Tania Oldenhage erinnert an das vor 20 Jahren erschienene Gleichnisbuch der feministischen Bibelwissenschaftlerin Luise Schottroff und denkt über dessen Bedeutung für das Predigen über Gleichnisse nach.
Vor genau 20 Jahren kam Luise Schottroffs bahnbrechendes Buch Die Gleichnisse Jesu[1] heraus. Ich war aufgeregt. Damals arbeitete ich im Tagungs- und Studienzentrum Boldern, hatte zur Gleichnisforschung promoviert und rechnete damit, dass dieses Buch in der theologischen Landschaft, in der ich mich bewegte, Wellen schlagen würde. Und so war es auch. In den darauffolgenden Jahren leitete ich etliche Veranstaltungen, die Schottroffs Zugang zu den Gleichnissen ins Zentrum stellten. Im Frühling 2007 lud ich Luise Schottroff zu einer Tagung auf Boldern ein. Im voll besetzten Tagungssaal knisterte es vor Spannung.
Männliche Protagonisten – keine Bilder für Gott
Schottroff stellte Lesekonventionen auf den Kopf. Wir sind es gewohnt, sagte sie, die männlichen Hauptfiguren der Gleichnisse automatisch mit Gott gleichzusetzen. Wir lesen von einem Weinbergbesitzer und gehen davon aus, dass der Weinbergbesitzer für Gott steht. Wir hören die Geschichte von einem Vater mit zwei Söhnen und versuchen unwillkürlich in der Figur des Vaters etwas über Gott zu lernen. Das müssen wir uns abgewöhnen. Schottroff zufolge sind die männlichen Protagonisten der Gleichnisse Jesu – sei es ein Weinbergbesitzer oder ein Vater, ein König oder ein Hausherr – keine Bilder für Gott.
Luise Schottroff war nicht die erste, die gegen die Identifikation von Gott und den Hauptfiguren der Gleichnisse protestierte. Eine Kritik dieser allegorisierenden Lesart steht am Anfang der modernen Gleichnisauslegung. Was Schottroff von ihren Vorgänger:innen unterschied, war ein bestimmter sozialgeschichtlicher Blick auf die erzählte Welt der Gleichnisse. Schottroff entlarvte die männlichen Hauptfiguren als problematische, ja sogar zwielichtige Figuren. Ein Weinbergbesitzer, der ausgebeuteten Taglöhnern denselben Lohn gibt, soll gütig sein? Ein beleidigter Gastgeber, der ausgegrenzte Menschen nötigt, zu seinem Fest zu erscheinen, soll als ein Beispiel für Gottes Barmherzigkeit herhalten? Ein reicher Mann wirft seinen Sklaven in die Finsternis, wo Heulen und Zähneklappern ist? Und wir sollen darin ein Bild für Gottes Handeln sehen?
Nicht mehr zurechtbiegen, um fromme Botschaften zu generieren
Schottroffs Auseinandersetzungen mit den Gleichnissen führte auf Boldern zu zahllosen Seufzern der Erleichterung. Endlich war es möglich, die unguten Gefühle zu benennen, die die männlichen Autoritätsfiguren der Gleichnisse auslösen können. Ihr oft manipulatives und manchmal auch grausames Verhalten musste nicht mehr zurechtgebogen werden, um fromme Botschaften über das Gottesreich zu generieren. Stattdessen wurden die Gleichnisse lesbar als eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse und menschlicher Katastrophen im ersten Jahrhundert.
«Der Sprung ins Freie», so hatten Ina Praetorius und ich unsere Tagung auf Boldern genannt. Der Sprung, der uns vorschwebte, war nicht zuletzt auch ein Sprung aus patriarchalen Gottesbildern. Neben der aufgeregten Aufbruchstimmung erinnere ich mich allerdings an etwas zweites, nämlich an ein vages Gefühl der Ungewissheit, wohin genau wir springen würden. Wo würden wir landen?
Versuche, das Verstörende in Worte zu fassen
Ich sprang wenige Jahre später ins Pfarramt. Dort stiess ich auf Schwierigkeiten, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich wusste nicht, wie ich das, was ich in der Bildungsarbeit jahrelang vermittelt hatte, auf der Kanzel umsetzen sollte. Dies wurde zu einem echten Problem, denn Schottroffs Auslegungen waren mir unter die Haut gegangen. War ihr Buch für mich anfangs nur eine Möglichkeit unter vielen, Gleichnisse zu lesen, hatte sich mein Eindruck von etwas Unheimlichem in den Gleichnissen mit der Zeit verfestigt: die bedrückende Szene einer Lohnauszahlung; die verstörende Stimmung an einem Gastmahl. Zu Schottroffs Buch hatten sich weitere Publikationen gesellt, die die Gleichnisse als Gewaltgeschichten kritisch diskutierten. In den USA hatten Forscherinnen wie Jennifer Glancy oder Mitzi J. Smith Sklavengleichnisse untersucht und waren zum Schluss gekommen, dass diese unheilvollen Texte radikal dekonstruiert werden müssen. Doch wie darüber predigen? Im Kontext einer Kirchgemeinde?[2]
Eine meiner ersten Predigten drehte sich um das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Von Luise Schottroff geschult, versuchte ich das Verstörende der Erzählung in Worte zu fassen und verlor mich dann in Negativ-Aussagen: «Gott ist anders….» «Gott ist anderes als ein Weinbergbesitzer, der Taglöhnern gerade so viel auszahlt, damit sie am nächsten Tag wieder kommen müssen….» Bis heute spüre ich die Irritation, die sich wie ein Mantel über die Gemeinde legte. Zu stark war die Erwartung, dass in den Gleichnissen Jesu irgendeine Art von «Frohbotschaft» stecken müsste. Gemeindemitglieder waren in der Regel offen für meine Versuche, biblische Geschichten gegen den Strich zu lesen, doch sie erwarteten zu Recht, dass sich eine solche Geschichte trotzdem als richtungsweisend oder zumindest als hilfreich erwies. Mit einem schalen Gefühl verliess ich die Kirche. Es war die erste von vielen Gelegenheiten, bei denen ich das Gefühl hatte, als Predigerin an Schottroffs Gleichnistheorie zu scheitern.
Was wir brauchen, sind Geschichten, die Mut machen
Oft habe ich mich gefragt, was Luise Schottroff mir raten würde. Spüre der Ungerechtigkeit in deinem eigenen Kontext nach und benenne sie, höre ich ihre Stimme. Es ist an euch, mit Hilfe der Tora zu erkennen, wie Gottes Welt aussieht im Gegensatz zu dem, was uns in den Gleichnissen erzählt wird. Doch geht das in einer Predigt? Auf Boldern waren wir auf Augenhöhe zusammengesessen und hatten diskutiert. Wir hatten um jedes einzelne Gleichnis gerungen. Hatten zusammen mit Hilfe des Gleichnisses unseren eigenen Kontext beleuchtet.
Als Pfarrerin stand ich allein am Rednerpult. Vor mir in den Kirchenbänken sassen ehemalige Sozialarbeiter und Juristinnen, Flüchtlingshelferinnen und Aktivisten. Eine Familie, der gerade die Wohnung gekündigt worden war. Meine Zuhörer:innen wissen in der Regel selbst ganz genau, was in unserer Welt im Argen liegt. Sie brauchen keine Pfarrerin, die mit Hilfe von antiken Gleichnissen die manipulativen Arbeitgeber und gewissenlosen Grossgrundbesitzer unserer Zeit an den Pranger stellt. Was wir brauchen, sind Geschichten, die Mut machen oder zumindest neue Sichtweisen ermöglichen.
Vor einigen Jahren stiess ich auf ein Essay des Migrationstheologen Jean-Pierre Ruiz, der das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit der Situation illegaler Migrant:innen in New York verknüpfte: Ähnlich wie die Taglöhner im Gleichnis warten diese Menschen Tag für Tag am Northern Boulevard und hoffen darauf, dass sie jemand einstellt, ohne zu wissen, wie viel Lohn sie bekommen, ob ihnen überhaupt etwas gezahlt wird und wie der morgige Tag aussehen wird. Wo ist Gott, fragt Ruiz weiter. Wenn Gott nicht im Weinbergbesitzer zu finden ist, wo dann? Seine Antwort: In den Gesichtern illegaler Migrant:innen unserer Zeit erkennen wir Christus.[3]
Marginalisierten und Verletzten theologisches Gewicht geben
Diese christologische Wendung war für mich eine Ermutigung, als Predigerin an den Gleichnissen festzuhalten. Seither übe ich mich darin, in den Gleichnissen nach den Figuren zu suchen, die wie die Arbeiter im Weinberg marginalisiert und verletzt worden sind, um ihnen im Kontext unserer Zeit theologisches Gewicht zu geben: Ausgebeutete Taglöhner. Ein Sklave, der in die Finsternis gestossen wurde. Fünf junge Frauen, die vor verschlossener Tür stehen.[4] Unter dem Ballast der Auslegungstradition treten sie hervor und stellen mich vor neue Fragen.
[1]Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005 (2. Auflage 2007).
[2]Siehe dazu M. Crüsemann, C. Janssen, U. Metternich (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen. Gütersloh 2014.
[3]Ruiz, Jean-Pierre: Readings from the Edges: The Bible & People on the Move. Maryknoll, New York, Orbis Books 2011, S. 115-122. Vgl. auch Séverine Vitali, Die Subalternen im Weinberg, in: P. Bühler, V. Mühlethaler, J. Schädelin (Hg.), Migration in der Bibel und heute, Zürich 2024, S. 131-162.
[4]Vgl. Tania Oldenhage, «Zehn Junge Frauen». Radiopredigt vom 24. März 2024, Schweizer Radio und Fernsehen SRF.
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PD Dr. Tania Oldenhage ist Pfarrerin der Reformierten Kirche Zürich und Privatdozentin für Neues Testament und seine Wirkungsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.
Beitragsbild: Günter Havlena auf pixelio.de