Nicht erst seit der Corona-Krise hat die katholische Kirche ihr Verhältnis zum Kontext moderner Gesellschaften und öffentlicher Diskurse angemessen zu reflektieren. Einen Beitrag dazu stellt Wolfgang Beck mit einer kleinen Veröffentlichung der Salzburger Theologischen Fakultät vor, die nach Beiträgen und „Perspektiven für eine lebenswerte Gesellschaft“ fragt.
In der Spätmoderne verschiebt sich das Verhältnis von religiösen Organisationen und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten auf markante Weise. Forciert wird diese Entwicklung durch die Corona-Pandemie, in der wiederholt nach dem Beitrag der Kirchen für die Bewältigung gesellschaftlicher Krisen gefragt wird. Eine große Bandbreite von Erwartungen und kirchlichen (Selbst-)Verpflichtungen für einen Beitrag zum Gemeinwohl einerseits bis hin zu Rückzugsszenarien in hochidentifizierte Nischen mit einer Dispensierung von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung andererseits, markieren die Eckpunkte der Ansichten. Schnell wird dabei deutlich, dass im Bemühen um Gemeinwohlorientierung unterschiedliche Kirchenverständnisse und Ekklesiologien ausgemacht werden können.
Während der Corona-Pandemie werden beispielhafte Felder gesellschaftlicher Fragestellungen sichtbar, in denen nach kirchlichen Beiträgen zu fragen ist. Und wer diese Fragen stellt, erwartet immerhin noch etwas von den Kirchen, was über die Bearbeitung ihrer internen Baustellen hinausgeht, von dem gerade die katholische Kirche massiv in Anspruch genommen ist. Angeregt von der jüngsten Papstenzyklika Fratelli tutti haben die Herausgeber Simon Ebner, Alois Halbmayer und Josef Mautner aus Salzburg (Kath. Aktion und Kath.-Theol. Fakultät) zwölf Beiträge von Autor*innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Arbeitsbereichen versammelt. Mit ihnen rücken die drängenden Herausforderungen der Menschheit und des gesellschaftlichen Zusammenlebens im 21. Jahrhundert in den Blick. Dazu gehören ökonomische Transformationsprozesse im Bemühen um ökologische Nachhaltigkeit und jenseits des zunehmend angefragten Wachstumsparadigmas (Margit Schratzenstaller), wie auch die Verantwortung zur Bearbeitung des Klimawandels (Gishild Schaufler und Kathrin Muttenthaler), die Grundhaltung globaler Geschwisterlichkeit als sozialethische Perspektivenweitung (Wolfgang Palaver) oder die Wechselwirkung von örtlichen Demokratiestrukturen und dem kirchlichen Verständnis von Subsidiarität (Simon Ebner).
Keine Scheu vor konkreten Fragen
Die Beiträge scheuen nicht die Konkretion, so fragt Peter Ruhmannseder nach Elementen einer gerecht zu gestaltenden Arbeitswelt. Und Helmut P. Gaisbauer zeigt, dass gerade die Corona-Pandemie Armutsbekämpfung vor Ort einfordert. Eine Besinnung auf das bewährte Genossenschaftswesen fordert Anna Doblhofer-Bachleitner. Und die besondere Verbindung von lokaler und globaler Vernetzung im Digitalen wird von Jakob Etzel analysiert. Nicht erst mit Corona und dem Kampf um Impfungen und Schutzmaßnahmen gehören gesundheitspolitische Diskurse zur Bestimmung gelingenden Lebens (Andreas Michael Weiß). Den Abschluss bilden zwei allgemeine Einordnungen: die Untersuchung kirchlicher Diskursbeiträge entlang der sozialethischen Grundprinzipien als einer gesellschaftlichen Ressource (Marianne Heimbach Steins) und der Auftrag aller Glieder des Volkes Gottes zum gesellschaftlichen Engagement, wie auch zur aktiven Arbeit an und in den gesellschaftlichen Strukturen (Alois Halbmayr).
Gemeinwohlorientierung braucht Vernetzung
Der Salzburger Prägung mag geschuldet sein, dass es sich in der vorliegenden Sammlung von Diskussionsbeiträgen vornehmlich um katholische Perspektiven und Themen handelt. Doch dürfte gerade das Anliegen der Perspektivenweitung für die gemeinwohlorientierte Kirchenentwicklung auf ökumenische und interreligiöse Vernetzungen angewiesen sein.
Mit der Bandbreite der vorgestellten Impulse werden nicht nur Fragestellungen vorgestellt, in denen spezifisch christliche Beiträge einen Gewinn für öffentliche Meinungsbildungsprozesse und Entscheidungen darstellen würden.
Das kirchliche Ringen mit der Selbstreferenzialität
Mit den Themenfeldern ergeben sich auch für die Kirche selbst Chancen, mithilfe der entsprechenden Debatten vor einem Absinken in bloße Selbstreferenzialität und Beschäftigung mit Binnendiskursen bewahrt zu werden. Denn aus den gesellschaftlichen Debatten erwachsen immer wieder kritische und unangenehme Rückfragen an die eigene kirchliche Praxis. Auch ihretwegen scheint vielen kirchlichen Verantwortungsträgern der Rückzug von einer kirchlichen Gemeinwohlorientierung eine attraktive Option – würde sich damit womöglich der gesellschaftliche Reformdruck auf die Kirche vermindern. Es wäre gleichwohl keine evangeliumsgemäße und theologisch legitimierte Option, sondern bloß ein Ausdruck autopoietischen Selbsterhalts.
Impuls für anstehende Aushandlungsprozesse
Immer wieder neu und gerade in den aktuellen Krisenerfahrungen von Pandemien, Klimawandel und Phänomenen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit ist das Verhältnis von Kirchen zum Gemeinwohl auszuhandeln. Dazu stellt die Salzburger Sammlung von Beiträgen einen wichtigen und lohnenden Beitrag für alle Christ*innen dar, die sich nicht damit abfinden mögen, wenn Kirche sich vorrangig mit sich selbst beschäftigt.
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Autor: Wolfgang Beck, Mitglied der feinschwarz-Redaktion, Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M.
Bild 1: Marcus Lenk / unsplash.com
Bild 2: Buch-Cover
Literatur: Ebner, Simon / Halbmayr, Alois / Mautner, Josef P. (Hg.): Perspektiven für eine lebenswerte Gesellschaft. Zum Beitrag des Christlichen vor Ort (Salzburger Theologische Studien 63), Innsbruck – Wien, Verlagsanstalt Tyrolia, 156 S., ISBN 978-3-7022-3900-8.