Mit dem 70. Locarno Festival feiert die Schweiz vom 2. bis 12. August 2017 einen Höhepunkt des kulturellen Kalenders. Der Theologe und Filmjournalist Charles Martig beleuchtet die Bedeutung des Filmfestivals für das Schweizer Kultur- und Politikverständnis. Zudem strahlen Filmfestivals als ein Ort des Glaubens und der Erinnerung bis in die Kirchen hinein.
Die Piazza Grande des Locarno Festivals ist auf der neuen Schweizer 20er-Banknote abgebildet, die am 17. Mai 2017 ausgegeben wurde. Auf dem Schein ist eine grosse, hell erleuchtete Leinwand zu sehen. Sie ist umgeben von einem strahlenden Lichtkranz, von einer grossen Menge von Zuschauenden und der typischen Architektur des zentralen Platzes in Locarno, der im August jeweils in ein immenses Openair-Kino verwandelt wird. Ikonographisch bestimmt das strahlende Licht die Darstellung, ist doch auch auf der Rückseite der Note das Brechen des Lichts durch ein Prisma abgebildet.
Die Schweizerische Nationalbank erweist mit der Abbildung der Leinwand und dem Lichtphänomen einem der bedeutendsten kulturellen Ereignisse der Schweiz die Reverenz. Das ist bemerkenswert, denn als Alternative hätten sich auch das eidgenössische Schwingerfest oder das Jodlerfest als nationalkonservative Veranstaltungen angeboten.
Verweis auf den aufklärerischen Impetus
Es ist durchaus bemerkenswert, dass auf der Landeswährung nicht ein konservatives Symbol verwendet wird, sondern auf die relativ junge siebte Kunst des Kinos verwiesen wird. Der Topos des Lichts geht bis in die Aufklärung zurück. Die Zeit des anbrechenden Lichts, die sich die Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hat, erscheint nun in direktem Zusammenhang mit dem Filmfestival. Mit dem Verweis auf den aufklärerischen Impetus verbindet die Nationalbank das kulturelle Ereignis in Locarno mit einem Politikverständnis, das in der liberalen Tradition der Schweiz verankert ist. Sie baut damit weiter am nationalen Mythos der Schweiz, die sich aus einem politischen Willen heraus gebildet hat. In diesem Zusammenhang steht auch der Begriff der «Willensnation», der darauf verweist, dass verschiedene Kulturen zu einer Nation zusammengefunden haben.
Locarnos Piazza Grande als ein Ort des Lichts
Die Piazza Grande ist nach dem Politikverständnis des liberalen Staates ein Forum, auf dem sich die mündigen Bürgerinnen und Bürger treffen und ihre Meinungen austauschen. Die abendlichen Treffen von rund 8000 Menschen vor der grössten Leinwand Europas sind also mehr als nur ein Unterhaltungsevent der Konsumgesellschaft. Hier stellt die künstlerische Direktion Filme zur Diskussion, die Fragen zu menschlichen Werten, zu unserer Sicht auf die Welt und die Gesellschaft aufwerfen.
Forum, auf dem sich die mündigen Bürgerinnen und Bürger treffen und ihre Meinungen austauschen
Aus der Vorführkabine, die mitten auf dem Platz steht, werfen leistungsstarke 4K-Projektoren ihre Lichtstrahlen in Hochauflösung auf die Leinwand. Mit den Wundern der digitalen Technologie wird damit ein alter Lichtmythos wiederbelebt. Das Kino ist seit seiner Geburtsstunde nicht nur eine Attraktion, sondern ein Phänomen des Lichts. Es handelt sich um einen Ort der Offenbarung, einen Ort der «Erleuchtung».
Als Kind der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts kämpft das «Kino als ein sozialer Ort der Erkenntnis» heute um sein Überleben. Und doch: Zwar besteht heute technologisch die Möglichkeit, durch Videostreaming an jedem Ort der Welt Filmpremieren im Internet zu sehen. Dennoch treffen sich jedes Jahr mehr als 150’000 Menschen in Locarno für eine Zusammenkunft, die sich der gemeinschaftlichen Vergewisserung von Werten und Einsichten widmet. Offensichtlich bedienen Filmfestivals ein Grundbedürfnis des gemeinschaftlichen Erlebens, die in der vereinzelten Nutzung über ein Smartphone oder Tablet nicht befriedigt werden kann.
Filmfestivals als ein Ort des Glaubens und der Unterscheidung
Wie Kirchen sich als Glaubensgemeinschaften verstehen, so ist das Filmfestival Locarno ein Ort der gemeinschaftlichen Feier, der ritualisierten Handlungen und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Glauben: Hier ganz spezifisch mit dem Glauben an die Zukunft des Kinos und das Einstehen für humanitäre Werte und künstlerische Freiheit.
kritische Auseinandersetzung mit dem Glauben
Dank dieser Parallelen sind Filmfestivals zu einem Lernort für die Kirchen geworden. Seit 1973 gibt es in Locarno eine ökumenische Jury, die den internationalen Wettbewerb begutachtet. Es geht dabei nicht primär um moralische Bewertungen.
Vielmehr besteht die Aufgabe der Jury darin, die Kunst der Unterscheidung einzuüben. Es geht darum Filme zu finden, die eine bestimmte Qualität ausweisen, die andere nicht haben. Aus dem internationalen Wettbewerb von rund 20 Filmen wird ein Film ausgewählt. Dabei geht es um die hermeneutische Grundhaltung der Unterscheidung: alles zu sichten und eine Auswahl für den eigenen Glauben zu treffen. Im Zentrum steht die Frage: Was lernen wir hier? Damit werden Filmfestivals für die Kirchen zu einem exzellenten Bildungsraum.
Es geht darum Filme zu finden, die eine bestimmte Qualität ausweisen, die andere nicht haben.
Der evangelische Theologie Werner Schneider Quindeau formuliert dies so: «Als protestantischer Theologe spreche ich dabei von der Kunst der Unterscheidung, so wie es schon von Anfang an darum ging, was gelten soll. Wie müssen wir uns unterscheiden von allen anderen Vorstellungen in dieser Welt, die natürlich existieren? Unterscheiden heisst nicht trennen. Aber darin, dass wir die Unterscheidung lernen, lieben wir den Dialog. Nur dadurch lernt man. Es ist wie beim Weintrinken. Man muss verschiedene Weine trinken und dadurch lernen. Ich wähle die aus, die mir am besten schmecken. Diese Metapher gilt für die Auswahl von Filmen.» (Interview mit Werner Schneider Quindeau)
Im Film kommt der Glaube als existentielle Dimension, als Vertrauen auf Gott, viel stärker zum Tragen als zum Beispiel in der Wissenschaft. Im Film sind es die alltäglichen Geschichten mit ihren existentiellen, sozialen und politischen Fragen, die zählen. Auch religiöse Fragen werden selbstverständlich zum Thema, selbst wenn sie nicht immer explizit ausformuliert oder gezeigt werden. Damit sind Filmfestivals auch ein Ort des Glaubens.
Filmfestivals als ein Ort der Erinnerung
Bereits Jean-Luc Godard hat zwei Formen des Kinos unterschieden: Das «Kino der Unterhaltung» und das «Kino der Erinnerung». Er spricht in diesem Zusammenhang von «mémoire», lebensbiographischer und geschichtlicher Erinnerung im Sinne des «Eingedenkens». So widmet sich das Locarno Festival mit bedeutenden Retrospektiven der Geschichte des Kinos.
In der 70sten Ausgabe 2017 ist diese Retrospektive dem französischen Regisseur Jacques Tourneur gewidmet, der mit seinen Film-Noir-Visionen über die Essenz des Kinos meditiert, als tiefes und offenbarendes Erlebnis.
Ein besonderes Highlight ist die Wiederaufnahme des Holocaust-Dramas «The Pianist» von Roman Polanski. Anlass ist die Verleihung des Leopard Club Award an den Hauptdarsteller Adrien Brody am 4.8.2017 auf der Piazza Grande.
Der Film erzählt die Geschichte eines Klavierspielers im Warschauer Getto. Der Virtuose Wladyslaw Szpilman gibt eines seiner beliebten Konzerte am polnischen Radio. Plötzlich schlägt eine Bombe der deutschen Wehrmacht ein und zerstört den Sender. Damit ist der Musiker (Adrien Brody) am Anfang seines Leidensweges durch das Warschauer Getto.
Er wird dort mit seiner Familie eingesperrt, erleidet Demütigungen und Qualen als Zwangsarbeiter. Es gelingt ihm jedoch, der Deportation zu entkommen und den Krieg in wechselnden Verstecken zu überleben.
Der Regisseur hat daraus einen sehr menschlichen und versöhnlichen Film gemacht.
Roman Polanski knüpft an eigene Kindheitserfahrungen an: Als Überlebender des Krakauer Gettos und des Warschauer Bombardements wollte er schon lange einen Film über dieses schreckliche Kapitel der polnischen Geschichte drehen. Der Film sollte aber nicht autobiographisch sein. Mit den Memoiren von Szpilman, der seine Erinnerungen unmittelbar nach dem Krieg niedergeschrieben hat, stiess Polanski auf den geeigneten Stoff. Der Regisseur hat daraus einen sehr menschlichen und versöhnlichen Film gemacht, der sich stark am Production-Design von «Schindlers Liste» orientiert. Einen eigenständigen Weg geht er in der Erzählperspektive. «The Pianist» bleibt nicht auf der Ebene der Identifikation mit den Opfern stehen, sondern wählt eine mittlere Distanz. Diese teilnehmende Beobachtung besonders im zweiten Teil bildet die grosse Stärke des Films – eine filmische Geschichtsschreibung, die bleibende Erlebnisse vermittelt und lange nachwirkt.
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Dr. Charles Martig ist Theologe und Medienwissenschaftler. Er ist Direktor des Katholischen Medienzentrums und Herausgeber von kath.ch. Als Festivaldelegierter von SIGNIS ist Martig zuständig für die Ökumenische Jury am Locarno Festival.
Beitragsbild: Piazza Grande, Copyright © Locarno Festival
Offizielle Webseite Locarno Festival: www.pardo.ch