Wenn Menschen aus der Kirche austreten, gibt es dafür viele und verschiedene Gründe. Birgit Almer hört sie.
„Ich sehe nur eine Kultur des Schweigens. Dinge werden zum Schutz der Kirche unter der Decke gehalten, aber genau das Gegenteil wird erreicht.“
Ich sitze gerade am Telefon und höre zu. Über ein Head-Set ist mir die Person am anderen Ende der Leitung, die mir gerade verletzt ihre Gründe nennt, so nah wie möglich, direkt an meinem Ohr. Sie erzählt von ihrer langen Verbundenheit mit ihrer Kirche, die nun nicht mehr die ihrige ist. Sie hat vor kurzem vor der politischen Behörde ihren Austritt aus der katholischen Kirche bekannt gegeben. Aus vielen Gründen.
Diese Beweggründe zu erfragen ist mein Beruf. Vier Mal die Woche telefoniere ich im Zuge des Projektes „Pastorale Initiative“ – kurz „Pastini“ – mit Menschen, die die Kirche offiziell verlassen haben. Und es sind viele. Im Jahr 2018 waren es allein in der Steiermark 10.440 Menschen, bei ca. 805.000 Katholikinnen und Katholiken.
Tausende Gespräche mit Menschen, die die Kirche offiziell verlassen haben.
Aus all den tausenden Gesprächen kristallisieren sich für mich vier Typen eines Kirchenaustritts heraus:
1. Der „Protest-Austritt“
„Man kann weder wählen, wer Priester noch Bischof noch Kardinal noch Papst wird. Es gibt keine Abstimmungsmöglichkeiten. Wenn ich nicht mitbestimmen kann, was passiert, warum soll ich dann noch Mitglied sein?“
Habe ich jemanden am Hörer, der aus Protest aus der Kirche ausgetreten ist, schlägt mir heiße Wut entgegen. Dahinter stecken häufig eine immense Unzufriedenheit mit Kirche und das Gefühl, nichts verändern zu können, selbst wenn das Engagement groß ist. Die Kirche wird als Machtapparat mit vorgegebenen Strukturen und Normen erlebt, in dem das „normale Kirchenvolk“ einerseits kein Mitspracherecht hat, aber andererseits aufgefordert wird zu leben, was selbst durch Hauptamtliche im Kleriker- oder Laienstand nicht gelebt wird oder gelebt werden kann.
„Kirche will vorgeben, wie ich zu leben habe.“
„Ich fühle mich in dieser Struktur nicht mehr wohl. Priester werden (durch den Zölibat) künstlich überhöht. Kirche will vorgeben, wie ich zu leben habe. […] Wir leben nicht mehr in diesem Zeitalter. […] Sie will sagen, wie es geht und selbst kann sie es nicht einhalten, was sie fordert. […] Priester predigen von Demut und im Hintergrund geht es um Macht und Geld. Da sag ich nur ‚Wasser predigen und Wein trinken‘.“
Protest-Austritte zielen auf Selbstermächtigung und Selbstverantwortung ab. Es gibt nicht mehr eine richtige Weise das Leben zu gestalten, sondern unzählige, individuelle Biographien. Verurteilungen von Lebenswegen, die den hohen Idealen und moralischen Vorgaben der Kirche nicht entsprechen, werden als massiver Eingriff ins persönliche Leben gewertet. Der Kirchenaustritt und damit das Einstellen von Kirchenbeitragszahlungen wird als einziges offizielles, öffentliches und wirksames Zeichen des Protestes gesehen.
2. Der „Vertrauensverlust-Austritt“
„Die Kirche hat weggeschaut, vertuscht, geschwiegen und dadurch ihre Glaubwürdigkeit verloren. Ich habe mir viele Berichte und Dokumentationen dazu angesehen und leide zutiefst mit den Betroffenen mit. […] Ich kann es mit mir selbst nicht mehr vereinbaren, als unterstützendes Mitglied bei der Kirche zu bleiben. Gefühlsmäßig hätte ich damit Mitverantwortung am ganzen Geschehen.“
Betroffenheit und Fassungslosigkeit begegnen mir, wenn ich mit Menschen spreche, die aufgrund der andauernden Skandale in der Kirche den Austritt erklärt haben. Viele davon verbanden mit Kirche bedeutsame Begegnungen mit wertvollen Menschen. Berichte über weitere Skandale verdecken diese positiven Erfahrungen mit Kirche. Ein Gefühl von Verrat lässt daran zweifeln, wem noch geglaubt und vertraut werden kann.
„Man vermisst die Gerechtigkeit.“
„Mein Glaube ist nach wie vor gegeben, aber ich habe das Vertrauen in die Kirche verloren. […] Das Gute in der Kirche wird durch all diese Vorfälle, durch diese schweren sittlichen Verfehlungen durch Priester zunichte gemacht.“
Durch die Skandale in den letzten Jahrzehnten hat Kirche ein Identitätsproblem. Großer Zorn herrscht darüber, dass Kirche noch immer den Eindruck erweckt, nicht einheitlich auf Seiten der Opfer, sondern zunächst einmal auf Seiten der „Institution Kirche“ und damit bei den Tätern zu stehen. Trotz zahlreicher Fälle von sexualisierter, körperlicher und spiritueller Gewalt wird gefühlsmäßig erst reagiert, wenn es durch den Druck der Öffentlichkeit nicht mehr anders geht, anstatt von vornherein Strukturen zu ändern.
„Man vermisst die Gerechtigkeit. […] Es gibt keine Berichte an die Öffentlichkeit, keine Infos von Fällen und der weiteren Aufarbeitung. […] Man wird für dumm erklärt.“
Die Kirche muss lernen, sich ihren Problemen zu stellen. Dazu bedarf es auch einer Änderung der internen und externen Kommunikation.
3. Der „Verletzungs-Austritt“
„Er (der Pfarrer) hat beim Begräbnis kein einziges persönliches Wort gefunden. Ich hatte das Gefühl, als ob er sie (die Verstorbene) gar nicht kennen würde, obwohl sie ihr ganzes Leben für die Pfarre hergegeben hat. […] Nicht einmal den Lebenslauf hat er vorgelesen.“
„Beim Begräbnis kein einziges persönliches Wort.“
Dieser Austrittstyp zeigt wohl am besten auf, dass auch im „Alltagsgeschäft von Kirche“ Fehler passieren, die verhindert werden hätten können – zumindest einige davon. Ausgetretene berichten von schlechten Erfahrungen mit dem sogenannten „Bodenpersonal“, auch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchenbeitragsorganisation, von denen sich manche Ausgetretene nicht verstanden fühlen, wenn es um die Berechnung oder um die erhoffte Reduzierung des finanziellen Beitrages auf ein Mindestmaß geht.
Häufig passieren Fehler gerade rund um emotional hoch besetzte Lebensereignisse, wo Kirche mit ihren Ritualen um Begleitung gebeten wird. Hier gilt es sensibel zu sein für die Emotionalität und Wichtigkeit des Augenblicks, der für Hauptamtliche vielleicht zum beruflichen Alltag zählt. Bedürfnisse und Wünsche, gerade in der Vorbereitung und Gestaltung der gottesdienstlichen Feiern gilt es ernst zu nehmen und nicht von vornherein abzulehnen. Dies zeugt von Professionalität von Kirche, die sich im freien Feld von Angebot und Nachfrage bewegt und nicht die einzige Anbieterin ist.
4. Der „Apathismus-Austritt“
„Die Kirche ist mit Denkmalpflege beschäftigt und weit davon entfernt, Kirche Christi zu sein. […] Sie sollte politisch und gesellschaftlich wirksamer auftreten und sich positionieren.“
„Die Kirche muss sich für das richtige Leben öffnen.“
Telefoniere ich mit diesem Austrittstyp, ist gerade das Fehlen von Emotionen auffällig. Viele dieser Menschen haben mit Kirche bereits lange vor dem Austritt abgeschlossen und verschwenden nicht einmal einen Gedanken daran, dass Kirche für sie Relevanz haben könnte. Kritisiert wird vieles: kein politisch und gesellschaftlich wirksames Auftreten, kein sichtbares Profil, keine einheitliche Stellungnahme zu relevanten Themen wie Tier-, Umweltschutz und Erderwärmung sowie eine nicht ernst zu nehmende Haltung zu Themen wie Homosexualität, Gender und der Frauenfrage.
„Es werden mehr Glaubensgrundsätze vertreten als dass man sich damit auseinandersetzt, was die Menschen wirklich bewegt. Das hätte mich damals nicht erreichen können. […] Die Kirche muss sich für das richtige Leben öffnen. Menschen mit homosexueller Orientierung und Frauen werden in der Kirche diskriminiert. […] So kann ich Kirche nicht unterstützen.“
Eine Plattform für Rückmeldungen von Menschen, die der Kirche etwas zu sagen haben.
So schwierig manche Telefonate auch sind: Ich liebe meine Arbeit, denn durch sie komme ich vielen Menschen und ihren Lebens- und Glaubensgeschichten sehr nahe und als kirchliche Mitarbeiterin kann ich hören, was sonst möglicherweise nicht gehört wird. Es ist gut, dass die Kirche in der Steiermark sich Menschen, die sich von ihr trennen, nicht verschließt, sondern mutig nach den Gründen fragt, sich den Emotionen stellt und jede Person und ihre Geschichte ernst nimmt. Sie bietet damit eine Plattform für Rückmeldungen, von Menschen, die der Kirche etwas zu sagen haben – und von denen Kirche einiges lernen kann.
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Mag. Birgit Almer, Theologin, arbeitet seit acht Jahren im Projekt-Team „Pastorale Initiative“ der Diözese Graz-Seckau.