Eine politische Würdigung von Martin Ott, Potterhanworth / UK.
Am 8. September 2022 starb Elisabeth II, Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie von 14 weiteren, als Commonwealth Realms bezeichneten souveränen Staaten. Das Königsamt ging sofort auf ihren ältesten Sohn über, der nun unter dem Titel Charles III regieren wird.
Bis zum Tod dem Volk dienen
Das weltweite Echo auf ihren Tod überrascht nicht. In unseren schnelllebigen Zeiten war sie zu einem Symbol der Stabilität geworden: Allein im Vereinigten Königreich hat sie seit dem Jahr 1952 15 Premier Minister kommen und gehen sehen – von Winston Churchill bis Liz Truss. Der englische Humor kann nicht anders, als die Besuche von Johnson und Truss beim Amtswechsel zwei Tage vor ihrem Tod als ursächlich für ihr Ableben zu sehen („That’s what gave her the rest“). Aber auch moralisch: Sie hat nicht leichtfertig Prinzipien und Werte über den Haufen geworfen, eine Tugend, die ihr beim Tod Dianas fast ihre Popularität gekostet hatte. Besonders das im Alter von 25 Jahren gegebene und nicht gebrochene Versprechen „ihrem Volk bis zum Tod zu dienen“ wird wohl die Erinnerung an sie prägen.
Ihre Persönlichkeit und ihre Stellung in der Weltgeschichte werden an anderer Stelle gewürdigt werden. So kurz nach ihrem Tod will ich auf einen Aspekt hinweisen, den theologische und politische Leser gleichermaßen interessieren könnte. Elisabeth starb im Alter von 96 Jahren; wegen ihrer nachlassenden Gesundheit hatte sie im vergangenen Jahrzehnt immer mehr öffentliche Verpflichtungen an andere Mitglieder der königlichen Familie übertragen, an Amtsverzicht dachte sie aber nie.
Königin von Gottes Gnaden
Das hatte zum einen mit dem für sie traumatischen Amtsverzicht ihres Onkels Edwards VIII im Jahre 1936 zu tun, der ihren Vater zum König und letztlich auch sie zur Königin machte (und sie ihres Vaters und ihres Privatlebens beraubte), sondern auch mit ihrer Überzeugung, dass sie letztlich von Gott für dieses Amt erwählt wurde, dass sie Königin von Gottes Gnaden ist, wie das auch in den 39 Glaubensgrundsätzen der Anglikanischen Kirche („Thirty-Nine Articles“) aus dem Jahre 1562 festgehalten ist. Dort heißt es vom englischen Monarchen: „Being by God’s Ordinance, according to Our just Title, Defender of the Faith and Supreme Governor of the Church.”
Am 28. Februar 2013 ereilte die Königin eine Nachricht, die ihr wahrscheinlich gar nicht gefallen hat: Papst Benedikt XVI erklärte seinen Rücktritt vom Stuhle Petri. Der Bayer war im Jahr 1927 geboren und ein Jahr jünger als sie. Er hatte etwas getan, was ihrem Glaubens- und Amtsverständnis theologisch zuwiderlief. Ein von Gott ins Amt Gerufener hatte das Handtuch geworden! Auch in royalistischen Kreisen war in den letzten Jahren zunehmend ein Amtsverzicht vorsichtig und indirekt ins Spiel gebracht: „I think Charles should not wait such a long time before he takes over“; aber Elisabeth war eisern: Was Gott inthronisiert hat, kann der Mensch nicht beenden. Diese zutiefst religiöse Position stand für Elisabeth nicht zur Diskussion.
Eine eher durchwachsene dynastische Tradition
Gegen die Kontrastfiguren einer eher durchwachsenen Königstradition, von Heinrich VIII zu Mary Queen of Scots, von James II bis zu George IV, bis hin zu den Scheidungen, Skandalen und Zerwürfnissen ihres verstorbenen Mannes, ihrer eigenen Kinder und Enkelkinder steht Elisabeth für eine moralische Integrität, die selbst den Gegnern und Antiroyalisten Respekt abfordert. Es ist eine außerzeitliche, fast überzeitliche Autorität, auf die die Menschen ihre Bedürfnisse nach Orientierung, moralischer Klarheit und Führung projizieren.
Elisabeth’s Perzeption als moralische Lichtfigur wurde in den letzten Jahren durch einen nie dagewesenen Verfall der politischen Kultur im Königreich befördert. Die Amtsenthebung Boris Johnsons ist unmittelbare Vergangenheit. Sein radikales Ersetzen von Politik durch Taktik, von Programm durch Propaganda hat die ehemals vorbildhafte Demokratie auf der Insel in eine tiefe Krise gestürzt, die Reihen anständiger Politiker und Politikerinnen in Whitehall gelichtet.
Verfall der politischen Kultur
Johnson, den Kommentatoren „a moral void“ (eine moralische Leerstelle) nannten, stolperte nicht über seine politischen Fehler (wie Brexit oder das Management der Covid-Pandemie), sondern über seine Lügen. So sehr Elisabeth und Johnson als diametrale Gegensätze scheinen, die Faszination über den Populisten Johnson und über die Lichtfigur Elisabeth wachsen doch auf demselben politischen Boden.
In ihrem Buch „Twilight of Democracy. The Failure of politics and the Parting of Friends“ geht die amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum der Frage nach, warum sich Angehörige konservativer Bildungseliten früherer Mitte-rechts-Parteien ins Autoritäre gewandelt haben, woher denn die „Verlockung der Autoritären“ kommt. An vielen Beispielen – von Boris Johnson über das Polen Kaczynskis und die spanischen Nationalisten bis zur Corona-Diktatur in Ungarn – zeigt sie, welche Bedeutung dabei soziale Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie haben, welche materiellen Interessen ins Spiel kommen und wie nicht zuletzt Elitenbashing und Aufstiegsverheißungen die Energien der vermeintlich Unterprivilegierten befeuern.
Ihr Blick auf Boris Johnson, den sie seit Jahren kennt, ist präzise und zutiefst beunruhigend: Ein fröhlich-elitärer Hallodri, der bereits als Journalist und EU-Korrespondent Freude an elaborierten Fake News gefunden hatte und späterhin aus purer Eitelkeit zum eloquentesten Befürworter des desaströsen Brexit wurde. Politik als hochgebildeter Unernst und als Travestie des Staatsmännischen, wäre da nicht auf erschreckende Weise deutlich, wie sich Menschen nach einer öffentlichen Autorität jenseits demokratischer und moralischer Spielregeln (zurück)sehnen.
Sehnsucht nach Identität mit Führungsfigur
Der Hype um Elisabeth ist – so meine These – die andere Spielart dieser Sehnsucht der von Demokratie ermüdeten Masse nach Identität mit einer Führungsfigur, die über dem Kleinklein tagespolitischer und demokratischer Spielregeln steht. Elisabeth ist sozusagen die harmlose Variante einer „autoritären Veranlagung“, zu der sich Menschen hingezogen fühlen, weil sie keine Lust auf Komplexität und Pluralität haben – und sich Einigkeit und Harmonie statt Kontroverse und Auseinandersetzung wünschen. In der jüngsten Geschichte Großbritanniens wurde diese autoritäre Veranlagung nun zweimal wachgerufen: durch die alternde Königin Elisabeth und durch den Hofnarren Johnson.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die neuen Projektionsfiguren an der Spitze des Landes positionieren. Die ersten Entscheidungen von Liz Truss deuten drauf hin, dass sie den populistischen Kurs ihres Vorgängers fortsetzen wird. König Charles III hat in seiner ersten Rede an die Nation einen guten Ton getroffen, aber für die strukturellen Änderungen, die das Königreich braucht, hat er keine Macht. Er ist wie seine Mutter eine bloße Repräsentionsfigur und abhängig von den Projektionen und Gefühlen seiner Landsleute.
Die Baustellen der englischen Politik
Die großen Baustellen der englischen Politik werden weder vom König noch von der Premierministerin angegangen: das Fehlen einer Verfassung inklusive einer konstruktiven politischen Rolle des Monarchen als Staatsoberhaupt in einer modernen Demokratie, die schwindende Identität und Bedeutung der Union und des Commonwealth, das kollabierende Gesundheitssystem, die regionale wirtschaftliche Ungleichheit, die „wahren“ Folgen des Brexit für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und das immer noch tief verwurzelte Klassensystem.
Die Church of England ist praktisch am Ende: Nur 2 % der Gesamtbevölkerung Englands sind regelmäßige Kirchgänger. In einem Viertel seiner etwa 16.000 Kirchen besuchen an einem Sonntag weniger als 20 Gottesdienstbesucher und-besucherinnen den Gottesdienst – in ländlichen Gebieten sogar weniger als 10. Es fehlen Pastoren und Pastorinnen für die Gemeinden und Geld zum Unterhalt der Gebäude. Weltweit ist die anglikanische Gemeinschaft wegen unüberbrückbarer theologischer Unterschiede vor allem in Bezug auf Homosexualität und die Ordination von Frauen am Rande der Kirchenspaltung.
Die Krise der Church of England
Der neue König ist zwar formal „Defender of the Faith and Supreme Governor of the Church”, hat aber keine Macht, Einfluss zu nehmen. Bereits im Jahre 2008 hatte Charles angekündigt, seine Rolle in der sich veränderten interreligiösen Realität des Landes durch den Namen „Defender of Faith“ zu ersetzen – durch die Weglassung des Artikels werde die Monopolisierung der anglikanischen Kirche unterbrochen. Es bleibt abzuwarten, ob andere christliche und nicht-christliche Glaubensgemeinschafen diese Rolle überhaupt akzeptieren oder den König in dieser Rolle einfordern.
Defender of Faith
Aber soviel ist klar: Im säkularisierten Großbritannien würde es (fast) niemand dem neuen König abnehmen, wenn er in seiner Thronbesteigung den Willen Gottes am Werke sähe und sich Charles III „von Gottes Gnaden“ nennen würde. Die Fundamente der „Thirty-Nine Articles“ der anglikanischen Kirche aus dem Jahr 1562 werden sich unter Charles III endgültig als überholt erweisen. Seine Akzeptanz und die seiner populistischen Premierministerin werden zu einem hohen Maße von der Laune einer durch die Presse manipulierten Öffentlichkeit abhängen. Nur persönliche Moralität und Integrität können da helfen – und deswegen war Elisabeth II ein Vorbild und eine gute Königin.
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Autor: Dr. Martin Ott, Potterhanworth/Lincolnshire, UK, Jahrgang 1957, Religionswissenschaftler und Ethnologe, arbeitet als Politikberater und ist Lehrauftragter an der University Lincoln/UK.