Das nordatlantische Verteidigungsbündnis NATO (North Atlantic Treaty Organization) wurde am 4. April 1949 gegründet. Zum „jubilieren“ besteht 75 Jahre später kein Anlaß, umso mehr aber zum Nachdenken über die Folgen der starken Betonung des Militärischen angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Axel Heinrich plädiert für kühlen Kopf statt klare Kante.
Russland hat seinen 2014 begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine massiv eskaliert. Als hybrider Krieg begonnen und als solcher letztlich erfolglos, wurde er zu einer umfassenden Invasion mit dem ganzen Spektrum einer modernen Streitmacht ausgeweitet, flankiert durch die Drohung, auch Atomwaffen gegen jene einzusetzen, die sich dem russischen Vorstoß in den Weg stellen.
In der Sicherheitspolitik ist seither nichts mehr so wie zuvor
Dieses Ereignis wirkte wie ein Schock, es löste eine Dynamik aus, die bekanntlich als „Zeitenwende“ bezeichnet wird, gemeint ist: In der Sicherheitspolitik ist seither nichts mehr so wie zuvor.
Die erste Reaktion war, Geschlossenheit an der Seite der Ukraine zu zeigen und dies durch militärische Unterstützung und Sanktionen gegen Russland zu untermauern. Im globalen Maßstab gelang das nicht im gewünschten Umfang, wohl aber im Rahmen der westlichen Welt mit der NATO als zentralem Akteur. Deutschland bekundete umgehend die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine und zur Verstärkung der eigenen Verteidigungsanstrengungen, Umfragen verzeichneten einen deutlichen Anstieg der Zustimmung zur NATO. Als Verteidigungsminister Boris Pistorius im Oktober 2023 vor einer Kriegsgefahr in Europa warnte und davon sprach, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden müsse – womit er neben den militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr eine gesellschaftliche Haltung meinte – löste er zunächst Irritationen aus. Inzwischen drückt das Statement geradezu eine Normalität aus. Mit den zuletzt begonnenen Diskussionen über europäische Atomwaffen, westliche Soldaten in der Ukraine und die Wiedereinführung der Wehrpflicht sind weitere Schritte erfolgt, mit denen sich die deutsche Öffentlichkeit in Richtung einer Militarisierung bewegt.
Die deutsche Öffentlichkeit zum Kriegsschauplatz im Informationskrieg geworden
Im Kontext der hybriden Kriegsführung Russlands betrachtet, bekommt die Militarisierung der Öffentlichkeit eine zweite Bedeutungskomponente. Das aus militärischen Kampfhandlungen, Cyberattacken, Einflussnahme- und Desinformationskampagnen orchestrierte Vorgehen hat die Unterwerfung der Ukraine zum Ziel, richtet sich aber auch gegen deren Unterstützer. Damit ist auch die deutsche Öffentlichkeit zum Kriegsschauplatz im Informationskrieg geworden; auch in diesem Sinn hat eine Militarisierung stattgefunden.
Ein Krieg beginnt längst vor dem ersten Schuss
Dieser Krieg hebt die im Bischofswort „Gerechter Friede“ formulierte Verpflichtung auf „äußerste Anstrengungen, Gewalt zu vermeiden“ , nicht auf, ein Kerngedanke in der Leitperspektive des gerechten Friedens, die im aktuellen Friedenswort der deutschen Bischöfe „Friede diesem Haus“ bestätigt und fortgeschrieben wird. Die Friedensethik erlebt keine Zeitenwende, aber sie steht vor einer besonderen Herausforderung. Sie muss dafür plädieren, alles zu tun, um das Töten und die Zerstörung in der Ukraine möglichst bald zu beenden, um eine Eskalation zu vermeiden und um eine regionale Ordnung anzustreben, die auf lange Sicht Stabilität und Frieden verspricht.
Die doppelte Militarisierung der Öffentlichkeit ruft eine Mahnung der Bischöfe in Erinnerung: „Ein Krieg beginnt nie erst, wenn geschossen wird; … längst vor dem ersten Schuss [hat er] in den Köpfen und Herzen von Menschen begonnen“. In diesem Horizont ist zu fragen: Werden Narrative und Kategorien dominant, in denen die Anwendung militärischer Gewalt vorschnell als angemessen und unausweichlich akzeptiert wird? Kann ein überhitzter Diskurs zu fatalen politischen Entscheidungen führen?
Zunächst: Die Betonung des Militärischen ist durch Russland erzwungen, indem es militärisch und darüber hinaus menschenverachtend agiert, um seine revisionistischen Ordnungsvorstellungen und imperialen Ansprüche durchzusetzen. Sein Angriff erfordert eine militärische Reaktion seitens der Ukraine und eine entsprechende Unterstützung durch die NATO-Staaten. Ein darauf reagierender Diskurs muss Signale der Entschlossenheit senden, muss die nötige Unterstützung für die Ukraine mobilisieren. Ihn als bellizistisch oder militaristisch abzulehnen, wäre schlicht unangebracht. Aber es gibt Bedenken.
Russland wird in Verhandlungen eine Rolle spielen müssen, wenn eine zukünftige regionale Ordnung mehr sein soll als zwischenstaatliche Anarchie
Da ist zum einen die Gefahr, dass sich der Diskurs unter dem Einfluss der bedrückenden Nachrichten und Bilder aus der Ukraine in ein Freund-Feind-Denken hineinsteigert, das keine Grautöne mehr kennt. Es erzeugt einen polarisierenden Loyalitätsdruck und marginalisiert vermittelnde Stimmen, schließlich ist es nur noch ein Schritt zu entmenschlichenden Redeweisen, so wenn russische Soldaten als „Orks“ bezeichnet werden oder in Wladimir Putin ein gefräßiges „Monster“ gesehen wird, das „Appetit“ auf das Baltikum hat. Dies begünstigt nicht nur weitere Eskalationen, ein solches Denken ist überdies sachlich nicht hilfreich, denn Russland wird in Verhandlungen eine Rolle spielen müssen, wenn eine zukünftige regionale Ordnung mehr sein soll als zwischenstaatliche Anarchie. Dass das Vertrauen zwischen den Konfliktparteien auch durch einen Krieg nicht vollends zerrüttet werden darf, gehört zu den basics der Friedensethik.
Auch vor einer Übersteigerung des Selbstbildes innerhalb dieses Schemas ist zu warnen. Die Verwerfung der bisherigen deutschen Russlandpolitik des „Wandels durch Handel“ als naiv und gefährlich war ein Eingeständnis von schwerwiegenden Fehlern, zugleich eine Geste, mit der ein Schlussstrich gezogen und ein ganz neues Deutschland auf die sicherheitspolitische Bühne gestellt werden sollte. So angemessen ein Neuanfang ist – die Übernahme der politischen Haftung vorausgesetzt –, so würde die Verleugnung der historischen Plausibilitäten nicht nur auf eine Dämonisierung Russlands hinauslaufen. Sie würde auch verkennen, dass jene Politik für eine respektable Friedenshoffnung stand und die berechtigte, von vielen sicherheitspolitischen Fachleuten diesseits und jenseits des Atlantiks gestellte Frage aufwirft, ob in den letzten Jahrzehnten wirklich „äußerste Anstrengungen“ für den Frieden unternommen wurden.
Kampf und Konfrontation drohen zum Maß der Interaktion zu werden
Moralisierende Übersteigerungen können als Symptome betrachtet werden, die auf ein anderes Problem hinweisen: Die Militarisierung öffentlichen Sprechens trifft auf den Umstand, dass Kampf und Konfrontation zum Maß der Interaktion zu werden drohen. Schon länger wird davor gewarnt, dass die Öffentlichkeit hochgradig gereizt ist. Zu oft und zu schnell wird mit Drohungen, Einschüchterungen und Skandalisierungen debattiert, Sprechgewalt und sogar physische Gewalt drängen respektvolle Praktiken des Kompromisses und des Dialogs zurück. Vielfach wird propagiert, dass das Streiten die angemessene Form des Meinungsaustauschs ist, der dann allerdings zum Meinungskampf wird. Dass sich dies auf Diskussionen im Kontext der „Zeitenwende“ auswirken kann, zeigt sich besonders dort, wo sie mit einer heroischen und auf Sieg gestimmten Rhetorik geführt wird. „Klare Kante zeigen“ – zum Navigieren in komplizierten Konflikten ist das nicht das richtige. Hierfür sind kooperative Austauschformen unerlässlich.
Militärische Unterstützung ist ohne das Engagement für eine demokratische Interaktionskultur nur die halbe Solidarität
Für die friedensethische Einordnung dieser Tendenz zum Konfrontativen ist ihre Verzahnung mit dem russischen Informationskrieg zu berücksichtigen, die es allerdings noch genauer zu verstehen gilt. Um die Gefühlswelt und den Orientierungsbedarf der Menschen anzugreifen, unterstützt Russland u.a. autoritäre Kräfte und setzt Narrative in Umlauf, die die Ukraine delegitimieren sollen. Zweifel und Ängste werden geschürt, Verunsicherungen werden ausgebeutet. Dieser Angriff auf die Kultur der politischen Debatte verdeutlicht die weltanschauliche Seite des russischen Krieges gegen die liberale und für die autoritäre Gesellschaft, und hier wird deutlich: Die militärische Unterstützung der Ukraine durch die NATO-Staaten, Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit sind ohne das Engagement für eine demokratische Interaktionskultur nur die halbe Solidarität. Die ernsthafte Besinnung auf die Praktiken des respektvollen Kompromisses und des Dialogs ist nicht nur ein Faktor der Deeskalation, sondern auch der oft beschworenen Resilienz, also: Kühler Kopf statt klare Kante.
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Axel Heinrich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für katholische Theologie an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte in der Friedensethik sind Fragen der Friedensfähigkeit und die polnisch-deutsche Versöhnung.
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