Von ‚Nichts Neues unter der Sonne‘ bis ‚Revolution‘: Es ist offen, was die zu Pfingsten in Kraft tretende Kurienreform tatsächlich bringen wird. Von Oliver Lahl, Rom.
Papst Franziskus hat 2013 kurz nach seiner Wahl einen Kardinalsrat einberufen, der mit ihm zusammen eine Kurienreform erarbeiten sollte. Alle Kontinente waren vertreten – jedenfalls bis der Missbrauchsskandal zu einem Schrumpfungsprozess führte. Neun Jahre wurde beraten. Schon lange wartete man auf die Veröffentlichung. Als diese am 19. März erfolgte, waren dann dennoch alle überrascht. Niemand rechnete (mehr) mit dem Text Praedicate Evangelium. Keine vorherige Ankündigung, keine begleitende Pressekonferenz, nicht einmal Übersetzungen in andere Sprachen lagen vor. Tippfehler und Zählfehler sind genauso enthalten wie sprachliche Ungenauigkeiten. Der Papst hatte es wohl eilig und wollte nicht mehr warten. Über die Hintergründe dafür kann man nur spekulieren.
Lange erwartet, und doch überraschend
Zwei Vorbemerkungen zur Apostolischen Konstitution: In fast 500 Jahren ist dies erst die fünfte Fassung einer Kurien-„Verfassung“. Die erste kam nach Reformation und Konzil von Trient 1588, die zweite nach dem Fall des Kirchenstaates und der Neuordnung der Welt 1908, die beiden folgenden schnell nacheinander nach dem Vaticanum II 1967 und 1988. Zweitens: Eine ganze Reihe des aktuellen Führungspersonals der Kurie ist schon über das Alter hinaus, in dem der Ruhestand eingereicht wird, und noch viel mehr stehen kurz vor dem Erreichen der Altersgrenze.
Die grundsätzliche Struktur der römischen Kurie ist seit der ersten Verfassung des 16. Jahrhunderts gleichgeblieben. Es gibt nach wie vor feste Kurienbehörden, die thematisch gegliedert sind. Natürlich kamen neue Herausforderungen, Themen und Aufgaben hinzu, aber der wesentliche Gliederungsaspekt ist das ‚Fachministerium‘.
‚Nichts Neues unter der Sonne‘?
Die Internationalisierung der Kurie hält zudem nicht mit der Globalisierung der katholischen Kirche mit. Sie ist heute auf allen Kontinenten vertreten und die Länder Europas stellen dabei seit langem nicht mehr die Mehrheit der Gläubigen. Die Expertise kultureller, historischer, religiöser und sonstiger Vielfalt spiegelt sich nicht in den Leitungsämtern der Kurie wider. Noch weniger ist ein regelmäßiger Austausch vorgesehen oder praktisch möglich. Die ad limina-Besuche der Bischofskonferenzen sind hierbei ein wichtiger Faktor – im jetzigen Ablauf aber kein geeignetes Instrument. Die vielfältige Stimme der Weltkirche verhallt zu oft ungehört, Einzelstimmen haben ein großes Gewicht. Beachtenswert auch: Das Gremium, das die Reform erarbeitet hat, kommt im Organigramm nicht mehr vor.
Die Reform ist veröffentlicht, das Gremium hat seine Arbeit getan – weitere Reformen oder ein kollegialer Austausch von Ideen und Problemen aus dem orbis der Kirche mit dem Papst sind nicht mehr vorgesehen. Der Papst (und die Kurie?) entscheiden wieder – alleine. Die Einteilung in verschiedene Dikasterien, also Amtsstuben ohne ausreichende Kommunikation zwischen den Behörden, führt zu nicht-kommunizierenden Röhren, die noch weniger im Austausch stehen als vorher, als die Kurie ein stärker pyramidal angeordnetes System war.
Eine ‚Revolution‘?
Die Konstitution möchte eine Haltungsänderung der Kurie erreichen. Sie soll Vermittlungsinstanz zwischen Papst und Bischöfen, zwischen Welt- und Ortskirche sein, Knotenpunkt der Kommunikation und nicht Brandmauer, welche die verschiedenen Felder trennt oder Aufsicht über die Bischöfe und Ortskirchen ausübt.
Die verschiedenen Kurieneinrichtungen sind zukünftig alle gleichwertig – alleine, dass das neu zugeschnittene Dikasterium für Evangelisierung vom Papst selbst geleitet wird, bringt eine leichte Schieflage. In den ersten Jahrhunderten der Kurie war die Glaubenskongregation an der Spitze, Paul VI setzte das Staatssekretariat an diese Stelle und überließ, wie seine Nachfolger, der Glaubenskongregation eine Querschnittsfunktion. Die erste Sektion des Staatssekretariats war damit die Koordinierungsstelle der Kurie und konnte somit Prioritäten und Posterioritäten bestimmen, Prozesse be- und entschleunigen. Zukünftig ist die erste Sektion des Staatssekretariats nicht mehr Herrin des Geschehens in der Kurie, sondern Sekretariat des Papstes. Die zweite Abteilung für die internationalen Beziehungen bleibt weitgehend unberührt von der Reform.
Leitungsaufgaben für ‚Laien‘
Am meisten Aufsehen erregte die Möglichkeit, dass nun auch Laien Leitungsaufgaben übernehmen können – Männer UND Frauen. Dies war bisher nicht möglich, da man das Kirchenrecht dahingehend interpretierte, dass Weihe und Leitung untrennbar verbunden sind. Papst Franziskus wendet hier einen Kunstkniff an und leitet das Leitungsamt nicht von der Weihe ab, sondern von einer Beauftragung durch ihn. Die Leiter (und Leiterinnen) der Kurienbehörden arbeiten nicht auf eigenen Titel und durch eigene Autorität, sondern nur in direkter Hinordnung auf den Papst.
Dass erst mit der Öffnung der Kurie für Laien der Begriff ‚Kompetenz‘ ins Spiel kommt, mag man erst einmal nicht überbewerten. Die Öffnung auf weltkirchlicher Ebene wird dabei ohne Zweifel auch auf die lokale Ebene durchschlagen: Wenn auf weltkirchlicher Ebene Delegation von Leitung auf Laien möglich ist, einschließlich – theoretisch – einer Staatssekretärin, dann gibt es keinen Grund mehr, warum dies auf ortskirchlicher Ebene in der Diözesanleitung nicht auch möglich sein soll (und vielerorts ja auch schon erfolgreich getan wird).
Zwei Prinzipien stehen in Konkurrenz und niemand weiß, welche Seite gewinnen wird. Die Seite ‚Was Kleriker angeht, kann nur von Klerikern behandelt werden‘ – oder die Seite ‚Was alle angeht, muss auch von allen behandelt werden‘. Die Frage, was die Öffnung für Laien bedeutet, wird sich also erst entscheiden mit den Ernennungen der kommenden Monate – und zwar auf der Leitungsebene, genauso aber auch auf der zweiten und dritten Ebene, die nicht weniger Einfluss aufs Tagesgeschäft haben. Wie erwähnt, steht eine ganze Reihe von Positionen in den kommenden Monaten zur Entscheidung an. Die Namen, die dann auf den Ernennungslisten stehen, werden die Richtung erkennen lassen, in die Papst Franziskus gehen will. Jedenfalls hat er sich mit der prinzipiellen Möglichkeit, Laien zu berufen, einem gewissen Erwartungsdruck ausgesetzt.
Dezentralisierung?
Die Kurienreform soll, so ist im Text zu lesen, auch zu einer Dezentralisierung führen durch die Übertragung von Kompetenzen auf nationale und regionale Bischofskonferenzen. Hier wird spannend sein zu beobachten, wie sich die Statuten der Bischofskonferenzen entwickeln werden und welche Möglichkeiten ‚Rom‘ hier zukünftig zulässt. Denn bisher waren starke und handlungsfähige Bischofskonferenzen eigentlich nicht gewollt und Mehrheitsentscheidungen werden auch vom aktuellen Papst eigentlich abgelehnt.
Von Vaticanum I und II an und die Jahre seither ist es nicht gelungen, eine allgemein anerkannte Balance zu finden zwischen Primat des Papstes und Kollegium der Bischöfe, zwischen Welt- und Ortskirche, zwischen Charisma und Amt – in dieses ungeklärte Feld rutscht die Kurie. In diese bis heute theologisch unklare Situation gehört auch die Frage: Ist die Beteiligung der Laien an der Leitung der Kirche eine Delegation durch geweihten Amtsträger oder nicht vielmehr eine Beteiligung durch Teilhabe am Priestertum Christi durch die Taufe und zwar in allen drei Grunddiensten der Kirche?
Die Ernennung von Leitungsämtern und Referenten auf fünf Jahre und die nur in begründeten Ausnahmefällen mögliche Verlängerung um ein weiteres Mandat sollen einen stärkeren Austausch von ortskirchlichen Erfahrungen in der Kurie und weltkirchlichen Erfahrungen in der Ortskirche ermöglichen und reinen Kurienkarrieren einen Riegel vorschieben. Die sprachliche Ungenauigkeit des Textes lässt aber auch eine beliebige Zahl von Verlängerungen zu.
Ein paar fehlende Buchstaben
Ein paar fehlende Buchstaben sind die vielleicht größte Revolution. In Kapitel 3, Artikel 33 spricht die Konstitution vom Generalsekretariat der Synode. Ein paar Tage später wurde bei der Vorstellung des Textes explizit unterstrichen, dass es KEIN Schreibfehler sei, sondern die Konkretisierung Bischofs-Synode absichtlich entfallen sei. Das Synodenbüro ist kein Teil der Kurie – für viele wahrscheinlich überraschend. Aber das war schon immer so. Von daher beschäftigt sich das Dokument nicht ausführlich mit dem Synodensekretariat. Aber die enge Zusammenarbeit, die angemahnt wird, und das fehlende Wort ‚Bischof‘ lassen hier noch einige Entwicklungen erwarten.
Papst Franziskus bleibt sich treu. Er hat gewisse innere Widerstände, was Strukturen angeht, und möchte lieber Prozesse in Gang setzen. Dabei bleibt es nicht aus, dass in bestimmten Teilen der Weltkirche der Prozess schon vorangeschritten ist, die dann festgestellten neuen Strukturen daher als nicht ausreichend betrachtet werden.
Prozesse und Strukturen
In anderen Teilen der Weltkirche werden die gleichen Strukturen als utopisch abgelehnt und bekämpft. Für den Bereich der Leserschaft dieser Zeilen steht und fällt die Kurienreform mit der tatsächlichen Umsetzung und der Besetzung der frei werdenden Stellen.
Die Pressemeldungen des Pressesaals werden so zur täglichen Wundertüte – was steckt wohl heute in der bunten Verpackung? Wie sagt Forrest Gump im gleichnamigen Film: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen; man weiß nie, was man bekommt.
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Msgr. Oliver Lahl ist Geistlicher Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl. Er war zudem langjähriger Mitarbeiter des Kurienkardinals Walter Kasper.
Hilfreiche Hinweise und weitere Vertiefungen bei:
Robert Mickens, The next phase of Vatican reform will be crucial: https://international.la-croix.com/news/letter-from-rome/the-next-phase-of-vatican-reform-will-be-crucial/15857
Massimo Faggioli, Curia reform: something old and something new… and what’s yet to come: https://international.la-croix.com/news/signs-of-the-times/curia-reform-something-old-and-something-new-and-whats-yet-to-come/15869
Jesùs Martínez Gordo, Praedicate Evangelium e l’infarto teologico del Vaticano II: http://www.settimananews.it/diritto/praedicate-evangelium-infarto-teologico-vaticano-2/