Kübra Gümüşay hat mit „Sprache und Sein“ ein hochaktuelles Buch geschrieben – in politischer und in kirchlich-theologischer Hinsicht. Christiane Bundschuh-Schramm über das Benennen und die Utopie des freien Sprechens.
„Sprache und Sein“ ist ein sehr differenziertes, persönliches und berührendes Buch der Journalistin und Autorin Kübra Gümüşay. Das Buch trifft die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage, weshalb es der Spiegeljournalist Nils Minkmar in seiner Rezension mit Ulrich Becks Risikogesellschaft vergleicht.
Die aktuelle Gesellschaft ist von einem Rechtsruck, von rechtsradikalen Anschlägen und von einer Hasswelle erschüttert. Gümüşay führt die Leser*innen an die Wurzelns dieses Hasses, zum Beginn bei der Sprache.
die Sprache als Wurzel des Hasses
Sie zeigt die Macht der Sprache und die Lücken zwischen Sprache und Welt auf, und macht deutlich, dass diese Lücken aus der Verabsolutierung bestimmter Perspektiven entstehen, die andere Perspektiven nicht zulassen.
Es ist ihr eigener Kampf, den sie beschreibt, der politische Kampf, Lücken zu schließen, Stereotypen aufzubrechen, Kategorisierungen zu hinterfragen, dabei von Talkshow zu Talkshow zu reisen und immer wieder zu verteidigen, wie die Muslime denken oder nicht denken, wie die kopftuchtragenden Frauen ticken oder nicht ticken etc., und doch dabei zu scheitern, weil all diese Apologien auf den Grundfehler reagieren, dass es Benennende gibt und Unbenannte und dass den Unbenannten keine Individualität zugestanden wird.
Es gibt Benennende – und Unbenannte.
Und genau dafür kämpft sie in diesem Buch. Für das Privileg der Individualität, das eigentlich ein Menschenrecht ist, aber in der Gesellschaft den Unbenannten abgesprochen wird. Sie „sind eingesperrt in die Definitionen der Benennenden: Die jüdische Frau. Der Schwarze. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter. Sie alle werden im Kollektiv benannt und betrachtet“ (63).
Die Agenda der Rechten kann mit diesem gesellschaftlichen Verfahren wuchern. Sie muss es nur aufgreifen, radikalisieren und instrumentalisieren. Die Populist*innen verschärfen die Kategorisierungen und sorgen dafür, dass sie Eingang finden in den normalen Sprachgebrauch, bis „Gutmensch“ wie Vollidiot klingt und „Flüchtlingswelle“ vollkommen korrekt.
… bis „Gutmensch“ wie Vollidiot klingt und „Flüchtlingswelle“ vollkommen korrekt.
Dabei weiß Kübra Gümüşay natürlich, dass wir ohne Kategorien und Kategorisierungen nicht leben können, es ist der Absolutheitsglaube, wie sie es nennt, „der aus den Kategorien Käfige macht“ (134). Wenn Kategorien verabsolutiert werden, dann haben die betreffenden Individuen keine Chance, ihre Perspektiven einzubringen und sich selber zu benennen.
Aber Kübra Gümüşay bleibt nicht bei der kritischen Analyse stehen. Sie entwirft eine Utopie des freien Sprechens und benennt Kriterien, was freies Sprechen sein könnte. Es wird nicht irgendwann von selbst passieren, sagt sie, sondern wir müssen damit anfangen, wir müssen „Räume öffnen, in denen wir Utopien, so gut es geht, ausprobieren“ (173). Deshalb erzählt sie Beispiele von Frauen und Männern, die sich diesen Raum genommen haben, die sich nicht mehr erklären und auf eine einzige Geschichte festlegen lassen, sondern ihre individuelle Geschichte erzählen, die sie als Individuen sichtbar macht, und eine neue Sprache finden, in der sie ihr Menschsein, ihre Gedanken, ihre Persönlichkeit und ihre Verletzlichkeit ausdrücken: Chimamanda Ngozi Adichie, Gloria Boateng, Kader Abla, Grada Kilomba, Esra Karakaya und mehrere muslimische Freundinnen, deren Namen sie nicht nennt.
Die individuelle Geschichte zu erzählen macht als Individuum sichtbar.
Kübra Gümüşay resümiert: „Freies Sprechen setzt voraus, dass die eigene Existenz, die eigene Menschlichkeit und Existenzberechtigung nicht zur Disposition steht, dass nichts zu verteidigen oder zu beweisen ist. (…) Freies Sprechen bedeutet die Emanzipation von einer Sprache, die uns nicht vorsieht – indem wir sie verändern, anstatt uns zu erklären, indem wir sie anders nutzen, um in ihr zu sein“ (158f). Die Utopie des freien Sprechens ist auch die Utopie einer gerechteren Gesellschaft, in der man sich weder selbst noch andere auf starre Perspektiven festlegt, in der man nicht alles schon weiß, sondern gemeinsam erörtern möchte, wie eine bessere Gesellschaft gehen kann.
Eine katholische Kirchenfrau und Theologin kann das Buch nicht lesen, ohne den eigenen Film mitlaufen zu lassen: Auch in der Kirche gibt es die Benennenden und die Unbenannten. Es gibt die amtlichen Männer, die alles benennen, was in der Kirche gilt, die die kirchliche, die theologische und die liturgische Sprache formen, und es gibt die Frauen, die von diesen Männern kategorisiert werden, nämlich nicht geeignet für das Amt, nicht befugt, die offizielle Theologie und Liturgie zu prägen oder gar zu entscheiden. Ihre individuellen Perspektiven sind nicht gefragt, sie bleiben die katholische Frau, die leider nicht zugelassen werden kann, die keine Enzyklika schreiben und auch sonst nicht für die Kirche sprechen darf.
die amtlichen Männer, die alles benennen
Eine ältere mir bekannte Dame, die am Bodensee wohnt und Priesterin werden wollte, bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, dass die eigentliche Kränkung darin liegt, dass man ihre individuelle Berufung nicht einmal prüfen will. Die Kategorie Frau ist absolut nicht zugelassen, die individuelle Erfahrung bleibt ungesehen und unbenannt. Freies Sprechen – auch in der katholischen Kirche sind wir davon weit entfernt.
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Kübra Gümüşay: Sprache und Sein, Berlin: Hanser 2020.
Dr. Christiane Bundschuh-Schramm ist Referentin für pastorale Grundsatzfragen im Bistum Rottenburg-Stuttgart.
Bild: Hanser Verlag