Es ist etwas in Bewegung gekommen beim Synodalen Weg, das spüren viele. Aber wie kann man es präzise beschreiben? Sebastian Dietz erkennt einen veränderten Rahmen von Machtausübung.
Der Donnerstagabend der vierten Synodalversammlung war eine Krise – mindestens für den Synodalen Weg, aber möglicherweise darüber hinaus. Als Kipppunkte eines Systems sind Krisen entscheidend für die weitere Entwicklung. Es lohnt sich darum, genau hinzuschauen, was genau sich im Kern einer Krise befindet und welche Entwicklungsmöglichkeiten sie bietet. Bezogen auf den Umgang der Synodalversammlung mit dem Eklat um die Abstimmung zum Grundtext des Forums „Leben in gelingenden Beziehungen“ und die Stellungnahmen, die seitdem öffentlich geworden sind, gibt es gute Argumente, diese Krise in einer bestimmten Hinsicht als wesentlichen Erfolg zu verstehen.
Krisen können eine Bedingung für gutes Gelingen sein
Auslöser war bekanntlich die Schlussabstimmung zum Grundtext „Leben in gelingenden Beziehungen – Grundlinien einer erneuerten Sexualethik“. Während er in der Synodalversammlung als Ganzer eine Mehrheit von etwa 83 % erreichte, stimmten unter den Bischöfen nur 61 % dafür – und damit weniger als die notwendige Zweidrittelmehrheit. Die Versammlung wurde unterbrochen; Personen haben aus Protest- und/oder Selbstschutzgründen den Raum verlassen. In der anschließenden Aussprache wurde deutlich: Die Krise dreht sich nicht nur um die Ablehnung des Textes und seiner Aussagen als solche, sondern auch darum, dass von den 21 Nein-Stimmen unter den Bischöfen kaum jemand Argumente ins Wort gebracht habe, obwohl dazu bei der öffentlichen Diskussion als auch bei Hearings im Vorfeld Gelegenheit bestanden hätte.
Der Synodale Weg wurde ins Leben gerufen, um dem Machtmissbrauch Herr zu werden, der sich insbesondere im sexuellen Missbrauch und dem Umgang damit nicht mehr leugnen ließ. Das ist schließlich der Grund, weshalb der Synodale Weg inhaltlich durchweg Themen der Macht behandelt. Dabei ist er aber auch selbst notwendigerweise ein machtvoller Prozess, denn er erhebt den Anspruch, geltende Beschlüsse zu treffen.
Der Synodale Weg hat „noumenale“ Macht
Macht darf hier allerdings nicht vorschnell mit Herrschaft gleichgesetzt werden. Es stimmt, dass die Beschlüsse des Synodalen Weges aus sich heraus keinerlei Rechtswirkung entfalten, sodass er insgesamt keine verbindlichen Beschlüsse fassen kann. Der Modus der Geltungsansprüche des Synodalen Weges ist ein anderer, und er erstreckt sich darum nicht ausschließlich auf die entsprechend der Satzung zustande gekommenen Beschlüsse.
Um das auszufalten, möchte ich auf die Theorie des Sozialphilosophen Rainer Forst rekurrieren. Er versteht den Menschen als ein vernünftiges Wesen, das aus Gründen handelt, über die er Rechenschaft ablegen kann. Innerhalb einer Gesellschaft bildet sich schließlich ein Set an Gründen heraus, die als rechtfertigend anerkannt werden: eine Rechtfertigungsordnung. Im Rahmen dessen bedeutet Macht, den Raum der Gründe eines anderen Subjekts so zu verändern, dass es etwas tut oder denkt, was es ansonsten nicht getan oder gedacht hätte – Macht ist in diesem Sinne „noumenal“, weil sie auf das Denken einwirkt.[i]
Was wird in einer Gemeinschaft als „rechtfertigender“ Grund anerkannt?
Die ablehnende Minderheit der Bischöfe hat von ihrem satzungsmäßigen Recht Gebrauch gemacht, Beschlüsse durch ihre Sperrminorität zu verhindern. Dass sie das jedoch überwiegend stillschweigend (und darüber hinaus anonym) getan hat, bedeutet, dass sie eben keinen rechtfertigenden Grund für ihr Handeln vorgebracht haben. Hans-Joachim Sander spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „Machtkrampf“.[ii] Der rechtfertigende Grund für ihr Handeln wird performativ vorgebracht und besteht in ihrer Legitimität als Inhaber des Bischofsamtes.
Im weiteren Verlauf der Synodalversammlung wird jedoch an mehreren Begebenheiten deutlich, dass dieser Grund nicht als hinreichend akzeptiert wird: Die Synodalversammlung als Ganze macht dies deutlich, indem sie bei allen folgenden Schlussabstimmungen beschließt, namentlich abzustimmen. Das ermöglicht, Einzelne auf ihr Abstimmungsverhalten anzusprechen und eine Begründung einzufordern. Dem zaghaften Verweis darauf, dass dies dann kein „safe space“ für die Bischöfe mehr sei, wird damit für den Kontext der Beschlussfassungen eine Absage erteilt. Wenn Medien im Nachgang der Versammlung in Interviews mit Bischöfen nachdrücklich konkrete Argumente einfordern,[iii] erweitern sie die Frage nach den Gründen damit auch über die Synodalaula hinaus. Aber auch bei den Bischöfen selbst wird ein verändertes Verhalten sichtbar: Viele von ihnen veröffentlichen Videos und Statements, in denen sie ihr Abstimmungsverhalten erklären. Und während zum Grundtext „Leben in gelingenden Beziehungen“ lediglich sieben Bischöfe gesprochen haben, melden sich tags darauf zum Grundtext „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“ bereits 27 zu Wort.
Eine neue Rechtfertigungsordnung: allein ein Amt innezuhaben genügt nicht mehr
Kurzum: Es ist gelungen, die Rechtfertigungsordnung im Synodalen Weg zu verschieben. Rein formale Verweise auf satzungsmäßige Rechte oder das eigene Rollenverständnis als Bischof können nicht mehr einzelne Entscheidungen rechtfertigen, sondern es werden mit der Sache betraute Argumente verlangt. Mehr noch: Lediglich die Legitimität der eigenen Position als rechtfertigenden Grund anzuführen führt vielmehr dazu, dass diese selbst an Anerkennung verliert.
Damit ist ein Erfolg im Sinne des Anliegens des Synodalen Wegs erreicht, Machtausübung zu kontrollieren. Denn im Unterschied zu einem hoheitlichen Akt, der als Rechtfertigung allein auf die generelle Legitimation des entsprechenden Akteurs (resp. des*der Akteur*in) verweist, ermöglicht die sachlich adäquate Rechtfertigung einen Diskurs, um zu beurteilen, welche Gründe anerkannt werden sollten und welche nicht.
Das ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Kontrolle von Macht
Damit ist weder die rechtlich-strukturelle Position des Diözesanbischofs noch seine Hoheit als Gesetzgeber formell aufgehoben. Allerdings bedeutet es, dass diese hoheitliche Macht nicht gleichzeitig die Hoheit über ihren eigenen normativen und narrativen Rahmen beinhaltet. Dadurch droht einerseits die reale Gefahr, dass das Bischofsamt weiter an Autorität verliert, wenn die Amtsträger hoheitliche Akte außerhalb der veränderten Rechtfertigungsordnung setzen. Es besteht jedoch gleichzeitig die Möglichkeit, Autorität zurückzugewinnen. Das setzt allerdings eine grundsätzlich dialogbereite Form der Machtausübung voraus, die bereit ist, zustimmungsfähige Gründe für ihre Entscheidungen anzugeben, obwohl sie nicht exklusiv bestimmen kann, welche Gründe diesem Kriterium im Einzelnen genügen. Insofern ist die beobachtete Veränderung auch mit der in der Synodalversammlung mehrfach thematisierten Krise des Bischofsamts verbunden.
Mit der Verschiebung der Rechtfertigungsordnung hat die Synodalversammlung also einen wesentlichen, wenn auch vorläufigen und unvollständigen Erfolg erzielt. Vorläufig ist er deshalb, weil er hoch prekär bleibt, solange er nicht strukturell eingeholt und auch abgesichert wird. Als unvollständig muss er vor allem deswegen gelten, weil er nur auf dem Rücken von Menschen möglich war, die durch die Krise am Donnerstagabend ein weiteres Mal verletzt worden sind. Erst, wenn solche Fortschritte auch ohne diesen Preis erreicht werden, kann die Krise wohl wirklich in konstruktiver Weise überwunden werden.
[i] Forst, Rainer, Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 22018, 58-60; 63-69. Forst selbst knüpft das Prädikat „Macht“ darüber hinaus an weitere Bedingungen, die es unmittelbar auf den intersubjektiven Bereich beschränken (vgl. ebd, 71). Das soll hier nicht vertieft diskutiert werden.
[ii] Sander, Hans-Joachim, Abgelehnter Text zur Sexualmoral: Ein bitterer Schlag ins Kontor, URL: https://www.katholisch.de/artikel/40917-abgelehnter-text-zur-sexualmoral-ein-bitterer-schlag-ins-kontor (09.09.2022).
[iii] Vgl. das Interview der Kölnischen Rundschau mit Rolf Steinhäuser, URL: https://www.rundschau-online.de/news/politik/synodaler-weg-warum-koelns-weihbischof-steinhaeuser-ein-papier-zur-sexualethik-ablehnte-39957418 (19.09.2022).
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Sebastian Dietz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nachwuchsgruppe Herrschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Foto: Marco Barnebeck – pixelio.de