konform zum Pflichtzölibat verhalten.
Wenngleich Veröffentlichungen zum Synodalen Weg vermuten lassen, dass die Debatte über Reformen der katholischen Kirche institutionalisiert worden ist, zeigt das Beispiel, dass sozialer Wandel eben nicht ausschließt, dass erstaunliche Kontinuitäten von Normen und Praktiken über viele Jahrhunderte bestehen bleiben. Die Notwendigkeit zum Wandel von Institutionen ergibt sich aus funktionalistischer Perspektive, wenn sie nicht mehr funktional für den Erhalt der Organisation sind.
Die verlorene Funktionalität des Zölibates
macht ihn in der Moderne obsolet.
Drei Gründe, die für eine Funktionalität des Zölibats für die Institution Kirche sprachen, sind heute obsolet: (1) Die weltliche Macht, sei sie nun in Nationalstaaten oder supranationalen Staatenbünden organisiert, lässt sich im 21. Jahrhundert nicht von der (bestenfalls moralischen) Autorität der katholischen Kirche ihre Vormachtstellung streitig machen. Vielmehr hat (2) die Kirche selbst durch die zahlreichen Missbrauchsfälle und die für viele Gläubige und Beobachter*innen nicht nachvollziehbare zögerliche Aufarbeitung der Sexualdelikte ihres Personals stark an Glaubwürdigkeit und somit moralischer Autorität eingebüßt. Galt die Ehelosigkeit des Klerus Gregor VII. als Ausweis seiner Keuschheit und moralischen Überlegenheit, wendet sich diese Strategie nun klar in eine Dysfunktion für die moralische Autorität: wenn offensichtlich ist, dass katholische Kleriker womöglich gerade wegen der Ehelosigkeit eine selbstselektierte Gruppe von Vertretern toxischer Männlichkeit rekrutieren, die Sexualität (nur?) als Missbrauch ausleben, wenden sich viele Gläubige von der Kirche ab, weil sie deren seelsorgerliche Kompetenz für die alltägliche Lebensgestaltung in Frage stellen und deshalb auch keine Orientierungshilfen mehr für letzte Sinnfragen um Liebe, Leid, Tod und Erlösung von ihr erwarten. Die katholische Kirche ist (3) schon seit Jahren mit einem Fachkräftemangel konfrontiert, der es ihr zunehmend schwer macht, ihre Schlüsselkräfte (die Priester) zu rekrutieren. Dies hat damit zu tun, dass sie als gierige Institution, die den Verzicht auf Ehe und Familie fordert, ein unattraktiverer Arbeitgeber ist. Und schließlich (4) lässt sich feststellen, dass unser gegenwärtiger Wohlfahrtsstaat Eltern mit Transferleistungen, Kinderbetreuungseinrichtungen und Stipendien unterstützt, und somit den Aufwand für das Aufwachsen und Fortkommen des Nachwuchses – anders als im Mittelalter – sozialisiert hat, was letztlich auch für Priester als Väter gelten würde. Die Notwendigkeit, kirchliche Besitztümer vor dem Verbrauch durch die Nachkommen von Klerikern zu schützen, ist somit nicht gegeben.
Erhalt längst dysfunktionaler Mechanismen.
Die katholische Kirche wäre ohne Zölibat über weite Strecken ein Arbeitgeber wie jeder andere. Das aber mag es genau sein, was Gegner*innen einer Aufhebung des Zölibats fürchten, denn wie Coser 1967 so treffend schloss: „Nur wenige Organisationen werden ohne großen Kampf auf jene sozialen Mechanismen und Ordnungen verzichten, denen sie historisch so viel von ihrer Stärke schulden.“[viii] Auch wenn diese sozialen Mechanismen, wie wir zu zeigen versuchten, mittlerweile dysfunktional auf die Existenz der Organisation wirken.
Wie könnte nun die katholische Kirche den Weg zur Obsoleszenz verlassen?
Coser betont wiederholt, dass dyadisch-partnerschaftliche Beziehungen ein besonders wirksames Heilmittel gegen gierige Institutionen sind: „Die strukturelle Analyse einer Reihe »gieriger« Institutionen zeigt, dass sie stabile sexuelle Bindungen als Bedrohung für die totale Hingabe und Gefolgschaft auffassen, die sie von allen oder einigen ihrer Mitglieder verlangen.“[ix] Er vertritt damit sowohl „eine anti-kollektivistische und zugleich eine anti-individualistische soziale Ontologie“[x].
Partnerschaftliche Beziehungen zur Stärkung
der Widerstandskraft gegenüber der Vereinnahmung
durch eine gierige Institution.
Nur in der Partnerschaft mit einem/r selbstbestimmten Partner*in verfügt der Mensch über einen größeren Umfang an Perspektiven auf die Welt und damit über einen unschätzbaren Vorteil für die Erkenntnis. Eine partnerschaftliche Beziehung, die per definitionem rationalen Nutzenkalkulationen entsagt, ermöglicht dem Individuum voller Vertrauen unvoreingenommen diese neuen Perspektiven einzunehmen. Die partnerschaftliche Dyade erhöht zudem die Widerstandskraft gegenüber der Vereinnahmung durch eine gierige Institution.
Diesen Zusammenhang illustriert Coser auch am Beispiel der sogenannten Komplexen Ehe (der Norm der Promiskuität) in der sozial-utopischen religiösen Kommune der Oneida im Nordamerika des 19. Jahrhunderts. „In einigen Gemeinschaften wurden diese anti-dyadischen Vorschriften mit esoterischen Interpretationen von Bibelstellen gerechtfertigt. (Es ist amüsant, – nebenbei zu bemerken, dass identische Bibelstellen manchmal dazu benutzt wurden, um gegenteilige sexuelle Praktiken zu rechtfertigen. So wurde „Denn in der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie Engel im Himmel.“ [Matthäus 22,30] von den Shakern als Beleg für den Zölibat zitiert und bei Noyes [dem Begründer der Oneida Community] in Verteidigung der Komplexen Ehe.)“[xi]
Weitere Merkmale der Gierigkeit.
Die Abschaffung des Pflichtzölibats dürfte Coser zufolge der Schlüssel zum Wandel der katholischen Kirche von einer gierigen von patriarchalen Machtstrukturen geprägten Institution hin zu einer demokratischen Organisations- und Lebensform sein.
Insider mögen in der katholischen Kirche Belege für weitere Merkmale ihrer Gierigkeit erkennen, etwa das Versprechen spiritueller Einsichten, die Geborgenheit im Kollektiv, oder der exklusive Zugang zur Macht als Lohn für die Auslieferung des Individuums an die gierige Institution. Der/die Leser*in kann sich von unserer strukturell-funktionalen Analyse inspirieren lassen, um das Bild zu ergänzen. Einen Vorgeschmack auf aktuelle Beispiele gieriger Institutionen (etwa das gierige Kollektiv der Hacker-Community und die Rolle der Social Media) bietet das Nachwort im o.e. Suhrkamp Bändchen.[xii]
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Marianne Egger de Campo ist Professorin für Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Davor war sie an der Hochschule für Soziale Arbeit, Wirtschaft und Technik in Weingarten tätig, wo sie 2007 die Professur für Soziologie von Hans Walz übernahm.
Bild: © European Space Agency, NASA and Felix Mirabel (the French Atomic Energy Commission & the Institute for Astronomy and Space Physics/Conicet of Argentina)
Porträtfoto Egger de Campo: K. Breustedt.
[i] Coser, Lewis A.; Egger de Campo, Marianne 2015. Gierige Institutionen: soziologische Studien über totales Engagement. Dt. Erstausg. Berlin: Suhrkamp.
[ii] 2015, S. 17
[iii] Coser 1988, S. xvii
[iv] Coser 1972
[v] Coser, Egger de Campo 2015, S. 41
[vi] Weber 1980; 1. Aufl. 1921-1922) Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: J.C.B. Mohr, Siebeck.
[vii] Coser, Egger de Campo 2015, S. 158
[viii] Ebd., S. 165
[ix] Ebd., S. 141
[x] Fleck 2017, Besser als Zeitdiagnosen ist die vergleichende Methode, in Soziologische Revue 40, 4, S. 487
[xi] Coser, Egger de Campo 2015, S. 145
[xii] Ebd., S. 166 ff