Wo sich das katholische Lehramt als Hüterin ewiger Wahrheiten inszeniert, folgt es einer modernen Konzeption des Katholizismus. Oliver Wintzek analysiert dessen zentrale Säulen der Diskursverweigerung und Außenabgrenzung.
Wer es noch nicht wusste, dem ist es spätestens im Zuge der zähen Bemühungen um inner-kirchliche Reformen aufgefallen: Der Katholizismus verfügt über keine auf Partizipation basierenden Kontrollmechanismen in struktureller wie inhaltlicher Hinsicht. Er ist Gefangener seines eigenen Systems. Dieses gründet auf Weichenstellungen des 19. Jahrhunderts, die sich zwar mit der Aura der Ewigkeit darbieten, bei denen es sich aber um signifikante Neuerungen handelt.
Das antipartizipative Lehramt
In formaler Hinsicht geht es um die Frage, wer die Kompetenzkompetenz hat – wer also berechtigt ist, festzulegen, wie Entscheidungen getroffen werden – in materialer Hinsicht geht es um die Frage göttlicher Informationspolitik. Oder anders formuliert: Es geht um Lehramt und Offenbarung. Ersteres ist stramm antipartizipativ aufgestellt, auch wenn seine Aussagen als Konsens der gesamten kirchlichen Überlieferung gelten sollen. Letztere meint ein stramm vernunftjenseitiges Wissen ewiger Geltung, dessen die menschliche Vernunft gleichwohl bedürftig sein soll, weswegen die lehramtlich verwaltete Zuteilung ihrerseits als notwendig gilt. Form und Inhalt bündeln sich in erratisch zirkulärer Weise in der diskursverweigernden und selbstimmunisierenden Formulierung, die Kirche habe keine Vollmacht zu … So ist sie Gefangene ihres eigenen Systems – das allerdings erst seit der Neuerfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Und das hat Konsequenzen, die sich bis in die Blockadehaltungen bei den gegenwärtigen Debatten auf dem Synodalen Weg zeigen.
Gegen alles, was als modern und damit gottlos galt.
Das Jahr 1870 bildet einen zwar angebahnten, aber dennoch epochalen Einschnitt: Nach der Schlacht von Sedan bricht das französische Kaiserreich unter Napoleon III. krachend in sich zusammen. In der Folge wird Wilhelm I. in Versailles zum Kaiser des nun preußisch-protestantisch dominierten Deutschen Reiches proklamiert. In Frankreich etabliert sich die streng laizistisch geprägte dritte Republik. Der längst brüchig gewordene Kirchenstaat muss einem vereinigten Italien weichen und die römischen Päpste igeln sich als Gefangene im Vatikan bis zu den Lateranverträgen von 1929 ein. Die Stacheln eines exklusiv römisch durchherrschten Katholizismus richteten sich nun forciert gegen alles, was als modern und deswegen gottlos galt.
Instrumente einer umfassenden Ablehnung.
Das entsprechende Arsenal lag längst im Zeughaus eines katholischen Selbstverständnisses, wie es sich in den vorangegangenen Dekaden in strenger Folgerichtigkeit entwickelt hatte. So liest man etwa im kernig formulierten Duktus des Syllabus Errorum von 1864, einer Aufzählung von 80 verderblichen Irrtümern der Zeit aus der Feder Pius IX., als furioses Finale: Abzulehnen sei, dass der römische Bischof sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden solle.1 Offensichtlich gab es innerkirchliche Bestrebungen nicht zuletzt seitens der akademischen Theologie, genau dieser Versöhnung argumentativ nach innen wie nach außen zuzuarbeiten.
Offenbarung als exklusives Wissen?
Die theologische Unifizierung war indes soweit gediehen, dass ein Diskurs mit den modernen Wissenswelten der Zeit schon im Ansatz vereitelt war. Das hängt fundamental mit der Karriere eines als übernatürliches Wissen begriffenen Offenbarungsverständnisses zusammen, das sich menschlicher Beurteilung grundsätzlich entzieht – ebenfalls eine Neuerfindung des 19. Jahrhunderts. Der durchaus schillernde Jesuit Joseph Kleutgen, theologischer Berater und Influencer Pius IX., bringt dies 1860 unmissverständlich auf den Punkt: „Der denkende Geist soll von nun an den Inhalt des christlichen Bekenntnisses mit Freiheit prüfen, und dieser Prüfung zufolge entscheiden, inwieweit derselbe noch als Wahrheit anzuerkennen oder […] umzuformen sei. Es leuchtet ein, dass jeder Christ mit dem Oberhaupte unserer Kirche diese Prü-fung für ein verwegenes und gottloses Unterfangen erklären muss […].“2 Nach den modernen Rationalitätsstandards der Zeit wurde göttliche Offenbarung als rationales Wissen konzipiert, das sich jedoch jeglicher inhaltlichen Kontrolle entzieht – und das war neu.
Exklusives Wissen anstatt Diskurs.
Allerdings ist dieses Diskursverweigerungsinstrument nur unzureichend einsatzfähig, solange die bevollmächtigte Instanz kompetenter Kenntnis dieses Wissens nicht etabliert ist. In dieser Hinsicht ist die etwas überstürzt und unter Protest der Konzilsminorität verabschiedete päpstliche Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil nicht der eigentliche Clou. Es braucht vielmehr die lehramtlich verwaltete invention of tradition, damit der zweite Aspekt der absoluten päpstlichen Macht, der sogenannte Jurisdiktionsprimat, der Rom ein ebenso absolutes Durchregieren erlaubt, greifen kann. Entlarvend ist in dieser Hinsicht die überlieferte Aussage Pius IX. auf den zutreffenden Einwand, die Glaubensüberlieferung der Kirche könne das Dogma von 1870 nicht rechtfertigen. Darauf der Papst: La tradizione sono io – die Tradition bin ich.
Die Überraschung eines ‚ordentlichen Lehramtes‘.
Er war erneut Joseph Kleutgen, der 1863 quasi durch die Hintertür den zweiten entscheidenden Aspekt der Neuerfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert lieferte. Mit reichlicher Chuzpe erfand er nämlich als Ghostwriter Pius IX. das ordentliche Lehramt – und das war neu und wurde trotzdem auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil als selbstverständlich katholisch rezipiert und in der Folge in stetiger Wiederholung lehramtlich stark gemacht. Worum geht es? Die Unterwerfung unter das unfehlbare Lehramt sei nicht auf das zu beschränken, was durch Dekrete der Konzilen oder der römischen Bischöfe ausdrücklich festgelegt wurde, sondern sei auch auf das auszudehnen, was durch das ordentliche Lehramt der ganzen über die Erde hin verstreuten Kirche als von Gott geoffenbart gelehrt und deshalb in beständiger Übereinstimmung als zum Glauben gehörend festgestellt wird.3 Damit ist die prinzipielle Unkontrollierbarkeit in formaler wie inhaltlicher Hinsicht zum System geworden – und das gilt bis heute, wo formuliert wird, die Kirche habe keine Vollmacht … Nur woher weiß sie das und wer entscheidet das?
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Autor: Oliver Wintzek, Prof. Dr. theol., Lehrstuhl für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Katholischen Hochschule Mainz.
Foto: Iga Palacz / unsplash.com