Worte können verletzten – schweigen kann ebenso gewaltsam sein. Laura Mößle beleuchtet gewalttätige Formen von Sprechen und Schweigen und unternimmt eine sprachliche Expedition ins Dickicht sexualisierter Gewalt in der Katholischen Kirche.
Worte haben Macht. Sie können aufrütteln, bestärken oder helfen – sie können aber auch spalten, treffen und verletzen. Sprechen ist weit mehr, als nur der Einsatz von Worten. Es verleiht den Gedanken Bedeutung, erschafft Realität und kann andere zu einer Handlung motivieren. Das weltweite Bekanntwerden unzähliger Fälle sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche wirft die Frage auf, weshalb Betroffenen oft nicht geglaubt oder kirchliche Autoritäten zu Vorwürfen geschwiegen haben. Im unübersichtlichen Dickicht sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche stelle ich die Frage nach der performativen Bedeutung des Sprechens, aber auch des Schweigens im Umgang mit sexualisierter Gewalt.
Eindrucksvoll beschreibt Brian Devlin seine Erfahrung, als er sich in den 2010er Jahren mit Vorwürfen des klerikalen Machtmissbrauchs an die Verantwortungsträger:innen der schottischen katholischen Kirche wendet. Es ist, „wie wenn du dich gegen eine demütigende Mauer des Schweigens stemmst.“[1] Dieses demütigende Schweigen kirchlicher Autoritäten, das Betroffene nicht selten über Jahre hinweg im Ungewissen lässt, ist eine erneute Gewalterfahrung und kann zu schmerzhaften Retraumatisierungen führen. Abwartendes, ringendes, beschämendes Schweigen angesichts eines Sprechens, das Betroffene viel, und oft sogar alles kostet.
ein dichtes Gestrüpp aus leeren Worthülsen und erdrückendem Schweigen
Wie aber ist die Macht des Schweigens und ihre verheerende Wirkung im Kontext sexualisierter Gewalt zu fassen? Wie sind Aussagen zu verstehen, die Betroffene subtil abwerten oder ihre Erfahrungen relativieren? Und warum ist ernsthaftes Zuhören für die katholische Kirche so bedrohlich? Wir begeben uns in ein dichtes Gestrüpp aus leeren Worthülsen und erdrückendem Schweigen. Sind Sie bereit?
Die erste Spur führt zu einer wichtigen Beobachtung, die Lilian Schwerdtner in ihrem Buch „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt“[2] diskutiert. Sie zeigt auf, dass nicht nur sexualisierte Gewalt an sich, sondern auch das Sprechen und Schweigen darüber von Gewalt durchzogen sein können. Diese Beobachtung deckt sich mit der Erfahrung Devlins, denn gerade auch im Schweigen liegt eine performative Bedeutung, eine Form des Tuns, die gewaltvoll sein kann.
Gewaltvolle Sprechakte
Die Spur führt uns weiter in ein dichtes Feld sprachphilosophischer Theorien. Ein herumschweifender Blick verrät, dass sprachliche Gewalt hier bislang wenig Beachtung findet. Die in der Theologie breit rezipiere Sprechakttheorie John Austins liefert das Werkzeug, um zu verstehen wie Worte und Handlungen nicht nur beschreiben, sondern auch eine rituelle und performative Wirkung entfalten: „Ich taufe dich im Namen…“ oder „Ich spreche dich los von deinen Sünden…“ sind performative Sprechakte, die die Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft oder die Vergebung der Sünden vollziehen und damit einen neuen Status und eine neue Wirklichkeit hervorbringen.
kein Versehen oder ein unglücklicher Umstand
Zu diesem Hervorbringen und Erschaffen hat die Sprechakttheorie viel zu sagen, wohingegen die beschädigende und zerstörerische Wirkung nur wenig in den Blick gerät. Im Sprechen liegt eine Form des Tuns. Doch wie verhält es sich mit dem An-Tun? Relativieren oder ignorieren kirchliche Autoritäten die Schilderungen Betroffener, verändern sie deren Realität zum Schlechteren. Diese Form der Gewalt, die ohne äußerlich sichtbare Verletzungen auskommt, ist alles andere als harmlos.[3] Denn wie in Devlins Beispiel ist die ignorante Reaktion der Verantwortlichen kein Versehen oder auf unglückliche Umstände zurückzuführen. Viel eher zeigt sich darin eine „systemische Ausübung sprachlicher Gewalt“[4] die Betroffene demütigt und sie ihre Stimme verlieren lässt. Sprachliche Gewalt, die systemisch ausgeübt wird, lähmt wiederum auch diejenigen, die noch keine Worte für ihre Erfahrungen gefunden haben und zögern den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen.
Schweigen ist nicht gleich Schweigen
Der Pfad führt uns weiter an eine Lichtung, ein Ort absoluter Stille. Hier begegnen wir dem Schweigen. Nicht jedes Schweigen ist eine Form sprachlicher Gewalt, manches aber doch. Gewaltvolles Schweigen ist davon gekennzeichnet, dass es das Gegenüber ignoriert, es nicht hören und schon gar nicht verstehen will. Christina Thürmer-Rohr führt in ihrem Text „Achtlose Ohren“[5] die griechische Sage des Odysseus an, um die immense und keineswegs ungefährliche Kraft des Hörens aufzuzeigen. Um wohlbehalten nach Hause zu gelangen und durch die verführerischen Sirenenklänge nicht vom Kurs abzukommen, verschließen die Ruderer ihre Ohren mit Wachs und Odysseus lässt sich an einen Mast binden. Das Bild ist klar: Taubheit und gefesselte Selbstbeherrschung führen im Kampf gegen die Verlockungen zum Ziel. Zuhören wird zum Symbol der Gefahr des feindlichen Fremden, des Unglaublichen, dem es mit aller Kraft standzuhalten gilt.[6] Dieses Bild macht deutlich: Zuhören ist gefährlich. Entscheidet man sich, das Wachs aus den Ohren zu nehmen, die eigene Identität nicht gefesselt verteidigen zu müssen, können neue, irritierende Perspektiven zu den bisherigen treten. Mitunter stehen Kurswechsel und Schiffsbruch an. Vielleicht zerschellt das altvertraute Kirchenschiff?
Gewaltvolles Schweigen erschöpft sich aber nicht nur im Weghören, sondern kann sich zu einem aggressiven Schweigen auswachsen, das zwar zuhört und versteht – und dennoch schweigt. Aggressives Schweigen verweigert jede Stellungnahme, will sich unangreifbar machen, und zugleich die Betroffenen in ihrem Sprechen demütigen und zermürben. Diese aggressive Form des Schweigens ist existentiell destruktiv und vervielfacht dessen verheerende Gewaltwirkung, wenn es von einer gesellschaftlich akzeptierten Instanz wie der katholischen Kirche und ihren Verantwortungsträger:innen ausgeht und damit legitimiert wird.[7]
Wie weiter?
Sprachliche Gewalt setzt strukturelle Gewaltfaktoren fort, die die Betroffenen immer wieder traumatisieren können. Es muss sich endlich etwas ändern – doch wie? In Missbrauchsgutachten, in Autobiographien, in Reportagen, in Theaterstücken oder Podcast-Interviews ergreifen Betroffene schon lange das Wort und machen auf strukturelle Faktoren für sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche aufmerksam. Und trotzdem werden sie nicht gehört. Was fehlt ist zweierlei: Ein Zuhören, das sich von den Worten Betroffener bedrängen lässt. Das sich nicht scheut, den Gedanken des Anderen Raum zu geben und sich davon sogar verletzen lässt. Und es braucht ein Sprechen, das Strukturen des Machtmissbrauchs unerschrocken beim Namen nennt, damit das Wort der Betroffenen nicht im Dickicht verhallt, sondern endlich Wirkung entfaltet.
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[1] Zitat von Brian Devlin im Forum „From Darkness to Light”, Rom 18.04.23.
[2] Lilian Schwerdtner: Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt. Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung, Münster 2021.
[3] Vgl. Steffen K. Herrmann/ Hannes Kuch: Verletzende Worte. Eine Einleitung. In: Diess./ Sybille Krämer (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, 7-30, hier 10-12.
[4] Schwerdtner: Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt, 39.
[5] Vgl. Christina, Thürmer-Rohr: Achtlose Ohren. Zur Politisierung des Zuhörens. In: Dies. (Hg.): Verlorene Narrenfreiheit, Berlin 1994, 111-129.
[6] Vgl. ebd., 117.
[7] Vgl. Herrmann/ Kuch: Verletzende Worte, 12.
Dr. Laura Mößle ist Research Fellow am Institute of Anthropology, Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care (IADC) der Gregoriana Universität in Rom. Sie forscht und lehrt zum Thema Safeguarding.
Beitragsbild: Kapelle an einem Wanderweg im Vordertaunus. Foto: Paula Paschke