Daniel Minch über Dankbarkeit in dunklen Zeiten und wie sie uns vor Zynismus und Polarisierung schützt.
Der amerikanische Feiertag Thanksgiving entspricht in gewisser Weise dem St. Martintag oder der Eröffnung der Weihnachtsmärkte in Deutschland – er markiert den Beginn der „Festtagssaison“, wenn auch unabhängig von der religiösen Adventszeit. Es ist ein Klischee, dass zu diesem Fest ein großes Festmahl mit traditionellen Speisen gehört. Viele kennen diese Vorstellung und verbinden Thanksgiving wahrscheinlich mit den ersten puritanischen Siedlern der Plymouth-Kolonie, die 1621 ein Festmahl mit den Wampanoag feierten. Triviale Bilder von „Pilgern“ und „Indianer“ festigen die klischeehafte, populäre Vorstellung des Feiertags, die durch die Auffassung, dass Thanksgiving eine Zeit der Fressgier und des Exzesses sei, umso mehr verstärkt wird – vom Festmahl selbst bis zum Konsumrausch des „Black Friday“ und jetzt der „Black Week“. Thanksgiving ist: Exzess und Konsum. Es ist leicht, diesem Zynismus zu verfallen, und ganz unrichtig ist er auch nicht. Ich frage mich allerdings, ob wir es uns in diesem Jahr leisten können, so zynisch zu sein.
Thanksgiving ist: Exzess und Konsum. Es ist leicht, diesem Zynismus zu verfallen.
Die Polarisierung unserer Gemeinschaften entlang politischer und ideologischer Linien scheint sich zu beschleunigen, und jeder Tag bringt weitere Herausforderungen mit sich. Die bevorstehenden Bundestagswahlen im Februar sind eine Quelle weiterer potenzieller Polarisierung, und aus meiner eigenen Perspektive ist es schwer, die deutsche Wahl vom bedrohlichen Schatten der amerikanischen Wahl im vergangenen November zu trennen. Der kulturelle Schwenk nach rechts verdeutlicht die Gefahren, denen marginalisierte Gemeinschaften überall in den kommenden Jahren ausgesetzt sein werden. Die katholische Option für die Armen und das Gebot, den Marginalisierten zu dienen, müssen von den Kirchengemeinden und vor allem von den Verantwortlichen mit neuer Dringlichkeit behandelt werden. Die Notwendigkeit von Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung sollte jetzt auch im europäischen und deutschen Kontext erkannt werden, bevor Polarisierung und Politik einen neuen Wendepunkt erreichen. Hier schleichen sich jedoch leicht Zynismus und Desillusionierung ein, die uns lähmen und den Rückzug und die Isolation von anderen fördern.
Die Notwendigkeit von Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung sollte jetzt auch im europäischen und deutschen Kontext erkannt werden.
Hier möchte ich auf Thanksgiving zurückkommen, als Anlass, den Zynismus zu überwinden. Der Kernimpuls dieses Festes steckt schon im Namen: Vor allem, dass wir inmitten von Not und Dunkelheit dankbar sein sollen. Seit jeher gibt es in der dunkelsten Jahreszeit Festtage, die uns die düsteren Wintertage erhellen. Wenn die Tage kürzer werden, ist es wichtig, sich in „Dankbarkeit“ zu üben, und genau das gehört zum ursprünglichen Sinn von Thanksgiving.
Thanksgiving als Anlass, den Zynismus zu überwinden.
Das „erste“ Thanksgiving wurde, zumindest offiziell, in 1863, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg, von Präsident Abraham Lincoln zum nationalen Feiertag erklärt. Auf Anregung der Zeitschriftenredakteurin und Aktivistin Sarah Josepha Hale verkündete Lincoln, dass der letzte Donnerstag im November ein Tag der Danksagung und des Lobes sein sollte. In seiner Proklamation lud er alle Bürger:innen „in jedem Teil der Vereinigten Staaten und auch diejenigen, die auf See sind und sich in fremden Ländern aufhalten“, zum Feiern ein.[1]
Als Amerikaner, der im Ausland lebt, habe ich mich seit meinem ersten Jahr fern der Heimat sehr bemüht, mit Freund:innen und Familie Dankbarkeit zu feiern. Ein Grund, warum ich diese Tradition beibehalten habe, ist, dass sie mich mit meinem Herkunftsort verbindet. Aber abgesehen davon ist dieser Tag für mich ein Tag, an dem ich mich bewusst auf die Praxis der Dankbarkeit konzentrieren kann, ohne von Kultur und Kalender abhängig zu sein.
Ein Tag, an dem ich mich bewusst auf die Praxis der Dankbarkeit konzentrieren kann.
Wir sollten uns fragen: Wofür und für wen sind wir dankbar? Lincolns ursprüngliche Proklamation erkennt an, dass trotz der Verwüstungen des Bürgerkriegs und seiner Auswirkungen auf Ressourcen und Bevölkerung, sowohl die Industrie als auch die Bevölkerung im Jahr 1863 gewachsen sind. Die Grenzen der Nation wurden vergrößert, und hier zeigt das Dokument mehr als nur einen Hauch von „manifest destiny“ und kolonialistischer Expansion. Ohne dies zu verharmlosen, gibt es dennoch eine positive Schlussfolgerung: Inmitten von Schwierigkeiten sind viele große Dinge möglich – auch wenn wir das anders definieren als Präsident Lincoln. Dankbarkeit muss trotz und inmitten von Not eingeübt werden, nicht in ihrer absoluten Abwesenheit. Und genau hier befinden wir uns – mitten in der Polarisierung und doch aufgerufen, dankbar zu sein für das Gute und vor allem für das, was noch möglich ist.
… mitten in der Polarisierung und doch aufgerufen, dankbar zu sein …
Dankbar gegenüber wem? Die Trennung von „Kirche und Staat“ ist ein bekanntes Merkmal der amerikanischen Demokratie, aber Thanksgiving wurde in einer zutiefst religiösen Zeit eingeführt. Auf allen Seiten des Bürgerkriegs sprachen und schrieben die Anführer ausführlich über den Willen Gottes. Von John Brown, der sich selbst als Prophet der Abschaffung der Sklaverei sah, über Robert E. Lee, der in Gettysburg sagte, dass „alles in Gottes Hand liegt“, bis hin zu Lincoln selbst – es war Gott, auf den diese Menschen blickten. Der Fortschritt, für den die Nation trotz der Härte des Krieges dankbar sein sollte, kam direkt von Gott: „Kein menschlicher Ratschlag hat diese großen Dinge entworfen, noch hat eine menschliche Hand sie ausgearbeitet. Sie sind die gnädigen Gaben des höchsten Gottes, der uns zwar im Zorn wegen unserer Sünden behandelt, aber dennoch an Barmherzigkeit gedacht hat.“[2]
Natürlich ist dies kein zeitgemäßes theologisches Verständnis der Heilsgeschichte und des göttlichen Handelns. Dennoch erinnert es uns daran, dass wir auf die Gnade angewiesen sind, und weist uns auf andere Weise den Weg zur Erlösung. Es ist auch eine Erinnerung an die Auswirkungen der Sünde auf Strukturen und Individuen und an die Notwendigkeit von Gnade, besonders in unserem Umgang mit anderen. Zynismus ist in einem sündigen Kontext eine ernste Gefahr, die uns in polarisierten Blasen verharren lässt. Eine weitere Gefahr bei der Praxis der Dankbarkeit ist der Optimismus, der, wie Terry Eagleton schreibt, eine wesentliche Ideologie des Konservativismus und der herrschenden Klassen ist. Denn der optimistische Glaube, dass die Zukunft gut sein wird, basiert auf dem Glauben an das Gute und die Angemessenheit der Gegenwart.[3] Optimismus in diesem Sinne mag eine „Dankbarkeit“ für das Gute ausdrücken, aber er verleugnet oft die Realität dessen, was verkehrt läuft und was zu tun ist. Authentische Dankbarkeit hingegen verweist auf die Hoffnung auf Veränderung und auf große Dinge, die noch möglich sind. Als solche weist sie uns auf Herausforderungen hin – Leid und Unterdrückung zu überwinden und zu korrigieren. Sie weist uns weg vom apokalyptischen Nihilismus, in dem nichts Gutes von dieser Zeit zu erwarten ist. Letztlich führt sie uns zueinander und zu der Gnade, die uns in anderen begegnet.
Zynismus ist in einem sündigen Kontext eine ernste Gefahr, die uns in polarisierten Blasen verharren lässt.
Deshalb nehme ich mir jeden Winter Ende November und Anfang Dezember Zeit, um Thanksgiving zu feiern und mich so weit es mir möglich ist in Dankbarkeit zu üben. Das ist ein passender Einstieg in die Adventszeit, die auch eine Zeit der eschatologischen Sehnsucht und Erfüllung ist. Dankbarkeit allein wird die Polarisierung nicht überwinden, aber sie ist ein Schritt zur Hoffnung in der dunkelsten Zeit des Jahres und ein Weg, den Zynismus zu überwinden, der uns voneinander trennt.
Dr. Daniel Minch ist Lehrstuhlvertreter am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte, Universität Münster, und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte, Ruhr-Universität Bochum.
[1] Abraham Lincoln and William H. Seward, “Transcript for President Abraham Lincoln’s Thanksgiving Proclamation from October 3, 1863,” Archives, The Whitehouse of Barack Obama, accessed December 2, 2024,
https://obamawhitehouse.archives.gov/sites/default/files/docs/transcript_for_abraham_lincoln_thanksgiving_proclamation_1863.pdf.
[2] Ibid.
[3] Terry Eagleton, Hope without Optimism (New Haven: Yale University Press, 2015), 4–5.
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