Carmen Speck arbeitet in Frankfurt zusammen mit zwei Mitschwestern mit Menschen ohne festen Wohnsitz. Sie gehört dem Orden der Missionsärztlichen Schwestern an und kümmert sich in der Elisabeth-Straßenambulanz (ESA) der Caritas Frankfurt um die medizinische Versorgung von Obdachlosen. Wolfgang Beck hat sie für Feinschwarz im Interview nach der veränderten Situation während der Corona-Pandemie gefragt.
Feinschwarz (fs): Liebe Schwester Carmen Speck, Ihre Arbeit mit wohnungslosen Menschen in Frankfurt dürfte sich mit Beginn der Corona-Pandemie und den drastischen Schutzmaßnahmen stark verändert haben. Können Sie kurz beschreiben, wie Ihre Arbeit derzeit aussieht?
Carmen Speck MMS: Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr mussten wir in unseren Ablauf der Sprechstunde verschiedene Schutz- und Hygienemaßnahmen einbauen. Dies bringt viele Veränderungen für die Menschen, die zu uns kommen. Seit Beginn der Pandemie bleibt unser Haupteingang geschlossen. Die Kranken werden nur einzeln von einem Mitarbeiter eingelassen. Es folgt ein zusätzliches Aufnahmeverfahren mit Kurzbefragung und Temperaturmessung. Erst dann dürfen sie im Wartezimmer oder – je nach Symptomen – vor den einzelnen Behandlungszimmern Platz nehmen. Jedoch dürfen nie mehr als vier 4 Personen gleichzeitig an vier verschiedenen Tischen im Wartezimmer sitzen. Zu normalen Zeiten sind es manchmal bis zu 25 Personen. Auch wir als Ambulanzteam müssen zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen. Nur schwer gewöhnen wir uns an das Tragen von Schutzkitteln, Mundschutz und Handschuhe. Doch wissen wir, dass es wichtige Maßnahmen sind, um eine
Verbreitung der Krankheit zu verhindern. Denn die Menschen, die zu uns kommen, gehören zu einer der Hochrisikogruppen. Während wir bis vor kurzem in einem großen Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen unseren Dienst tun konnten, müssen wir jetzt leider auf die tatkräftige Unterstützung der ehrenamtlichen Fachkräfte verzichten, da wir ihre Gesundheit nicht gefährden wollen. Sie unterstützen uns jedoch weiterhin mit Zeichen der Verbundenheit, zum Beispiel mit Emails, Anrufen und kleinen Aufmerksamkeiten. Es macht uns Sorgen, aufgrund der personellen Einschränkungen momentan auf unseren aufsuchenden Dienst mit dem Ambulanzbus verzichten zu müssen. Wir befürchten noch stärkere Verelendung unter den Obdachlosen. Nur noch im Einzelfall fahren wir zu ihnen auf die Straße, um sie in die Ambulanzräume zu bringen.
Nach abgeschlossener Behandlung müssen wir aktuell unsere Patienten bitten, die Einrichtung zügig wieder zu verlassen. Auch das fällt uns nicht immer leicht, sind wir doch für viele von ihnen eine feste Anlaufstelle geworden, an die sie sich in schwierigen Situationen wenden. Die Sorge der Leitungsebene für die Mitarbeiter*innen in unserem Verband, sowie eine große gegenseitige Fürsorge über die Einrichtungen hinaus, lässt uns trotz aller Einschränkungen gut weitergehen.
Viele sind erstaunlich gelassen.
Feinschwarz: Wie reagieren die Menschen, mit denen Sie zu tun haben, auf die Schutzmaßnahmen?
Carmen Speck MMS: Ich erlebe, dass viele Klienten erstaunlich gelassen reagieren. Die Bedrohung durch einen Virus ist gegenüber der täglichen Sorge ums Überleben offensichtlich kleiner. Und ich vermute, viele von ihnen haben schon manch andere Krise durchlebt.
Die meisten akzeptieren die zusätzlichen Schutzmaßnahmen und den damit verbundenen langsameren Ablauf. Da sich immer nur wenige Patient*innen zur gleichen Zeit in der Einrichtung aufhalten dürfen, herrscht insgesamt eine ruhigere Atmosphäre. Aber auch bei den Wartenden vor der Einrichtung erleben wir eine hohe Akzeptanz hinsichtlich der veränderten Abläufe und Schutzmaßnahmen. Das derzeit trockene sonnige Wetter trägt sicher auch dazu bei.
Ich jedoch merke, dass ein Arbeiten mit Mundschutz, Handschuhen und hinter Plexiglasscheibe an der Anmeldung, eine Distanz schafft, die nicht immer leicht auszuhalten ist und dennoch notwendig ist.
Einige Patient*innen sind beunruhigt und verängstigt. Andere verstehen aufgrund von Sprachschwierigkeiten nicht, was es mit all dem auf sich hat. Mit Hilfe eines Flyers mit einfachen Piktogrammen und in Beratungsgesprächen versuchen wir ihnen die Notwendigkeit von Hygiene und Schutzmaßnahmen zu erklären.
Feinschwarz: Im medizinischen Bereich erfolgt Ihre Arbeit ja ohnehin nahe an Patient*innen. Haben Sie selbst ausreichend Schutzmaterialen? Oder erleben Sie Engpässe?
Carmen Speck MMS: Zu Beginn hatten wir nur einiges an Schutzmaterial: FFP-2 Masken gehörten bislang nicht zu unserer Standardausrüstung. Ich bin sehr froh über das Krisenmanagement im Caritasverband. Innerhalb kürzester Zeit wurde einrichtungsübergreifend für Nachschub an Schutzmaterialien gesorgt. Dabei gab es auch Unterstützung durch das Gesundheitsamt der Stadt, den diözesanen Caritasverband und einzelner Spender. Dieses Miteinander und die Solidarität untereinander erleichtert die Arbeit in diesen herausfordernden Zeiten.
Feinschwarz: In welchen Tätigkeitsfeldern und Berufsgruppen sind Ihre Mitschwestern tätig?
Carmen Speck MMS: Einige unserer Schwestern arbeiten in ganz unterschiedlichen pastoralen und kirchlichen Bereichen, wie Orts- und Hochschulgemeinde, Ordensreferat und geistlicher Begleitung. Zu viert sind wir haupt- und ehrenamtlich im Bereich der Straßenambulanz tätig. Und eine Schwester arbeitet mit Menschen mit Beeinträchtigung.
Feinschwarz: Arbeiten Sie mit den Menschen, die Sie auch aus früheren Begegnungen schon kannten? Oder sind jetzt neue Personengruppen dazu gekommen?
Carmen Speck MMS: Uns ist aufgefallen, dass wir nur wenige Neuaufnahmen haben. In normalen Zeiten nehmen wir im Schnitt eins bis zwei neue Patienten am Tag auf. In den vergangenen Wochen behandeln wir meist bekannte Gesichter. Auffallend ist jedoch, dass plötzlich manche nach 3 oder 4 Jahren plötzlich wieder den Weg zu uns finden. Ich frage mich, ob die „Angst“ sie zu uns führt.
Im Moment gibt es nicht mal Pfandflaschen
Feinschwarz: Ein großer Teil der obdachlosen Menschen in den großen Ballungszentren stammt aus südosteuropäischen Ländern. Wie sieht deren Situation derzeit aus?
Carmen Speck MMS: Nicht gut – wie für alle obdachlosen Menschen zurzeit. In der aktuellen Lage finden sie keine Arbeit auf dem Schwarzmarkt, bleiben arbeitslos und versuchen sich mit Sammeln von Pfandflaschen oder Betteln durchzuschlagen. Doch im Moment gibt es kaum Passanten, die Flaschen liegen lassen oder Geld geben. Hinzu kommt, dass sie so sichtbar wie nie zuvor sind. Sie können sich nicht mehr unter Reisenden oder Menschenmassen in den Einkaufsstraßen verstecken und sind dadurch noch „ausgesetzter“.
Wie bei vielen Migranten, die obdachlos und keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, fehlt dieser Personengruppe Schutzräume, wo sie sich tagsüber aufhalten könnten. Nachts stehen ihnen nur Sammelunterkünfte auf niedrigem Niveau zur Verfügung. Hygieneprobleme sind die Folge. Oft ziehen sie es doch vor in Gartenhütten, Parks oder Autos zu übernachten und damit ihre Gesundheit zu gefährden.
Obdachlose ansprechen
und nach Hilfebedarf fragen.
Feinschwarz: Gibt es eine Möglichkeit, wie sich Ihre Arbeit unterstützen lässt? Gibt es etwas, was Sie sich im Umgang mit obdachlosen Menschen bei den Mitbürger*innen wünschen würden?
Carmen Speck MMS: Schön ist es, wenn die Öffentlichkeit diese und andere vulnerable Gruppen nicht vergisst und es Menschen gibt, die sich trotz eigener Sorgen für die Bedürfnisse der Schwachen einsetzt. Und ich wünsche mir, dass Sie bewusst hinsehen, Obdachlose ansprechen und nach Hilfebedarf fragen. Oft genügt aber auch nur ein Blick um Würde zu schenken.
Es ist sicher hilfreich, bestehende Einrichtungen nach Hilfebedarf zu fragen.
Sie wissen oft am besten, was fehlt. In unserer Straßenambulanz benötigen wir weiterhin finanzielle Unterstützung, damit Medikamente für die nicht-versicherten Kranken gekauft werden können. Kleidung, insbesondere Schuhe, Jacken und Unterwäsche fehlen ebenfalls.
Feinschwarz: Sie leben als Ordensfrau in einer von zwei kleinen Kommunitäten in Frankfurt. Gibt es dabei für die anderen Schwestern überhaupt Möglichkeiten für das „social distancing“? Treffen Sie besondere Maßnahmen?
Carmen Speck MMS: In unseren beiden Kommunitäten leben wir als Hausgemeinschaft, teilen Küche, Wohnzimmer und Bad. Mit „social distancing“ ist das ähnlich wie in einer Familie eher unrealistisch. Doch im Blick auf unsere Dienste, bedeutet social distancing momentan, keine unnötigen Kontaktaufnahmen zwischen beiden Kommunitäten. Die im medizinischen Bereich arbeitenden Mitschwestern bilden zurzeit eine Kommunität.
Feinschwarz: Sr. Carmen, wie gehen Sie persönlich als Ordensfrau durch diese Krisenzeit? Was ist Ihnen wichtig in dieser Zeit?
Carmen Speck MMS: In diesen Wochen wird mir nochmal mehr deutlich, wie wichtig Gemeinschaftsleben und Spiritualität für mich sind. Was bleibt wenn räumliche Nähe, gemeinsame Eucharistiefeier, Liturgien und Feierlichkeiten wegfallen? Ich spüre unseren gemeinsamen Boden, unsere gemeinsame Ausrichtung auf Christus in der heilenden Mission mit Menschen am Rande von Gesellschaft und in verschiedensten Nöten. Was wir tun, tun wir für ein größeres Ganzes und ich fühle mich sehr stark mit unserer weltweiten Gemeinschaft verbunden.
Diese Wochen sind sicherlich nicht leicht, doch mich trägt die Hoffnung, dass wir genau in diesen Zeiten Mensch – menschlich – werden dürfen.
Feinschwarz: Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie sich Zeit genommen haben und wünsche Ihnen für die Arbeit alles Gute!
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Interviewte: Carmen Speck MMS stammt gebürtig aus der Schweiz, hat als Grundschullehrerin und Physiotherapeutin gearbeitet und gehört dem Orden der Missionsärztlichen Schwestern an.
Autor: Wolfgang Beck ist Mitglied der feinschwarz-Redaktion, Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M.
Foto: Nick Fewings / unsplash.com