Nathalie Eleyth macht deutlich: Rassismus geht uns alle an und eine kritische Auseinandersetzung (auch) in unseren Kirchen und Theologien ist längst überfällig.
In den vergangenen Tagen gingen die Ergebnisse des Berichts „Being Black in the EU“ der Europäischen Agentur für Grundrechte durch die Medien. Anti-Schwarzer Rassismus hat in den vergangenen Jahren nicht nur zugenommen, sondern Deutschland schneidet im Vergleich mit den anderen EU-Ländern am schlechtesten ab. In Deutschland geben signifikant mehr Menschen afrikanischer Herkunft an, Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Während in Deutschland im Jahr 2016 33 Prozent aller befragten afrikanischen Menschen aussagten, in den vergangenen 12 Monaten vor der Befragung von rassistischer Diskriminierung betroffen gewesen zu sein, waren es im Jahr 2022 64 Prozent. Verschiedene Nachrichtenkanäle auf Social Media wie die Tagesschau oder ZDFheute berichteten über die Umfrageergebnisse und es dürfen sich diejenigen glücklich schätzen, die es vermieden haben, einen Blick in die Kommentare unter den Beiträgen zu werfen. Dort bot sich den Leser*innen eine Variation an Abwehrmechanismen und Dethematisierungsstrategien, die übrigens keineswegs social-media-typisch sind – wenngleich sie im digitalen Raum noch eine Prise hemmungsloser daherkommen. Abwehr oder Derailing (zu deutsch: „etwas zum Entgleisen bringen“) beschreibt in rassismuskritischen Diskursen ein Verhalten von weißen, rassistisch nicht diskreditierbaren Personen, die mit Distanzierung, Ablenkung, Gegenbeschuldigungen oder Selbstzentrierung reagieren, wenn BI_PoC von erlebten Ausschluss- und Entrechtungserfahrungen berichten. In meiner langjährigen Arbeit als Referentin zu Rassismus (und Kirche) sind mir alle diese Strategien begegnet, so dass ich begonnen habe, die „Klassiker“ der Abwehr direkt zu Beginn von Vorträgen oder Antirassismus-Workshops proaktiv zu thematisieren.
… es dürfen sich diejenigen glücklich schätzen, die es vermieden haben, einen Blick in die Kommentare unter den Beiträgen zu werfen.
Viele Menschen in Deutschland haben ein reduktionistisches Verständnis von Rassismus: sie begreifen Rassismus als individuell-bewussten verbalen oder physischen Angriff auf die Würde oder körperliche Integrität von rassifizierten Menschen und externalisieren ihn als absichtsvolle „böse Tat“ neonazistischer Personen. Genau dieses Verständnis trägt dazu bei, Rassismus aufrechtzuerhalten. Nicht nur werden dadurch die subtilen Formen rassistischer Abwertung, wie sie sich in stereotypisierenden Annahmen über Charaktereigenschaften, mikroaggressiven Nachfragen nach der „wirklichen“ Herkunft von BI_PoC oder vermeintlich positiven Beglückwünschungen zum akzentfreien Deutsch zeigen, nicht wahrgenommen. Durch die Individualisierung von Rassismus und die gleichzeitige Externalisierung in den rechtsextremen Raum wird die strukturelle Verankerung rassistischer Machtverhältnisse in Wissen, Ideengeschichte, Sprache, Sozialstruktur und allen gesellschaftlichen Teilsystemen ausgeblendet. Rassismusfreie Räume sind im postkolonialen und postnationalsozialistischen Deutschland eine Illusion, woraus auch zu schlussfolgern ist, dass Kirche kein safe space ist, auch wenn sich die Überzeugung hartnäckig hält, dass christliches Ethos vor Ideologien der Ungleichwertigkeit immunisiert.
Rassismusfreie Räume sind im postkolonialen und postnationalsozialistischen Deutschland eine Illusion.
Im Afrozensus 2020, der größten jemals durchgeführten Befragung unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland wurden die Teilnehmer*innen gefragt, wie groß ihr Vertrauen in zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche und staatliche Institutionen ist. An erster Stelle der Institutionen, denen am wenigsten vertraut wird, steht die Ausländerbehörde, auf Platz zwei die Kirche – noch vor Polizei und Sicherheitsbehörden auf Platz drei. Das lässt aufhorchen.
An erster Stelle der Institutionen, denen am wenigsten vertraut wird, steht die Ausländerbehörde, auf Platz zwei die Kirche.
Sarah Vecera hat in ihrem Buch „Wie ist Jesus weiß geworden?“ in dem Kapitel „Liebe weiße Kirche…“ auf den Rassismus der Gegenwart in kirchlichen Institutionen in Deutschland hingewiesen. Rassismuserfahrungen in der Kirche sind keine Ausnahmeerscheinung, sondern Alltagsrealität. Doch wenn Betroffene auf rassistische Praktiken hinweisen und eigene Diskriminierungserfahrungen thematisieren, erleben sie häufig keine Validierung, sondern Defensivstrategien weiß positionierter Menschen. So geben auch im Afrozensus über 90 Prozent der Befragten an, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie Rassismus ansprechen. Mit dem Begriff der „weißen Fragilität“ beschreibt Robin DiAngelo die Reaktionen weißer Personen, wenn sie auf eigenes rassistisches Verhalten angesprochen werden, wenn ihr Weißsein und ihre damit verbundenen Privilegien zur Sprache kommen, oder wenn Rassismus als gesamtgesellschaftliches System erklärt wird: Ihre Identität als moralisch gute Menschen wird erschüttert, sie reagieren mit Wut, Relativierung, empörter Verteidigung, Einschüchterung oder Zentrierung der eigenen Emotionen. Einen Rassismusvorwurf zu erhalten, gilt als emotional schwerwiegender als sich mit dem Verhalten auseinanderzusetzen, welches den Vorwurf ausgelöst hat. Die Verleugnung des eigenen rassistischen Verhaltens findet statt, um ein unbeschädigtes Selbstbild aufrechterhalten zu können und es findet eine Skandalisierung des Rassismusvorwurfs statt, die darauf abzielt, BI_PoC zu bestrafen, die Rassismus angesprochen haben. Gerade in Institutionen wie Kirche tauchen diese Abwehrmechanismen nicht nur auf, wenn man als weiße Person auf das eigene problematische Verhalten hingewiesen wird. Auch am rassistischen Diskriminierungshandeln unbeteiligte weiße Personen solidarisieren sich mit den weißen Personen, die rassistisch gehandelt haben und unterstellen Betroffenen zu übertreiben, überempfindlich zu sein oder womöglich etwas missverstanden zu haben. Diese Akte der Verleugnung und weißen Fragilität werden in der Forschung als sekundäre Rassismuserfahrungen beschrieben.
Einen Rassismusvorwurf zu erhalten, gilt als emotional schwerwiegender als sich mit dem Verhalten auseinanderzusetzen, welches den Vorwurf ausgelöst hat.
Wie lassen sich nun genau im Alltag diese häufig reflexartigen Mechanismen identifizieren, die dazu dienen, von Rassismus abzulenken, und was sind adäquate Strategien der Entlarvung und Gegenrede? Zu Beginn erwähnte ich bereits die „Klassiker“ der Abwehr und hier kommen sie samt Einordnung.
- „Ich habe einen Schwarzen Konfirmanden, der es nicht schlimm findet, mit N* bezeichnet zu werden.“
Hierbei handelt es sich um einen rassismusrelativierenden Anekdotenbeweis. Durch den Verweis auf eine einzelne Person soll der Gebrauch rassistischer Fremdbezeichnungen verharmlost werden. Noch dazu wird die Stimme einer jugendlichen Person instrumentalisiert, bei der davon auszugehen ist, dass sie einen rassismuskritischen Politisierungs- und Widerstandsprozess noch nicht durchlaufen hat. Ferner macht es einen Unterschied, wer mit welcher Machtposition bestimmte Termini verwendet.
- „Rassismus ist nur ein Problem der Unterschicht, nicht in kirchlichen-bildungsbürgerlichen Milieus.“
Das ist eine klassenarrogante Rassismusverleugnung. Rassistische Einstellungen lassen sich in verschiedenen Milieus nachweisen. Wie verbreitet antimuslimischer Rassismus oder Rassismus gegen Sinti und Roma unter evangelischen Christ*innen sind, hat die EKD-Studie „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“ aus dem Jahr 2022 nachgewiesen.
- „Es ist lächerlich über Rassismus in Deutschland zu reden. Was ist mit den USA? Da ist der Rassismus viel schlimmer.“
Das ist ein exemplarischer Fall von Whataboutism. Rassismus ist Alltagsrealität in Deutschland, die dazu führt, dass BI_PoC Othering-Erfahrungen machen und von materiellen wie nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden. Studien weisen Rassismus im Gesundheitssystem, Bildungssystem, Justizsystem und auf dem Wohnungs- wie Arbeitsmarkt nach. Eine Hierarchie rassistischer Gewaltsysteme erstellen zu wollen, trägt nicht dazu bei, die Betroffenen in Deutschland zu schützen und Rassismus aktiv zu bekämpfen.
- „Wir sollten auch über den zunehmenden Rassismus gegen weiße Deutsche reden.“
Der Mythos des „Reverse Racism“. Weiße, deutsche Menschen sind nicht von Rassismus betroffen. „Bei Rassismus handelt es sich, […] um eine europäische Denktradition und Ideologie, die »Rassen« erfand, um die weiße »Rasse« mitsamt des Christentums als vermeintlich naturgegebene Norm zu positionieren, eigene Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien zu legitimieren und sie zu sichern.“[1]
- „Es ist nicht rassistisch, darauf hinzuweisen, dass muslimische Menschen in Deutschland kulturell fremd sind und unsere kulturelle Identität gefährden.“
Hierbei handelt es sich um das Distanzmuster der Kulturalisierung. Die Instrumentalisierung der Kultur-Kategorie als „quasi-Rasse“ verschleiert die rassistischen Ressentiments. Der Bezug auf „kulturelle Verschiedenheit“ vermeidet zwar den Rasse-Begriff, beruht jedoch ebenso auf dichotomen „Wir-Sie-Narrativen“ und geht davon aus, dass die eigene kulturelle Reinheit vor fremden Einflüssen bewahrt werden müsse. [2]
Viele weitere Beispiele für Abwehr und „weiße Tränen“ wären zu benennen von Racial Gaslighting über Tone Policing bis hin zu „Heute darf man ja gar nichts mehr sagen“.
Erst wenn sich weiße Menschen aktiv und radikal selbstkritisch damit auseinandersetzen, woher ihr Bedürfnis kommt, sich Gesprächen über Rassismus zu entziehen, Rassismus zu verleugnen oder zu bagatellisieren, kann ein brave space entstehen, in dem sich durch Rassismus verletzbare Menschen validiert fühlen und in dem gemeinschaftlich Strategien zur Überwindung von Rassismus entwickelt werden können.
[1] Susan Arndt: Rassismus, in: Susan Arndt/Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2019, 37-43, hier: 43.
[2] Vgl. Astrid Messerschmid: Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus, in: In: Anne Broden/Paul Mecheril (Hg.), Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld 2010, 41-58.
Nathalie Eleyth ist evangelische Theologin und Religionswissenschaftlerin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Rassismuskritische und Postkoloniale Theologie, Kritisches Weißsein, Intersektionalität und Sexualethik. Sie leitet die Projektgruppe der EKD zu „Rassismus/Rassismuskritik“, die den Auftrag hat, das erste theologische Grundlagendokument der EKD zu Rassismus zu erarbeiten. In der EKvW leitet sie die Arbeitsgruppe „Antirassismus und weiße Privilegien“ im Prozess der Interkulturellen Öffnung der Kirche.
Beitragsbild: Jon Tyson, unsplash.com