Christian Preidel sprach in seiner Antrittsvorlesung über die Aufgabe der Praktischen Theologie als Wissenschaft zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung seiner Rede im Kulturhaus „Neubad“ in Luzern.
Theologie als Wissenschaft soll Neues entdecken. Gibt es das Neue aber überhaupt? Damit ist nicht gemeint, ob sich aus biblischen Texten und kirchlichen Ritualen etwas für die Gegenwart sagen lässt. Vielmehr, ob nicht die Gegenwart selbst eine endlose Wiederholung ist: eine Schleife, ein Loop. Ob nicht die Kultur, deren Teil das Christentum ist, in der Zeitschleife gefangen ist.
Es geht um die Verortung der Praktischen Theologie als Kulturwissenschaft.
Wenn damit das Wiederholen zur ersten Kulturtechnik avanciert, dann ist es sogar die Aufgabe von Theolog*innen, das Immergleiche zu wiederholen. Jedenfalls solange sie noch gefragt sind in Kirche und Gesellschaft und solange sie noch Menschen im Raum der Universität bilden. Es geht dabei letztlich um Wissenschaftstheorie, aber auch um Politik. Es geht um die Verortung der Praktischen Theologie als Kulturwissenschaft. Und damit auch um die Frage, ob nicht die das Christentum umgebende und durchdringende Kultur das spezifisch Christliche besser bewahrt als die kirchlichen Institutionen.
Die Wiederholung ist aber auch eine Frage nach dem, was der Mensch ist – der Mensch als wiederholendes Wesen. Und weil der Mensch aus christlicher Perspektive als ein hoffender gedacht wird, wird auch über die Frage zu sprechen sein, ob in der Wiederholung die Erlösung liegt.
in einer unaufhörlichen Schleife
2012 konnte man im Museum Fridericianum in Kassel einen Audio-Loop hören. Die Country Sängerin Tammy Wynette sang in einer unaufhörlichen Schleife: „So I`ll just keep on, til I get it right.“ Eigentlich geht es im hier „geloopten“ Ausschnitt um die Liebe: „Ich werde mich immer wieder neu verlieben, bis ich den richtigen gefunden habe.“ So lautet der ungekürzte Originaltext übersetzt. Aber die Liebe hat die Künstlerin Ceal Floyer aus dem Loop herausmontiert.
Diese Installation zeigt, worum es im Kern in der Popmusik geht. Tammy Wynette wird niemals aufhören zu singen. Das hängt mit den Produktionsbedingungen zusammen. Pop ist Studiomusik. Und das Studio besteht im Wesentlichen aus Maschinen, die unaufhörlich wiederholen. Als das Magnettonband erfunden wurde, begann der Pop. Er ist exakte, maschinelle Wiederholung. Das unterscheidet ihn vom Jazz. Dort macht John Coltrane 1960 aus dem Musical-Song „My Favorite Things“ einen Schlüsselsong des Modern Jazz. Dort ist es sinnvoll, über Herkunft und kulturelle Aneignung zu sprechen. Das ist der Maschine Pop egal. Sie wiederholt einfach. Und in dieser Wiederholung ist Pop das endlose Ergreifen der Gegenwart.
Pop stiftet zum ewigen Aufbruch an.
Diedrich Diederichsen beschreibt es in seiner Analyse folgendermaßen: Pop stiftet zum ewigen Aufbruch an. Man kündigt den miesen Job, man wird den schlechten „Boyfriend“[1] los nur um dann im nächsten schlechten Job und der nächsten schlechten Beziehung zu landen. Die ultimative Steigerung dessen ist der Loop. Das zu einer Schleife montierte Tonband wiederholt nur wenige Sekunden der zuvor aufgenommenen Sequenz. Damit erhält das Tonbandgerät endgültig den Status eines Instruments, wie es die britische Komponistin Delia Derbyshire im BBC Radiophonic Workshop bereits in den 1960ern bewies, als sie aus mehreren Tonbandloops ihre Inventions for Radio (1964)[2] montierte.
eine große Geschichtsvergessenheit
Wie am Anfang des Pop das Tonband seine Schleifen drehte, so bewegen sich heute die Computerprogramme in Schleifen. Wenn man also den Computer nach seiner Herkunft fragt, so wird er wahrscheinlich nicht „geistreich“, sondern vielmehr mit einem unter Wiederholung aller bekannten Stereotype synthetisierten Text antworten. Dahinter steht eine große Geschichtsvergessenheit, denn am Loop und der Maschine werden Konzepte wie Geschichtlichkeit und Provenienz scheitern. Das macht Konzepte wie die Künstlerpersönlichkeit oder eine Maschinenpersönlichkeit für den Computer unmöglich. Denn es gibt keine Biografie im ewigen Weiter. Der einzige Traditionsbezug sind die Fetzen aus der Vergangenheit, die als Loop endlos wiederholt werden. Die ultimative Steigerung ist der endlose Loop im Techno, der das Hier und Jetzt ewig verlängern will und der, als erste Kunstform, ohne Künstler*innen auskommt. „Maschinenmusik“, so schreibt es Diedrich Diederichsen, „machte es zum ersten Mal möglich, sich eine Kunst vorzustellen, die ohne menschliche Urheber auskommt.“[3] Ohne Bezug zur kunstschaffenden Person, ohne die Dualität von deren Leib und Seele: „Man hört nicht einen Körper, der auch anders könnte, sondern eine Maschine, die nur so kann.“[4]
Theologie fürchtet sich … vor der geschichts- und zukunftslosen, reinen Gegenwart.
Hierin liegen Schönheit und Gefahr für die Theologie. Theologie fürchtet sich aus der Tradition des Christentums heraus vor der geschichts- und zukunftslosen, reinen Gegenwart, aber sie lässt sich als akademische Disziplin wunderbar einreihen in die Loop-Produktion. Denn fragt man, was praktische Theolog*innen eigentlich „machen“, was ihre Praxis ist, dann wird man sie an der Maschine, dem Computer, in einer perfekten Symbiose finden. Alles, was sie zu sagen haben – und auch was sie von ihren Praxis- oder Interviewpartner*innen erfahren, existiert zuerst im von der Wissenschaft präferierten Medium der Schrift[5] und damit heute direkt digitaler Form. Und auch die Gedanken derjenigen, denen sie*er in ihrem*seinem Studium zugehört hat, liegen maschinenlesbar vor. Der nächste Schritt wäre, wenn das Ich der*des Theolog*in einfach verschwindet und ihr*sein akademisches Weiterleben einer KI überließe. Wird sie nicht ebenso geistreich oder banal wie die Wissenschaftler*innen auf die Herausforderungen der Gegenwart und die Fragen der Studierenden antworten?
ohne Angst vor dem Untergang, aber auch ohne Hoffnung auf die Rettung
Vom Einzelnen auf die Institution gefragt: Wäre es so schlecht, jetzt, da die Kirche aus der Mitte der Gesellschaft verschwindet, sie ebenso ins Digitale zu retten wie die Theolog*innen? So, wie es der Außenminister der Inselgruppe Tuvalu, Simon Kofe, plant. Bevor seine Heimat in einigen Jahrzehnten unter dem steigenden Meeresspiegel verschwindet, stellt er Scans der Topografie, aber auch Geschichten und Kochrezepte ins Netz. Wer später seine Heimat verliert, kann sie so wiederfinden. Und was wäre alles möglich, wenn der Algorithmus die Geschichte von Tuvalu fortschreibt, wenn die ehemaligen terrestrischen Bewohner*innen in dieser virtuellen Gegenwart Urlaub machen könnten, in einem Paradies ohne ökologischen Sündenfall ohne Angst vor dem Untergang, aber auch ohne Hoffnung auf die Rettung davon. Es schaudert Theolog*innen angesichts dieser Zukunft fasziniert. Denn es schwingt nicht nur Nietzsches Übermensch mit, sondern auch die radikale Abkehr von aller Verletzlichkeit und Vergänglichkeit als Signum des Menschlichen. Im Kern aber ist diese Form der Wiederholung defizitär. Denn sie verschleiert, dass auch im banalsten Popsong sich der Mensch sucht, zu sich selbst kommen möchte. Bevor mich etwas wiederholt, muss ich mich nicht selbst erst wieder holen?
deren schwermutvolle Schönheit
Als Walter Benjamin von der Kunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit schrieb, bezog er sich zwar auf das visuelle Medium Fotografie, der Effekt ist aber der gleiche wie in der Popmusik. Eine maschinelle, serielle Reproduktion, der es gleich ist, woher das Reproduzierte stammt und woraufhin es existiert. Aber im Medium der Fotografie entdeckt Benjamin dann doch etwas, das sich dem widersetzt. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Fotografien zum letzten Mal eine Aura. Das macht deren schwermutvolle Schönheit aus. Benjamins Beschreibung lässt sich am besten auf die Daguerreotypie übertragen. Ein fotografisches Verfahren, bei dem eine mit Silber bedampfte Platte als Bildträger fungiert.
Wie kleine Spiegel wirken die Daguerreotypie-Portraits. Vor Tageslicht geschützt in kostbaren Einbänden ist die Betrachtung eine kultische Angelegenheit. Sie ist die Begegnung mit dem Objekt und der dargestellten Person. Aber sie ist kein bloßes Erinnern, sondern „Wieder Holung“ in einem vom Loop unterschiedenen Sinne. Wer die Daguerreotypie anblickt, erinnert sich nicht, sie*er „konfrontiert“ sich mit der Vergangenheit. Wer betrachtet sieht nicht nur den anderen Menschen, sondern auch sich selbst. Die Wiederholung der Vergangenheit im Medium des photographischen Portraits auf der Silberplatte ist damit ein zu sich selbst Kommen des Menschen, der sie betrachtet.
Man ist in einer Schwebe gehalten.
Stellt man sich dazu einen üblichen Verwendungsfall für die Daguerreotypie vor, wäre es beispielsweise das Portrait eines geliebten aber schon verstorbenen Menschen, das stets bei sich getragen wird. Wer es betrachtet, trauert im ersten Augenblick der Vergangenheit hinterher, im zweiten aber sieht sie*er sich selbst als in die Gegenwart gestellter Mensch, der sein Dasein annimmt, ohne in Nostalgie oder Utopie zu flüchten. Denn das Portrait mag die Erinnerung und die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Paradies wecken, das Spiegelbild des eigenen Gesichts aber bindet ganz in die Gegenwart. Man ist in einer Schwebe gehalten zwischen der Präsenz des Vergangenen und dem eigenen Präsens. Denn es heißt jetzt Mensch zu sein.
Wieder Holung in diesem Sinne meint, sich selbst und zugleich das Vergangene fragmentarisch im Spiegel zu erblicken.
Hierin liegt eine Brücke zwischen dem Wiederspiegeln und dem theologischen Arbeiten. Es ist die Aufgabe das Vergangene so präsent zu machen, dass in der Begegnung etwas radikal Neues in der Gegenwart geschehen kann. Theologie hat die Aufgabe, dieses Gehaltensein zwischen Vergangenheit und Zukunft zur Sprache zu bringen. Nicht als nostalgische Historie, sondern als Modus des Lebens in der Gegenwart. Wieder Holung in diesem Sinne meint, sich selbst und zugleich das Vergangene fragmentarisch im Spiegel zu erblicken. Und sich dadurch wieder neu zu entdecken, sich wiederzugewinnen, sich wieder zu holen. Dieses Wiederholen zu ermöglichen ist eine Aufgabe theologischer Persönlichkeitsbildung, nämlich sich als handlungs- und Einspruch-mächtig im Angesicht dessen, was war, zu erfahren. Der Maschine Pop wie überhaupt der Digitalkultur ist die Vergangenheit egal, der Maschine Kirche ist sie zur Last oder zum Fetisch geworden, der Pastoraltheologie muss die Vergangenheit, um der Zukunft willen, etwas anderes werden. Keine Wiederholung, sondern eine wiederständige, interventionistische Wider-Holung.
Christian Preidel, Dr. theol., ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Luzern.
Er forscht dort zu Raum und Innovation.
Beitragsbild: Ingo Schulz auf Unsplash
Hier findet sich ein Bericht von Stephanie Bayer über die Antrittsvorlesung.
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[1] Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik, Köln 2014, 245.
[2] David Butler, Delia Derbyshire, in: https://www.bbc.com/historyofthebbc/100-voices/pioneering-women/women-of-the-workshop/delia-derbyshire (2.2.2024).
[3] Diederichsen, Pop-Musik, 334.
[4] Ebd., 337.
[5] Vgl. bespw. Paul Ricœur, The Model of the Text. Meaningful Action Considered As a Text, in: Social Research, 51 (1984), 185-218.