Gott im Osten? Ostdeutschland ist ein theologisches Zukunftslabor. Christinnen und Christen leben dort als Minderheit in einer nicht nur multireligiösen, sondern auch multisäkularen Gegenwart. feinschwarz.net fragt in einer dreiteiligen Reihe nach, wie dieser gesellschaftliche Kontext die Theologie verändert. Heute berichtet Karlheinz Ruhstorfer aus Dresden.
Impressionen aus einem zerrissenem Land
Arztbesuch. Gespräch über Beruf. Theologie. Ich betone, dass es nicht ganz einfach sei, sich an die Minderheitensituation der Christen zu gewöhnen. Der Arzt dagegen macht darauf aufmerksam – mit allem schuldigen Respekt –, dass in den westdeutschen Volkskirchen viel Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit zu finden sei, während die ostdeutschen Glaubenden doch einen aufrichtigeren und tieferen Glauben lebten.
Begegnung mit einer Akademikerin. Ohne Religion aufgewachsen. Nach eigenem Bekunden kein Interesse an irgend einer Art von religiösem Glauben, zieht sich mehrmals im Jahr für mehrere Wochen zurück, um Vipassana-Meditation zu üben.
Festakt mit hohem Geistlichen. Katholische Studentenverbindung. Der Islam habe wirklich ein defizitäres Menschenbild. Unvereinbar mit Sachsen. Der Papst? Inkonsistent, irrlichternd. Auch in seinen Äußerungen über Flüchtlinge. Deutsche Nationalhymne. Vaterunser. Im Übrigen könne und dürfe der Papst nicht gegen den römischen Apparat regieren.
Gottesdienstbesuch. Neben mir offenkundig ein Südländer. Ein Asylsuchender? Schweigend, singt nicht, zeigt mir im Gotteslob die Nummern schneller als ich sie auf der Anzeige lesen kann. In der Vorhalle Plakatwände mit den zahlreichen Aktivitäten der Gemeinde in Sachen Flüchtlinge. Intensive Diskussionen über das Verhältnis zu den Asylsuchenden an den Gemeindeabenden?
Meine Vorlesung. Wenige Studierende der katholischen Theologie (Lehramt). Viele Senioren – evangelisch und katholisch. Kritisch, auch kirchenkritisch. Freude über Theologie an der TU, früher vollkommen undenkbar! Neue Freiheiten. Viele junge Hörerinnen und Hörer anderer Disziplinen: Getaufte, Nichtgetaufte, Philosophinnen und Maschinenbauer, Kunsthistoriker und Soziologen. Vorsichtige Annäherung an ein sensibles Thema. Katholische Kirche? Schwer zumutbar.
Ein Hauch von Weimar
Eine Diskussionsveranstaltung zu Pegida. Plötzlich „Staatstheologe“, streite für unsere Demokratie, Pluralität, Offenheit. Verschwörungstheorien. Putin hilf! Hochgebildete und sogar weitgereiste Ignoranz. Blankes Unwissen. Pure Aufregung. Der freiheitliche Boden bebt. Ein Hauch von Weimar. Atheisten sorgen sich um das christliche Abendland. Auch Gläubige marschieren mit.
Ein Vortrag vor Ministerpräsident: Würde des Menschen. Katholisches Selbstverständnis. Doch der Islam gehört nicht zu Sachsen. Dann brennende Asylbewerberunterkünfte. Langes Schweigen des Landesvaters. Langsames Erwachen.
Theaterplatz, Dresden. Die Semperoper setzt Zeichen – ein Bildschirm mit wechselnden Zitaten über die Würde des Menschen und eine Kultur der Offenheit über dem Haupteingang. Die Gemäldegalerie „Alte Meister“ setzt ein Zeichen – eine transparente Selbstbezeichnung gut lesbar: „Ein Haus voller Ausländer!“ Die katholische Hofkirche setzt kein Zeichen – auch ein Zeichen.
Eine Fahrt übers Land, fern der boomenden Großstadt. Industrieruinen. Viele zerbrochene Fensterscheiben. Frisch renovierte Häuser. Auch teure Autos. Wahlplakate der NPD. Gartenzwerge. Eine Pizzeria an der Kreuzung. Wenig Junge – auch im Erzgebirge, wo der Glaube noch fröhliche Urstände feiert, erzprotestantisch, versteht „sisch“. Meist einsame Kirchen. Der Sachse Nietzsche: Was sind Kirchen anderes, wenn nicht Grüfte und Grabmäler Gottes?
Die reaktionäre Religion und der Kampf um die Mitte
Ist Ostdeutschland ein theologisches Zukunftslabor? Ich weiß es nicht. Sicher ist, dass Atheismus und Kirchenferne viel verbreiteter sind als im Westen und dass auch dort Kirchenglaube und Kirchenzugehörigkeit ordentlich schrumpfen. Dennoch bezweifle ich, dass die Entwicklung im Osten der im Westen einfach voraus ist. Denn die Gründe für den Atheismus sind in beiden Landesteilen doch sehr unterschiedlich. Die flächendeckende Entchristlichung in den neuen Bundesländern geht im Wesentlichen zurück auf die sozialistische Diktatur. Religion wurde zurückgedrängt in die Privatsphäre. In öffentlicher Kultur, Politik und Wissenschaft herrschte die klassisch moderne Ideologie des Kommunismus. Diese Moderne ist bereits Geschichte geworden. Der real existierende Sozialismus ist 1989 untergegangen. Doch schon 1953 verloren laut Michel Foucault die jungen Intellektuellen in Paris den Glauben an den orthodoxen Kommunismus. Vielleicht war dies die Geburtsstunde der sogenannten Postmoderne. Die Postmoderne prägte die Wertschätzung der Pluralität, der Heterogenität, der inkommensurablen Alterität. Nach und nach vollzog sich eine innere Transformation der westlichen Gesellschaften. Sie wurden bunter, offener, disparater. Doch genau diese Entwicklung hat der Osten Europas nicht mitgemacht. Bis 1989 herrschte hier ein ideologisches Identitätsdenken vor.
Die aktuelle Krise der Kirchen des Westens, die natürlich auch ihre moderne Konfliktgeschichte etwa im Nationalsozialismus durchlebten, beruht nicht mehr so sehr auf dem Gegensatz zwischen der Weltlichkeit der Welt (Materialismus) und der Geistigkeit Gottes (Idealismus), sondern auf dem postmodernen Gegensatz von offener Gesellschaft und geschlossener Kirche oder grob gesprochen zwischen Identität und Differenz. Kaum einer verliert den Glauben, weil er durch die Einsichten der Naturwissenschaften oder die Philosophie Nietzsches zur Einsicht gelangt, dass es Gott nicht gibt. Vielmehr verlassen viele die Kirche, weil sie nicht mehr das offene Lebensgefühl der Menschen widerspiegelt, um hier nur an die bekannten „heißen Eisen“ der Sexualmoral zu erinnern.
Nun muss man das aktuelle Lebensgefühl der Menschen nicht unkritisch sehen. Und in vielem bedarf gerade die fragmentierte Globalität des 21. Jahrhunderts einer neuen und neuartigen Besinnung auf eine ganzheitliche Weisheit, allerdings ohne Rückfall in die autoritären Muster der Vergangenheit. Doch treffen gerade die großen Kirchen des Westens selten den richtigen Ton zwischen unaufgeregterer Offenheit und kluger Entschiedenheit. Allzu oft erscheinen die Stimmen der Kirchen entweder als bloße Wiederholungen der säkularen Wertesysteme (die protestantische Gefahr) oder als befremdliche Rufe aus einer längst vergangenen Zeit (die katholische Gefahr). Hier aber tut sich ein Dilemma auf. Einerseits wird von den Kirchen eine radikale Heutigkeit gefordert, damit sie die Menschen unserer Zeit wieder erreichen. Andererseits stehen die Kirchen vor der Forderung, ihre zentralen Lehren nicht zu verwässern oder anders ausgedrückt, ihre Corporate Identity zu schärfen, denn nur eine klar konturierte Marke scheint auf dem Religionsmarkt bestehen zu können.
Reaktionäre Dynamik
In den Jahrzehnten seit dem Fall der Berliner Mauer zeigte sich eine reaktionäre Dynamik. In einigen Ländern wie in Russland, in der Ukraine, aber auch in Polen entwickelten sich neue starke, konservative Formen des Christentums, die sich wieder mit nationalistischen Strömungen in der Politik verbanden. Diese traditionalistischen Gestalten des Glaubens wurden zu ideologischen Stützen der neuen Machthaber. Tiefer gefasst könnte man behaupten, dass die Postmoderne in ihrem größten Sieg über die moderne Ideologie zugleich ihren eigenen Zenit überschritten zu haben scheint. So ist in der neuen, postsäkularen Zeit der Gegner der religiösen Reaktion nicht mehr die Moderne (Kommunismus, Faschismus, Diktatur der Biomacht, des kapitalistischen Medienkomplexes), sondern die offene und säkulare Gesellschaften des Westens als solche – was Ted Cruz, Vladimir Putin und den IS verbindet. Dabei wird die postmoderne Wertschätzung von Differenz, Alterität, Singularität nicht mehr geteilt. Insofern diese aber zu einem wesentlichen und unverzichtbaren Grundzug der westlichen Welt geworden sind, ergibt sich ein prinzipielles Problem.
Dies zeigt sich im Erstarken der sogenannten rechtspopulistischen Bewegungen in ganz Europa, in den USA und weltweit. Wir befinden uns in einem Kampf um die Mitte. Die essenzielle Spannung zwischen Identität und Differenz soll einseitig aufgelöst werden. In einer Welt, die angeblich von differenzverliebten Eliten beherrscht wird, sucht man neu nach Identität, nationaler Identität, religiöser Identität, kultureller Identität. Entsprechend befinden sich harte identitäre Formen der Religion im Aufwind. Auch innerkatholisch erleben wir den Streit zwischen dem Fortschritt und einem Rückschritt, der sich paradoxerweise als progressiv geriert.
Heimat, Heil und Hoffnung
Zurück nach Ostdeutschland. Nachdem man in den ersten Jahren in den Kirchen hoffte, eine neue Christianisierungswelle zu erleben, musste man schnell feststellen, dass die Wiederkehr des Glaubens ausblieb, jedenfalls an den Kirchen vorbeiging. Es kam nicht zu massenhaften Kircheneintritten. Noch immer sind drei Viertel der Bevölkerung konfessionslos. Die Gründe für die unterschiedlichen Entwicklungen in den osteuropäischen Ländern sind sehr komplex und hängen mit nationalen und regionalen Gegebenheiten zusammen. In Ostdeutschland konnte sich die protestantische Kirche etwa nicht mit einem neuen Nationalismus verbinden wie katholische in Polen. Bis jetzt. Zudem dürfte den neuen Bundesländern der Einfluss des – sagen wir einfachheitshalber – postmodernen Westens stärker gewesen sein und offener aufgenommen worden sein als in Polen, in der Ukraine oder in Russland. Trotz aller Schwierigkeiten etablierte sich auch im Osten der Republik eine liberale, pluralistische Gesellschaft. In Ansätzen. Möglicherweise verbanden sich die neuen Vorbehalte der postmodernen Mentalität gegenüber den alten Kirchen mit den modernen antikirchlichen Mustern des Sozialismus.
Nun aber ist im neuen Jahrtausend die Welt in Gärung geraten ist. Nach der Nachkriegsordnung Europas zerfallen die alten postkolonialen Ordnungen des Nahen Ostens. Staaten implodieren. Die Fortschritte in Kommunikation, Medialität und Mobilität haben eine Völkerwanderung ausgelöst, in Asien, aber auch im Armenhaus der Welt, in Afrika. Dadurch kommen uns auch andere ungewohnte Formen der Religiosität nahe. Wenn sich nun schon die seit Jahrzehnten multikulturell und multireligiös geprägten Gesellschaften des alten Westens schwertun, diese Herausforderung zu meistern, wie viel schwerer muss es da den Menschen, die lange Zeit in den homogenenen Gesellschaften jenseits des Eisernen Vorhangs lebten, fallen, sich mit der neuen Weltlage anzufreunden? Insofern ist das Entstehen einer identitären Bewegung wie Pegida durchaus zu verstehen.
Entwurzelte Menschen
Die Erfahrung der Fremde kann junge Männer in den Banlieus Frankreichs oder Belgiens dazu bringen, ihre islamischen Wurzeln neu zu entdecken und zu radikalisieren. Die entwurzelten Massen in den Städten Afrikas finden eine neue Identität in den Heilsversprechen des pentekostalen Fundamentalismus. In Russland und in den USA können in je eigener Weise die radikalisierten Formen der Traditionskirchen vor allem die Verlierer der aktuellen Transformationsprozesse zu neuer nationaler Identität und Größe verhelfen. Und sogar im religiös kühlen Westeuropa gibt es immer mehr durchaus auch intellektuell entwurzelte Menschen, die Heil und Heimat im protestantischen oder katholischen Konservativismus suchen. Im entkirchlichten Ostdeutschland ist die Situation noch einmal anders. Dennoch und vielleicht gerade deshalb gibt es hier ein umso größeres Bedürfnis nach Identität und Heimat. Die Handelskette Konsum – ein DDR-Relikt – wirbt mit der Sehnsucht nach Heimat. Viele suchen hier die Heimat aber gerade nicht in den Kirchen. Vielleicht sind der im Osten der Republik überdurchschnittlich ausgeprägte Nationalismus und Neonazismus ersatzreligiöse Phänomene, die in der entchristlichten Gesellschaft ähnliche Bedürfnisse abdecken, wie in einem islamischen Milieu der Salafismus und islamistische Terrorismus. Religion einschließlich der Ersatzreligion – und das wurde im noch so jungen 21. Jahrhundert schnell klar – bleiben ein ambivalentes System der Verheissung von Heimat, Heil und Hoffnung.
Mehr Fragen als Antworten
Meine Theologie hat sich seit ich in Dresden lebe, deutlich verändert. Mir wurde klarer, dass es nicht schon ein erfreuliches Zeichen ist, wenn Menschen religiös sind. Und dass es keine reine Katastrophe ist, wenn religiöse Sprachspiele fehlen. Vielmehr ist zu fragen, welchen Glauben jemand hat! Auch im christlichen Glauben kann ein gerüttelt Maß an Angst vor der Welt, Fixierung auf Gewohnheit oder Realitätsverweigerung virulent sein, und in allem Atheismus lebt ein Funke reinster negativer Theologie. Und bei aller Begeisterung für das Christentum, die in mir lebt und die ich lehre, werde ich doch immer ratloser, wohin ich meine atheistischen Studierenden denn schicken soll, wenn sie Interesse an der Kirche bekunden. Die mühsamen Häutungsprozesse innerhalb der Kirche sind für suchende Menschen eine echte Zumutung. Auch in den christlichen Kirchen des Ostens fließt nicht immer das frischeste und klarste Quellwasser christlicher Wahrheit. Die Welt ist selten eindeutig, der Streit um die Wahrheit unvermeidbar. Jenseits aller konfessionellen Grenzen, jenseits der Differenzen zwischen den Religionen und jenseits des Unterschieds von Glaube und Unglaube müssen wir lernen, die Gretchenfrage radikal neu zu stellen.
Vgl. Teil 1: Florian Bruckmann zum „Gott im Osten“
Vgl. Teil 2: Ulrich Engel zur Theologie im Osten