Oft hört man, dass Frauen einfach „frömmer“ oder religiöser wären als Männer. Armin Kummer über Männlichkeitscodes und die offene Suche nach Spiritualität.
Ist Spiritualität etwas grundsätzlich Feminines? Der gendersensible Blick in die lichten Reihen des sonntäglichen Gottesdienstes oder auf die Laienbeteiligung in der Kirchengemeinde scheint dies zu bestätigen. Auch in Medien und Werbung wird das Thema Spiritualität – vom Ayurveda Wochenende zur Achtsamkeitsmeditation – überwiegend anhand weiblicher Körper verbildlicht. Wie halten es dagegen die Männer mit der Spiritualität? Ich möchte einige Erkenntnisse der Männer- und Männlichkeitspsychologie nutzen, um genauer zu beleuchten, wie sich sozial konstruierte Ideen von Männlichkeit zum geistlichen (Er-)Leben verhalten.
Männlichkeitscodes und die Konstruktion von Gender
Die meisten Soziologen und Gesellschaftstheoretiker verstehen Gender als etwas, das nicht als Persönlichkeitsmerkmal im Individuum verankert ist, sondern erst in der sozialen Interaktion konstruiert wird. In der Soziologie gilt Gender als eine Struktur oder Institution, die soziales Handeln ordnet, also regelt, was Menschen im täglichen Zusammenleben tun und vor allem einander an-tun.
„Wenn du ein echter Mann sein willst, musst du jetzt dies tun“
Die Konstruktion von Gender – und damit die Konstruktion von Männlichkeit – wird in konkreten sozialen Situationen gelenkt durch etwas, was ich gerne als Gender- bzw. Männlichkeitscodes bezeichne. Vielleicht kann man sich einen Männlichkeitscode am besten als eine Stimme im Kopf vorstellen, die dem Mann zuflüstert: „Wenn du ein echter Mann sein willst, musst du jetzt dies tun“ – zum Beispiel zupacken, fluchen oder weiterkämpfen. Oder sie flüstert „Wenn du ein richtiger Mann sein willst, darfst du auf keinen Fall jenes tun“ – zum Beispiel weinen, erröten oder lächeln. In den Medien können wir diese Codes buchstäblich als Stimmen wahrnehmen. Filme und Talkshows, Sportereignisse und Popkonzerte, Kinderbücher und Videospiele – sie alle verbreiten ihre ideologischen Botschaften darüber, was man denn zu tun oder lassen hat, um als „echter Mann“ zu gelten. Auf der individuellen Ebene haben wir Verhaltensmuster verinnerlicht, die wir bei unseren Eltern und Geschwistern, in der Schule und im Beruf, in Sportvereinen und beim Discobesuch beobachtet haben. Diese subtileren Stimmen nehmen wir vielleicht nicht immer bewusst wahr, aber sie wirken leise im Hintergrund und prägen unser Verhalten in konkreten Situationen. Nicht Männer an sich, sondern diese Männlichkeitscodes sind also Gegenstand meiner kritischen Betrachtung.
Versuch der Kontaktaufnahme und -pflege mit dem Göttlichen
Der Begriff Spiritualität wird heute sehr breit verwendet. Im Interesse der allgemeinen Anschlussfähigkeit versucht man dabei auch gerne auf einen Gottesbezug zu verzichten. So geht es beispielsweise für die amerikanische Theologin Sandra Schneiders bei der Spiritualität um ein bewusstes und aktives Streben nach Lebensintegration durch Selbst-Transzendenz im Horizont eines „letztgültigen Wertes“. An dieser bewusst nicht-theistischen Definition kann man kritisieren, dass für einige Menschen auch Geld, Macht oder Nation „letztgültige Werte“ darstellen“ können. Damit würden auch Geldgier, Machtbesessenheit oder Nationalismus als Spielarten von Spiritualität gelten. Für Schneiders steht jedoch fest, dass bei der christlichen Spiritualität der sich in Christus offenbarende drei-einige Gott dieser letztgültige Bezugspunkt ist. Innerhalb eines solchen theistischen Spiritualitätsverständnisses kann man dann leicht das Gebet, in seiner weitesten Bedeutung als Versuch der Kontaktaufnahme und -pflege mit dem Göttlichen, verorten. Auf der Ebene solch konkreter spiritueller Vollzüge kann man nun untersuchen, wie sie sich zu verbreiteten Männlichkeitscodes verhalten.
Männlichkeitscodes und ihr Verhältnis zur Spiritualität
Die nordamerikanischen Männerpsychologen James Mahalik, Glenn Good, und Matt Englar-Carlson haben verbreitete Männlichkeitscodes in sieben „Männlichkeitsskripte“ – also Drehbücher oder Partituren für die Inszenierung von Männlichkeit – gebündelt. Diese sieben Skripte tragen die Titel „Stark und Still“, „Harter Kerl“, „Gewinner“, „Mach ihnen die Hölle heiß“, „Unabhängigkeit“, „Playboy“, und „Homophobie“.
Stark und still
„Stark und Still“ bezieht sich auf die strenge Kontrolle der eigenen Gefühle. Das Verbot, darüber zu reden, was im eigenen Inneren eigentlich vorgeht, ist einer der hartnäckigsten und am weitesten verbreiteten Männlichkeitscodes. „Echten Männern“ wird bestenfalls eine sehr begrenzte Palette „legitimer“ Emotionen zugestanden, nämlich Wut, die oft in plötzlichen Ausbrüchen erlebt wird, und Lust, die meist nur oberflächlich im Zusammenhang mit sexueller Aktivität erlebt wird. Die resultierende Zurückhaltung und mangelnde Übung darin, andere Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen oder zum Ausdruck zu bringen wird Männern oft als ein Mangel an emotionaler Intelligenz vorgehalten. Spirituelle Vollzüge setzen aber meist ein gewisses Maß an Innerlichkeit voraus. Wenn Männer also spüren, dass sie sich in einer bestimmten Situation gezwungen sehen könnten, über ihre Gefühle, Träume oder ihr Innenleben zu sprechen, neigen sie dazu, solche Situationen meiden. Es erstaunt also nicht, dass Männer, die diesem Skript folgen, wenig Affinität zu spirituellen Vollzügen zeigen.
Harte Kerle
Das Skript des harten Kerls beruht auf der Stigmatisierung von Schwäche und ermutigt Männer zur Maskierung und Verleugnung ihrer Verletzlichkeit. Das Ideal des harten Kerls beinhaltet Risikobereitschaft, Waghalsigkeit und Aggressivität, die sich oft in extremen – und gefährlichen – Verhaltensweisen äußern. Verwurzelt in den Anforderungen schwerer industrieller Arbeit und militärischer Verwendung, zelebriert der Härtecode die Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen und körperlicher Grenzen. Männer werden angehalten, ihren Körper zu ignorieren. Die deutschen Männerpsychologen Wolfgang Neumann und Björn Süfke sprechen von der resultierenden „Körperferne“. Dabei ist der Körper der Teil der menschlichen Person, der die Sinneswahrnehmung und damit eine ganzheitliche Präsenz in der Welt ermöglicht. Körperferne macht es schwierig, einen achtsamen Zustand zu erreichen, der aber Voraussetzung für spirituelle Vollzüge wie Meditation und Gebet ist.
Gewinner brauchen keine Gnade?
Das Gewinner-Skript verlangt von Männern, im unermüdlichen Wettbewerb mit anderen nach individuellem Erfolg zu streben und stigmatisiert den „Verlierer“. Selbstwert und Identität werden an Leistung und materielle Errungenschaften gebunden. Das Gewinner-Skript legitimiert das Streben nach Dominanz und Kontrolle, Männlichkeitscode, die in hierarchischen Unternehmens- und Militärorganisationen eine zentrale Rolle spielen. Wer ein „echter Mann“ sein will, bringt andere dazu, zu tun, was man verlangt. Im Lichte christlicher Spiritualität steht eine solche Haltung offensichtlich im Widerspruch zur Tugend der Demut. Dieses Skript macht es auch schwierig, „Gnade“ zu erfahren, also etwas empfangen zu können, was man nicht in einem Wettkampf selbst erringen musste.
Martialisch-heroische Männlichkeitscodes
Auch „Mach Ihnen die Hölle heiß“ beruht auf der Stigmatisierung von Schwäche und der Angst vorm Verlieren. Es legitimiert Gewalt und findets sich in zahlreichen martialisch-heroischen Männlichkeitscodes verwurzelt. Sportarten wie Boxen und Ringen zelebrieren Gewalt unter Männern. Wo solche Codes eine Rolle in der Sozialisierung spielen, werden Männer und Jungen ermutigt, Gewalt zumindest als eine akzeptable Form von Problemlösung zu betrachten. Eine solche gewalttätige Orientierung verträgt sich nicht mit dem Eingeständnis von Schwäche und Verletzlichkeit, was oft zur Erfahrung christlichen Betens gehört.
Zwanghafte Ungebundenheit macht Selbsttranszendenz zum Anderen unmöglich
Das Skript der Unabhängigkeit bezieht sich auf Ungebundenheit, Autonomie und Selbstgenügsamkeit. Jegliche Form von Abhängigkeit wird stigmatisiert. Die Betonung der Selbstgenügsamkeit, die im Widerspruch zu einer beziehungsorientierten Anthropologie steht, ist ein weiterer Stolperstein für das geistliche Leben von Männern. Wer es als unvereinbar mit seiner Männlichkeit ansieht, nach dem Weg zu fragen, wird kaum bereit sein, sich auf Formen des hörenden Betens oder Meditierens und damit wiederum auf eine empfängliche Haltung vor Gott einzulassen. Zwanghafte Selbstgenügsamkeit erhält außerdem eine Form der Egozentrik aufrecht, die Selbsttranszendenz unmöglich macht.
Playboy-Skript und Homophobie
Das Playboy-Skript legitimiert beziehungslosen Sex und die Erniedrigung von Frauen zu Sexobjekten. Es ermutigt Männer, Sex in erster Linie als Lust und ohne zwischenmenschliche Intimität oder emotionale Bindung zu erleben. Das homophobe Skript verordnet schließlich die Vermeidung von allem, was mit Weiblichkeit oder Homosexualität assoziiert werden könnte. So wie das Playboy-Skript die Verbundenheit mit Frauen untergräbt, stigmatisiert das homophobe Skript intime Nähe unter Männern. Wenn man Beziehungsfähigkeit und menschliche Nähe auch im Bereich der Spiritualität verortet, wir deutlich, wie auch diese lebensfeindlichen Männlichkeitscodes Männern den Zugang zu einer ganzheitlichen Spiritualität versperren.
Männlichkeitscodes öffnen, um spirituell zu leben
Was diese kurze Diskussion zeigt, ist, dass wir bei der Frage nach dem Verhältnis von Männern zur Spiritualität nicht nach naturgegebenen Männereigenarten suchen müssen, sondern die Antwort in lebensbegrenzenden Männlichkeitscodes finden, die im Kontext unserer modernen, industriekapitalistischen Gesellschaften weite Verbreitung gefunden haben. Dies heißt auch, dass man christliche Spiritualität nun nicht einfach männerkompatibel neuerfinden muss. In meiner Erfahrung ist es eine bessere Idee, mit Männern jene Männlichkeitscodes kritisch unter die Lupe zu nehmen, die ihrem spirituellen Erleben im Weg stehen.
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Text: Armin Kummer forscht und lehrt als Theologe an der KU Leuven (Belgien). Er ist Autor des Buches Men, Spirituality and gender-specific Biblical Hermeneutics (Peeters 2019) und einer Reihe von Studien zu Spiritualität und Männerseelsorge. (https://theo.kuleuven.be/en/research/researchers/00112609.)
Bild: Schäferle auf Pixabay