Dorothee Steiof reist auf der Suche nach pastoraler Inspiration nach Frankreich. Daraus wird eine Begegnung von Präsenzpastoral und Madeleine Delbrêl in Ivry-sur-Seine.
Es ist ein schöner Sommertag und ich sitze im TGV in Richtung Paris. Ich habe in der Banlieue, genauer in Ivry-sur-Seine, dem Lebens- und Wirkort von Madeleine Delbrêl (1904-1964) für vier Tage ein kleines Hotel gebucht. In meiner Promotion zum Thema einer doxologischen Spiritualität hatte ich mich intensiv mit Madeleine Delbrêl beschäftigt und dabei auch eine Woche im „Maison de Madeleine Delbrêl“ in Ivry gewohnt und geforscht.[1] Nach der Promotion (2012) war dann erst einmal „Schluss“ mit unserer „Beziehung“ – ich brauchte eindeutig Abstand!
Pastoral absichtsloser Präsenz
Seit knapp drei Jahren hat sich nun mein Arbeitsfeld im Rahmen meiner Tätigkeit beim Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart geändert: Mit einem Teilauftrag habe ich die Möglichkeit, im Süden von Stuttgart auf einem Platz vor der Kirche St. Maria mit Unterstützung der Diözese („St. Maria als …“[2]) eine Haltung der absichtslosen Präsenz zu erproben. Verkürzt gesagt: Ich bin einfach da, ohne Schild, offen für Begegnungen, offen für das, was sich ereignet oder eben nicht ereignet: Oder ich warte und nehme wahr, ich bin ansprechbar oder spreche Menschen an.[3]
Meine Motivation, nach Ivry zu fahren, ist mir selbst nicht ganz einsichtig. Es ist vor allem die Intuition, da nochmal „hinzumüssen“. Ich will wohl herausfinden, ob Madeleine Delbrêl wieder eine Weggefährtin für mein jetziges Tun sein könnte. Wer, wenn nicht sie? Im Gepäck habe ich diese Intuition und mein Suchen, immer tiefer zu verstehen, was eine Haltung des absichtslosen Daseins ausmacht: Wie könnte eine geistliche Form der sozialräumlichen Präsenz aussehen? Oder wie es im Titel meines Projektes formuliert ist: „Was macht Gott in der Stadt?“
Warum fahre ich nach Ivry?
Ich habe keine genaue Vorstellung, was ich dort tun möchte oder was passieren soll. Ich lasse mich von der Haltung der Straßenexerzitien inspirieren: Also ohne Plan loszuziehen, alles Wollen und Müssen hinter mir zu lassen, offen für das, was mir entgegenkommt, was sich ereignet. Immer mit der Frage im Herzen: Wo ist heiliger Boden – für mich, heute, in den Straßen dieser Stadt?[4] Im Vorfeld habe ich zwei befreundete Frauen gebeten, mich im Gebet zu begleiten.
In einem von vielen Reisenden besuchten Café direkt gegenüber der Gare de l’Est, umgeben vom Straßenlärm und eilenden Menschen, mache ich meine erste Rast. Ich bestelle einen Pastis und lese zum ersten Mal seit langem wieder den Text „Nous autres gens des rues“ im Sammelband „La sainteté des gens ordinaires“[5]. Bekannt ist aus diesem Text vor allem die Passage, in der Madeleine Delbrêl von der Straße als dem „Ort unserer Heiligkeit“[6] spricht. Mir wird sofort klar: Mehr Text braucht es nicht. Mit diesem Text, meinen Erfahrungen der Präsenzpastoral und in der Haltung der Straßenexerzitien bin ich unterwegs.
Ein Café als der Ort unserer Heiligkeit?
Madeleine Delbrêl beschreibt in diesem Text sehr präzise, durch welche geistliche Haltung der Alltag eines jeden Menschen zu einem Ort der Heiligkeit werden kann. Verkürzt könnte man sagen, dass sie Hinweise für eine mystische Alltagsexistenz formuliert: Eine Haltung des Schweigens, die nicht bedeutet, nichts zu reden, sondern sich innerlich für Gottes Gegenwart zu öffnen, ja zu Höhlen zu werden, „in denen das Wort Gottes ruhen und wiederhallen kann“[7]; eine Erfahrung der Einsamkeit, die nicht Abwesenheit von Menschen meint, sondern Teilhabe an einer universalen göttlichen Gegenwart und gerade so tiefe Verbundenheit zu Menschen ermöglicht; eine Haltung des Gehorsams der Wirklichkeit und ihren Herausforderungen gegenüber, die letztlich für einen Weg innerer Freiheit öffnet; und schließlich die Haltung der Liebe, die sich zuallererst als ein Geschehen-lassen und Empfangen versteht und so die übliche Unterscheidung von Handeln und Gebet überschreitet: So wird der Alltag zu einem Fest: „Alors la vie est und grande fête.“[8]
Eine erste Begegnung
Mein erster Abend in Ivry. Gegenüber meinem Hotel befindet sich ein Bistro. Ich esse dort zu Abend, trinke ein Bier, bin müde, schweige, „La sainteté des gens ordinaires“ auf meinem Tisch. Ich bin einfach da. Ein junges französisches Paar am Tisch neben mir unterhält sich lebhaft. Nach einer Weile wenden sie sich mir zu. Wir kommen ins Gespräch, ganz schnell und leicht wird es persönlich, entsteht Tiefe und Vertrauen. Ich erzähle freimütig von Madeleine Delbrêl. Ich erzähle von Christian Herwartz, von Straßenexerzitien und meinem Experiment der Präsenzpastoral. Ich erzähle, was für mich an der christlichen Botschaft kostbar ist: Dass es darum geht, dass jeder Mensch sich als geliebt und willkommen erfahren kann. Dass wir spüren, getragen zu sein von einer größeren Liebe – egal, welche Religion oder Überzeugung wir haben – und wie wir uns dafür öffnen können. Dass es um Würde geht. Dass jedem Leben ein Glanz eigen ist. Irgendwann lese ich die Passage von der „Straße als dem Ort unserer Heiligkeit“ vor.
Die beiden, politisch hellwach, eher links, in der klassischen Terminologie „kirchenfern“, erzählen von ihrem Leben in Ivry, was ihnen wichtig ist, ihren Plänen. Die Frau stammt aus einer buddhistischen Familie, fühlt sich ihrer eigenen Tradition aber eher fern. Sie fragt mich, woher ich meinen Glauben habe – ich stottere, spreche von Prägung in der Familie, meinem spirituellen Weg, Theologiestudium … und spüre selbst, dass ich diese Frage nicht wirklich gut beantworten kann. Sie begleitet mich seitdem.
Kurz bevor ich gehen möchte, fragt mich die Frau: „Dorothee, was glaubst du – war unser Gespräch, unsere Begegnung heute – war das so ein Moment der „Heiligkeit“?“ Ich bejahe, ja für mich schon, und die beiden nicken stumm. Kein weiteres Wort nötig. Als ich mich verabschiede, hat der Mann schon meine Rechnung bezahlt. Ich bin völlig erschöpft, glücklich, fühle mich beschenkt und befragt zu gleich.
Unverfügbare Momente der Heiligkeit
Ich frage mich: Vielleicht wäre es gerade ein wichtiger Aspekt christlicher Präsenz und damit auch eines kirchlichen Professionsverständnisses, für solche unverfügbaren Momente der „Heiligkeit“ offen zu sein und diese miteinander zu teilen? Für diese kleinen unscheinbaren Momente der Verbundenheit – Katja Kullmann würde vielleicht von den „Zufallsverbundenheiten“[9] sprechen – quer zu allen Religions- und Weltanschauungsgrenzen? Vielleicht sind Menschen kirchenfern, aber „heiligkeitsnah“? Christ*innen als Menschen, die offen und empfänglich sind für solche Momente? Die sich besonders gut beschenken und verändern lassen von solchen Momenten? Die sich an solchen Momenten freuen können, die solche Momente glücklich machen (!) und die davon erzählen?
In meinem Alltag der Präsenztätigkeit werden mir immer wieder solche Momente geschenkt – Momente, in denen wechselseitig Resonanz entsteht, in der wir ganz als Person da und berührt sind. Etwas „ereignet“ sich. Ungeplant, nicht von mir intendiert. Mit Michael Schüßler und Christian Bauer haben in der Reflexion dafür den Ausdruck gefunden: Kirchliches Handeln als Gelegenheit, dass Menschen schenken können. Wie wäre es, wenn sich kirchliche Mitarbeiter*innen immer wieder in ihren Teams fragen würden: Wo gab es in meinem Alltag, in den Straßen meiner Stadt Momente der „Heiligkeit“? Oder im Sinne des Emmausganges: „Wo brannte mir das Herz?“ Oder mit den Worten von Bruder David Steindl-Rast: „Wo war ich heute lebendig?“
Nach-Staunen
Wie wäre es, wenn diese Fragen uns in unserem professionellen Alltag immer begleiten würden, als eine mögliche Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit (i.S. einer „gebildeten Aufmerksamkeit“ nach Fulbert Steffensky)? In einer Austauschrunde zur Frage von „Präsenz und Professionsverständnis“ fiel das wunderschöne Wort des „Nach-staunens“. Wäre dies eine mögliche Form zukünftiger christlicher Präsenz in der Gesellschaft: Christ*innen als Expert*innen des „Nach-staunens“ und der „Nach-freude“?
Wir haben in dieser Austauschrunde darüber gesprochen, dass solche „Nachträglichkeit“ Orte und Räume im professionellen Alltag bräuchte. Ich frage mich, wie es wäre, wenn wir mehr Vertrauen in solche unverfügbaren Momente hätten. Vertrauen, dass sich – wie Michael Schüßler es vielleicht formulieren würde – etwas Wesentliches, das Evangelium „ereignet“ [10]? Welche Freude, welche Kraft und welche neuen Formen der Verbundenheit könnten dann entstehen?
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Dr. Dorothee Steiof, Ärztin und Theologin, ist tätig als Referentin für Caritastheologie und Vielfalt in der Verbandsentwicklung, Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart.
Photo: Martin Sigmund
[1] Steiof, Dorothee, Verherrlichung Gottes. Madeleine Delbrêl und alttestamentliche Texte, Stuttgart 2013.
[2] Vgl. St. Maria als (stmariaals.de)
[3] Vgl. hierzu ausführlich: Was macht Gott in der Stadt? Erfahrungen aus einem Projekt der Präsenzpastoral im Süden von Stuttgart – feinschwarz.net.
[4] Vgl. z.B. Herwartz, Christian u.a., Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen-Vluyn 2016, z.B. S. 62–66 u.a.
[5] Delbrêl, Madeleine, Nous autres gens des rues (1938), in: La sainteté des gens ordinaires, Œuvres complètes, tome VII, Textes missionaires volume 1, Bruyères-le-Châtel 2009, S. 21-30.
[6] Vgl. ebenda, S. 23-24.
[7] Vgl. ebenda, S. 24 (Übersetzung nach Schleinzer, Annette, Gott einen Ort sichern, Ostfildern 2010, S. 61).
[8] Vgl. ebenda, S. 29.
[9] Kullmann, Katja, Die singuläre Frau, Berlin 2022; Kullmann hat den schönen Begriff der „Zufallszwischenmenschlichkeit“ geprägt (ebd., S. 277).
[10] Vgl. z.B. Schüßler, Michael, Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013.