Evolutionsbiologen entdecken die Bibel als «Tagebuch der Menschheit». Thomas Staubli stellt heraus, warum der überraschenden Publicity mit Skepsis zu begegnen ist. Grundlage sei ein biblizistisches Konzept der Bibel und ein naturwissenschaftlich mythisiertes Bild menschlicher Kultur.
Noch 1992 veröffentlichte der Freiburger Psychologe Franz Buggle eine Streitschrift, welche die Bibel als ein in zentralen Teilen gewalttätig-inhumanes Buch brandmarkte, das als Grundlage einer heute verantwortbaren Ethik ungeeignet sei. Gegenwärtig aber findet das Buch des Anthropologen Carel von Schaik und des Wissenschaftsjournalisten Kai Michel reißenden Absatz, das die Bibel als «Tagebuch der Menschheit», ja als «das wichtigste Buch der Menschheit» feiert und über den grünen Klee lobt. Was ist passiert?
Um die menschliche Kultur ins naturwissenschaftliche Denken einzuverleiben, wird sie naturwissenschaftlich mythisiert.
Der Zauberbegriff, der es Evolutionsbiologen erlaubt, das bislang eher belächelte Objekt der Humanwissenschaften positiv in ihr System zu integrieren lautet «kognitive Revolution». Die Spezies Homo sapiens, eine von sechs Hominidenarten, die es vor 100’000 Jahren noch gab, entwickelte eine Art und Weise des Denkens und Sprechens, die ihr ungeahnte Macht verschaffte.
Um die menschliche Kultur ins naturwissenschaftliche Denken einzuverleiben, wird sie naturwissenschaftlich mythisiert, und das bedeutet naturalisiert. Was Aristoteles recht war, um die Sklaverei und das Patriarchat zu legitimieren — beides ist bei ihm schlicht und ergreifend naturgegeben —, ist van Schaik & Michel billig. Der Mensch hat ihnen zufolge gleich drei (!) Naturen:
Der Mensch hat gleich drei Naturen.
Die erste Natur seien unsere angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben, eine Art natürliche Moral, die das Zwischenmenschliche reguliere. Liebe, Fairness, Fremdenangst, Ekel, Eifersucht, Bedürfnis nach Ansehen und Zurückschenken, ja sogar ein religiöser Sinn gehörten dazu.
Die zweite Natur — eine Anpassung an sesshafte Lebensweise — seien tradierte und bereits in früher Kindheit erlernte Gewohnheiten, Konventionen und Mentalitäten. Sie gingen teilweise enge Symbiosen mit den Gefühlen der ersten Natur ein.
Die dritte Natur basiere auf der vernünftigen Analyse der Welt in der wir leben. Sie werde in der Schule trainiert (gesund essen, Sport treiben, sich an Verkehrsregeln halten…) und stehe nicht selten im Widerspruch zu den Bedürfnissen der ersten Natur.
mismatch-Phänomen: unsere Natur gerät mit unserer Kultur in Konflikt.
Wer verheiratet ist und sich neu verliebt (erste Natur) hört in sich die Stimme, die zur Treue mahnt (zweite Natur) und jene, die vor Anwaltskosten, Hypotheken und Alimenten warnt (dritte Natur) — so das einschlägige Beispiel. Es illustriert perfekt das, was die Autoren mismatch-Phänomen nennen, nämlich ein latentes oder akutes Unbehagen in der Kultur, das Gefühl, im falschen Zug zu sitzen, weil unsere homo sapiens–Natur mit der von uns selbst entwickelten Kultur (= Naturen zwei und drei) in Konflikt gerate.
Diese auf zwei Seiten präsentierte Theorie wird im Folgenden auf 500 Seiten am Beispiel der Bibel durchgespielt. Warum die Bibel? Sie ist für van Schaik & Michel wie sie im Buchtitel proklamieren ein «Tagebuch der Menschheit», das die Schwierigkeiten der Menschen, in einer Welt leben zu müssen, für die sie nicht gemacht worden waren, in einzigartiger Weise dokumentiere.
Die Bibel – ein «Tagebuch der Menschheit»?
Als Bibliker könnte man sich über die enthusiastische Propaganda für das Buch der Bücher eigentlich nur freuen, gäbe es da nicht Töne, die skeptisch machen. Denn einerseits nehmen die Autoren zwar zur Kenntnis, dass die Bibel das literarische Produkt des ersten Jahrtausends vor Christus ist, andererseits aber behaupten sie, es berge Menschheitserfahrung von Jahrtausenden und helfe uns dabei, ein Stück verlorenes Paradies zurückzugewinnen.
Sie geben Einblicke in die Geschichte von vierhundert Jahren Bibelkritik, würdigen die Vielstimmigkeit der Bibel und zitieren auf Schritt und Tritt Resultate der historischen Kritik. Ihr eigenes Buch folgt allerdings der «Chronologie der Bibel» und damit einem biblizistischen Konzept. Sie lesen die Bibel als Blaupause der menschlichen Evolution und somit nicht historisch-kritisch, sondern in einer Art naturwissenschaftlicher Typologie — eine Methode, die die Theologinnen und Theologen längst mit guten Gründen beerdigt haben. Ihre Typologie heißt «Bibelanthropologie» und wird dadurch gerechtfertigt, dass die Entfremdung des homo sapiens aus seinen ursprünglichen Habitaten und der damit einhergehende mismatch über Jahrtausende hinweg virulent geblieben sei. Die Quintessenz der Paradies-Geschichte, dass nämlich der Mensch einst besser lebte als später, wird daher auf die neolithische Revolution gedeutet. Der «nicht freiwillige Schritt in die Welt des Ackerbaus und des Schuftenmüssens» werde darin bekundet.
Genesis historisch-kritisch zu lesen ist weniger sexy, dafür aber wissenschaftlich korrekter.
Moderne anthropologische Einsichten und Kategorien werden hier und im Folgenden auf Schritt und Tritt anachronistisch in die Bibeltexte eingetragen, wie es für Typologien kennzeichnend ist. Die Genesis konfrontiere uns mit den Herausforderungen der neolithischen Revolution. Weniger sexy, dafür wissenschaftlich korrekter, wäre es zu sagen: Forscher um 500 v. Chr. haben mit dem Wissen ihrer Zeit über die Gründe ihrer Lebensbedingungen nachgedacht und sind dabei im Modus des Mythos auf Antworten gekommen, die bis heute zu faszinieren vermögen – nicht, weil sie historisch korrekt sind (Gott war nie als Töpfer tätig), sondern weil sie einen wahren Kern der condition humaine treffen (wir sind zerbrechlich und vergänglich wie ein Tonkrug).
Der Rest der Tora präsentiert nach van Schaik & Michel ein «kulturelles Schutzsystem größter Raffinesse», um die durch die neolithische Revolution ausgelösten Krankheiten, Kriege und Katastrophen zu managen. Das ist ein interessanter und bedenkenswerter Gesichtspunkt, aber angesichts des Antikanaanismus, mit dem er verkoppelt ist, auch ein problematischer.
Unglaublich viel Material ist in einen Zusammenhang gebracht worden, der wieder viel Sortierarbeit erfordert.
Kein Zweifel: Die Autoren haben unglaublich viel Material aus mehreren Forschungsgebieten synthetisiert und damit eine anregende und diskussionswürdige Lektüre geschaffen. Immer wieder greifen sie Debatten auf und führen sie weiter. Sie haben ihr Material aber, bald um des unterhalterischen Effektes willen, bald aus unbedachter biblizistischer Pose heraus, oft in einen Zusammenhang gebracht, der wieder viel Sortierarbeit erfordert und der Text ist voller Unschärfen.
So wird etwa Gott als «big brother in the sky» bezeichnet, er wohnt aber «in the heaven». Der Fluch über Kanaan wird als Rätsel bezeichnet, ist aber ein konstitutives Element der Hebräischen Bibel überhaupt. Abraham hat nicht Glück gehabt, dass er noch vor Mose lebte und somit seine Halbschwester Sara zur Frau nehmen durfte, was das mosaische Gesetz verbietet, sondern die Zeit vor der Tora wird in der Bibel bewusst als eine Epoche dargestellt, in der all diese Tabus noch nicht existierten etc.
Unter den Protagonisten des Exodus-Epos, die die Autoren auflisten, gingen die Ägypter schlicht vergessen und dass es zu diesem Thema keine ägyptischen Quellen gebe ist nicht wahr. Altorientalische Rechtstexte sind nicht strikt säkular im Gegensatz zu den biblischen, Sextabus finden sich auch im hethitischen Recht, nicht nur im israelitischen, und der Zorn Gottes ist ein im ganzen Vorderen Orient und Ägypten sehr wichtiges Motiv, das ebenfalls nicht nur den Israeliten eigen ist.
Die Bibel: Offenbarung der menschlichen Natur oder erbarmungslosen Schreckens?
Hararis Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit», das vor wenigen Jahren erschien, wird von van Schaik & Michel keines Wortes gewürdigt, obwohl die Parallelen augenfällig sind. Beide Werke versuchen die Kulturgeschichte evolutionsbiologisch zu erläutern. Mehr noch: Beide gehen von drei großen Transformationen aus, die das menschliche Fühlen, Handeln und Denken und in der Folge den gesamten Globus grundlegend verändert haben. Dennoch könnten die Schlussfolgerungen unterschiedlicher nicht sein. Harari sieht in der Geschichte einen offenen, erbarmungslos voranschreitenden, chaotischen Prozess am Werk und blickt auf ein wahres Desaster zurück.
Van Schaik & Michel lesen dieselbe Geschichte als eine Offenbarung der menschlichen Natur und die Heilige Schrift der Juden und Christen «eine Bibel der menschlichen Natur». Sie sind der Überzeugung, dass sie mit ihrem kultur-evolutionären Ansatz einer bisher verborgen gebliebenen Bibel zum Durchbruch verholfen haben. In weiten Kreisen der Bibelforschung rennen die Autoren damit allerdings längst offene Türen ein und ihr Literaturregister belegt, wieviel sie aus diesem Forschungsbereich gelernt haben.
Naturwissenschaftliche Gnadenlehre: Der Mensch sei nicht schuld an seinem Unwohlsein in der Welt, es liege halt an seinen Genen.
Van Schaik & Michel würdigen die Menschen als heldenhafte Kämpfer in einer Welt, für die sie nicht gemacht worden seien. Sie geben am Ende ihres Werkes zu, dass ihre «Naturalisierung» der condition humaine der Entlastung des Menschen dienen solle. Er sei nicht schuld an seinem Unwohlsein in der Welt, es liege halt an seinen Genen, mit denen er in dieser Welt irgendwie zurande kommen müsse: naturwissenschaftliche Gnadenlehre.
Biblische Götzenkritik lässt grüßen.
Ganz anders Harari. Er kommt zum Schluss, dass der Mensch sich immer wieder als ein Schrecken und eine Katastrophe erwiesen habe, und dass er bis heute nicht wisse, was er wolle. Homo sapiens habe wenig hinterlassen, auf das er wirklich stolz sein könne. Wir hätten uns die Umwelt untertan gemacht, wir hätten mehr Macht als je zuvor, ja wir seien eigentliche Selfmade-Götter, aber leider ohne Verantwortungsgefühl. Sein Buch endet nicht im Lobpreis von Mensch und Bibel, sondern in der rhetorischen Frage: «Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?» Biblische Götzenkritik lässt grüßen.
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Literatur:
Carel van Schaik, Kai Michel, Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016.
Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, München: Pantheon 2013.
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Thomas Staubli ist Theologe, Religionswissenschafter und Orientalist. Er ist Dozent für Altes Testament an den Universitäten Freiburg und Bern sowie Moderator des Forums für Offene Katholizität.
Bild: Gabi Schoenemann / pixelio.de