Valeryia Saulevich über eine Sängerin, die keine Angst hat vor den dunklen Seiten des Menschseins, aber auch nicht davor, ihr Baby auf der Bühne zu stillen, wenn es weint.
Vor ungefähr acht Jahren habe ich Amanda Palmers Musik entdeckt. Je länger ich mich einhörte, desto tiefgreifender, persönlicher wirkten Lyrik, Klang und Darstellung auf mich. Zusammen mit der künstlerischen Wahrnehmung wuchs auch mein Interesse an dieser fantasiereichen, irritierenden und expressiven Frau. Persönlich konnte ich sie im Oktober 2016 erleben, als Amanda Palmer in Wien war. Sie spielte zwei Konzerte an einem Tag, um einer größeren Anzahl ihrer Fans die Teilnahme zu ermöglichen. Als Sängerin muss sie bereit sein, für ihr Publikum gut da zu sein – sie finanziert ihre Kunst hauptsächlich über freiwillige Spenden. Sie tut aber gerne viel für ihre Zuhörerinnen und Zuhörer. Das Wechselspiel zwischen Nehmen und Geben ist für sie ein untrennbarer Bestandteil des Kunstschaffens.
Unmittelbare Präsenz und absolute Authentizität.
An diesem Oktober-Nachmittag spielte Amanda Palmer ein Solo-Konzert am Klavier. Der dichte, aufbrechende Klang des Flügels und ihr kräftiger, tiefer Gesang riefen erneut meine früheren Empfindungen hervor. Neu und überraschend war für mich allerdings die in der unmittelbaren Präsenz der Künstlerin spürbare absolute Authentizität ihres Auftrittes. Amanda Palmer zeigt viel körperliche Nacktheit bei ihren Shows. Doch bei diesem Konzert habe ich eine Nacktheit anderer Art erlebt. Die Sängerin entblößte sich in all ihrer Verletzlichkeit und Emotionalität vor dem Publikum. Das ist ebenfalls ein Teil ihrer künstlerischen, aber auch persönlichen Philosophie. In ihren Interviews sagt sie, dass ausschließlich „nackte“ – echte und ehrliche – Gefühle den Weg zu einer wahren Anerkennung bahnen können.
Mitten im Konzert weinte ihr kleiner Sohn hinter den Kulissen. Da stillte sie ihr weinendes Baby auf der Bühne und hörte dabei nicht auf zu singen und zu spielen. Viele Gedanken gingen mir da durch den Kopf: Wird hier öffentlich zu viel aus dem Privatleben preisgegeben? Ist das jetzt zu viel für mich, einen stillenden Rockstar auf der Bühne zu sehen? Wenn ja, warum? Diese leichte Verwirrung spürte ich auch im Publikum. Das Baby gehört aber zum Leben im Hier und Jetzt, auch mit seinem Geschrei und seinem Hunger. Amanda Palmer schaffte es zu vermitteln, dass das nicht zu viel war, es in der Öffentlichkeit zu stillen. Denn dabei ging es nicht um eine Show, sondern um den Menschen mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen. In dieser Art und Weise räumt sie dem unverhüllten Leben Platz auf der Bühne ein und ebenso in ihrer Musik und Performance.
Sensibilität und Aufmerksamkeit für Lebensgeschichten und inspirierende Begegnungen.
Die Lieder von Amanda Palmer sind von biographischen Motiven durchdrungen. Die Künstlerin stellt persönliche Erfahrungen mit großer Offenheit und Ehrlichkeit dar. Daneben zeigt sie generell eine große Sensibilität und Aufmerksamkeit für menschliche Lebensgeschichten. Bereits als Kind hatte sie tiefe Einsamkeit und Sehnsucht nach Anerkennung am eigenen Leib verspürt. Später im Beruf, u.a. als Lebende Brautstatue auf einer Straße in Boston oder als Striptease-Tänzerin, hatte sie ähnliche Gefühle und Bedürfnisse bei ihrem Publikum wahrgenommen: sei es bei den Menschen, die ihr auf der Straße kurz in die Augen schauten, oder sei es bei denen, die ihr an der Theke im Club ihr ganzes Leben erzählten. Diese authentischen Begegnungen und Geschichten inspirieren ebenso ihre Lieder und Performances.
Als Sängerin und Komponistin gibt sie durch ihre Kunst, aber auch in ihrem Blog und in sozialen Medien eigene politische Statements zu aktuellen Themen der Gesellschaft ab. Eine ihrer letzten Produktionen ist ein Musikvideo zum Lied „Mother“ von Pink Floyd (aus deren Kultalbum „The Wall“), zu sehen auf youtube. Dieses Stück widmet sie der aktuellen US-Regierung. Zärtlich und erstickend zugleich erscheint das Bild einer Mutter, die ihr Kind über alles liebt und trotzdem oder gerade deswegen nicht loslassen kann.
Existenzielle, prophetische Fragen. Nicht beruhigend und nicht harmlos.
Donald Trump kommt in diesem Video als Kind vor, das von einer übermäßig liebenden Mutter – dargestellt von Amanda Palmer – umsorgt wird. Dieses kraftvolle Werk bündelt politische Fragen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft: Was steht hinter den Befehlen, Mauern zu bauen oder zu zerstören? Wo und bei wem liegt tatsächlich die Macht zur Veränderung? Welche Macht haben Frauen in der Welt? Das sind existenzielle, prophetische Fragen. Gerade zum Beginn eines neuen Jahres, wenn die Hoffnung auf Besseres wächst, stellen sie sich nochmal ausdrücklicher und brisanter.
Was Amanda Palmer schafft, ist nicht beruhigend und nicht harmlos. Die Darstellung des nackten Lebens zerreißt Masken und Mythen um dunkle menschliche Erfahrungen. Die Schattenseiten des Lebens kommen ans Licht, und was hier zum Vorschein kommt, kann uns böse überraschen. Provokation und Skandal werden zu Medien, um ungeschminkte und moralisch unsortierte Wahrheiten zu zeigen.
Dabei bekommen solche Wahrheiten in den Liedern und Auftritten von Palmer einen öffentlichen Raum, ihre Faktizität wird anerkannt. Wut, Angst, Liebe, Zärtlichkeit, Gewalt und Tod werden gezeigt und in unerwartete Verhältnisse zueinander gesetzt, ohne bewertet zu werden. Eine solche Begegnung mit dunklen Seiten des Lebens in dieser emotional intensiven Musik bringt wenig Erleichterung. Wenn aber das Verdrängte oder Versteckte dabei losgelassen werden kann, wirkt so eine Begegnung befreiend.
Valeryia Saulevich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Katholisch-Theologischen Fakultät in Graz.
Photo: Palmer performing with The Dresden Dolls at Kings Arms Tavern in Auckland, New Zealand, September 2006
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