Der 21. November ist der “Welttag der Philosophie”. Eine türkische Philosophin, Ioanna Kuçuradi, hat ihn angeregt. Ihr Schüler Yusuf Örnek zur Chance philosophischen Denkens in einer schwierigen Situation.
Der heutige „Welttag der Philosophie“ wurde 2002 von der Präsidentin der „Federation Internationale des Societes de Philosophie“ (FISP) initiiert. Auf ihren Vorschlag hat die UNESCO den dritten Donnerstag in November zum “Welttag der Philosophie” erklärt. Dieser Tag ist auch ein Anlass über die Bedeutung der Philosophie in der Welt und speziell in der Türkei nachzudenken.
Worin liegt der Sinn der Proklamierung eines „Welttags der Philosophie“? Der Sinn kann nur darin liegen, dass die UNESCO zum philosophischen Denken animieren will. Die Absicht dieser weltweiten Organisation ist wohl, allen Menschen die Courage zu geben, um die Welt mit der philosophischen Sichtweise unter die Lupe zu nehmen.
Die Welt braucht Philosophie
Die Initiatorin Ioanna Kuçuradi und der UNESCO-Vorstand waren sich offensichtlich einig, dass die Welt mehr Philosophie und philosophische Fragestellung braucht. Über 20 Jahre nach der Proklamierung des „Welttags für Philosophie“ sieht die Welt nicht besser aus als damals. Gewalt, Krieg, Armut haben zugenommen; hinzu kam das Problem des Klimawandels, der damals nicht so präsent war wie heute.
Die philosophische Blickrichtung unterscheidet sich von den übrigen Anschauungsweisen der Wissenschaften darin, dass sie die Probleme nicht in Teilen, sondern in ihrer Ganzheit sieht. Am Anfang des philosophischen Denkens der alten Griechen fragt man nach dem, was ist. Die Frage richtet sich nach einem bestehenden Realphänomen, dem Seienden. Das Phänomen ist das, was sich zeigt, was es ist und wie es ist.
Das Spezifische des philosophischen Blicks
Die philosophische Blickrichtung ist eine Annäherungsweise, welche bei den Gegenständen oder Gegebenheiten ein Problem entdeckt und es in seiner Ganzheit betrachtet. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung fragmentiert diese Betrachtungsweise das Ganze nicht in Teile, und reißt die Phänomene nicht aus deren Bedeutungszusammenhang, sondern versucht bei den Lösungen aus dem Vollen zu schöpfen. Ihre Lösungsansätze werden mit vielseitigen Argumenten begründet. Es ist jedoch nicht selten, dass ein unbegründeter und ungelöster Problemrest dennoch bestehen bleibt.
Wenn man sich der Türkei mit einer solchen philosophischen Einstellung annähert, ermöglicht dies Probleme zu sehen, von welchen möglicherweise wenige Menschen Kenntnis nehmen. Für jemanden, der in der Türkei in die Schule ging und Sozialwissenschaften studierte, anschließend in Deutschland in Philosophie promovierte und heute immer noch an den türkischen Universitäten lehrt, hat diese Frage mehrere Facetten
Der westlichste Punkt der östlichen Welt und der östlichste Punkt der westlichen Welt
Geographisch und kulturell gesehen, ist die Türkei sowohl der westlichste Punkt der östlichen Welt als auch der östlichste Punkt der westlichen Welt. Es mag eigenartig klingen, aber diese interessante Ortsbestimmung, deren Wurzel in der Tiefe der Geschichte liegen, sorgt für enorme Chancen und Risiken. Wir Türken sind eigentlich „Bürger zweier Welten“: Die geistigen Traditionen des Orients durch den Islam einerseits, die Fortschritte im Sinne der Modernisierung seit mehr als zwei Jahrhunderten andererseits, liefern der philosophischen Fragestellung reichlich Materialien. Die türkische Philosophie erstreckt sich zwischen diesen beiden geistigen Mächten: Auf der einen Seite die 1500 Jahre alte Tradition der islamischen Religion, auf der anderen Seite die über 200 Jahre alte Versuche der Verwestlichung und Modernisierung, die die Berührung mit der westlichen Philosophie ermöglichten.
Geburtsstätte europäischer Wissenschaft, Philosophie und Theologie
Die inzwischen 100 Jahre alte Türkische Republik erstreckt sich zum größten Teil auf der anatolischen Halbinsel, die die Geburtsstätte vieler Kulturen, darunter auch der europäischen Zivilisation ist. Die Wurzel der europäischen Wissenschaft und Philosophie von Thales und Heraklit oder die Ursprünge der christlichen Theologie von Gregor von Nazianz und Basilius dem Großen liegen auf anatolischem Boden.
Doppelte Verwurzelung
Gemäß seiner doppelten Verwurzelung kann das Nachdenken über die türkische Philosophie nicht nur von westlichem Denken ausgehen, aber auch nicht nur vom islamisch-arabischen Gedankengut. Der türkisch-anatolische Boden verlangt von den heutigen türkischen Philosophen alle geistigen Einflüsse zu erforschen und in Frage zu stellen. Diese tiefe Verwurzelung in beiden Sphären kann eine geistige Brücke zwischen fernöstlichen und westlichen Philosophien sein. Das wäre eine historische Chance für die türkische Philosophie, die sich sonst in keinem anderen Land bietet.
Heute sind wir jedoch weit davon entfernt. Das Aufkommen des Nationalismus, die Radikalisierung des Islamismus und der Aufschwung des Populismus sind verbreitet in der ganzen Welt. Das Flüchtlingsproblem, welches durch den Klimawandel immer virulenter wird, sorgt dafür, dass Intoleranz und Hass gegenüber dem Fremden noch mehr wachsen. Die türkische Gesellschaft bleibt von diesen Trends nicht verschont. Die Gefahr liegt darin, dass die genannten Trends das pro-westliche Gedankengut, das sich in vielen Jahrzehnten akkumuliert hat, immer mehr verdrängen.
Aufkommende Gefahren
Der Türkei droht die Gefahr immer wieder nur von einem einzigen Aspekt der eigenen Geschichte eingeholt zu werden. Dadurch wird die Chance vertan, eine genuine Symbiose zwischen vielfältigen geistigen Mächten zu erreichen. Die geistige Zusammensetzung, die demokratisch-rechtsstaatliche Erfahrung und die technisch-industrielle Entwicklung des Landes dürften eigentlich genügend Kapital für einen qualitativen Sprung bieten.
Man übersieht und vergisst nämlich, dass die heutige Türkei weder ein islamisch-türkischer Staat wie die zentralasiatischen Staaten noch ein nahöstlicher islamischer Staat ist. Die Türkische Republik ist trotz vieler Rückschläge und gegenwärtiger Schwierigkeiten grundsätzlich ein laizistischer Rechtsstaat und damit unvergleichbar mit der übrigen islamischen Welt.
Die Türkei als philosophisches Problem
Die Chance der modernen türkischen Philosophie besteht darin, dass sie die Türkei selbst als ein philosophisches Problem betrachten kann. Eine solche ganzheitliche Blickrichtung würde nämlich alle gegebenen Phänomene zu verstehen versuchen. Die philosophische Vernunft lässt keine Komponenten unberücksichtigt; sie umfasst vielmehr alle Bereiche des menschlichen Lebens in seinen geschichtlichen Wurzeln. Solange die türkische Philosophie keine umgreifenden Perspektiven anbietet, bleibt die Bühne zwangsläufig den einseitigen, kurzsichtigen ideologischen und/oder religiösen Ansätzen überlassen.
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Prof. Dr. Yusuf Örnek ist nach seiner Promotion in Philosophie (1984) an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in seine Heimat zurückgekehrt und arbeitete bis zu seiner Habilitation (1987) an der Hacettepe Universität, Ankara. Einige Jahre war er in der türkischen Wirtschaft tätig, gleichzeitig nahm er Lehraufträge an verschiedenen Universitäten in Istanbul und Antalya wahr. Seit 2013 ist er an der Antalya Bilim University in der Abteilung für Rechtsphilosophie tätig. Seine Schwerpunkte liegen in der deutschen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Er hat Werke von I. Kant, K. Jaspers und M. Heidegger ins Türkische übersetzt.