Die protestantische Ethik und der Geist der Geschlechterverhältnisse waren im 19./20. Jahrhundert enge Verbündete. Diese Allianz wurde wichtig für die Entwicklung von Kapitalismus und deutschem Wohlfahrtsstaat, aber auch der evangelischen Ethik. In beiden hat die Alltagspraxis von Familien lange keinen systematischen Ort gehabt. Fürsorgendes Miteinander blieb insofern konzeptionell und politisch eine Utopie. Von Sabine Plonz.
In Theologie und Kirche herrschte zuletzt eine gewisse Betriebsamkeit rund um das Thema Familie. 2013 hatte eine Denkschrift der EKD, anknüpfend an Familienforschung, gleichstellungs- und sozialpolitische Konzepte erörtert, was Familie heute ausmacht, welche Unterstützung sie braucht und wie kirchliche Angebote familiengerechter werden. Ins Zentrum stellte das Kirchenpapier die verantwortliche und partnerschaftliche Praxis im Generationenzusammenhang und nicht einen institutionellen Begriff.
Die kontroverse Diskussion seinerzeit drehte sich aber vor allem darum, ob die Ehe heterosexueller Paare theologisch-ethisch weiterhin zu privilegieren ist und ob auch andere Lebensgemeinschaften mit Kindern, vor allem die von homosexuellen Paaren, als Familien anzuerkennen sind. Nicht die Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit und politischen Konzepten, sondern der Kampf um normative Vorherrschaft stand im Vordergrund.
Ein evangelisches Nachhutgefecht
Aus geschlechterkritischer Sicht war das ein Nachhutgefecht: Mit der Ehe stand die Schlüsselinstitution der hegemonialen Männlichkeit und damit ein Kernelement protestantischer Identität in Deutschland auf dem Spiel. Zwar erodiert das bürgerlich geprägte Patriarchat seit den 70er Jahren gesellschaftlich, ohne dass damit die Geschlechterverhältnisse schon egalitär geworden sind. Doch während das protestantische Frauenbild seither moderner geworden und in der Kirche rechtliche Gleichstellung erreicht ist, wurde Männlichkeit aus der theologisch-ethischen Diskussion ausgespart.
Insofern ist das androzentrische Denken, in dem unterstellt wird, dass männliche und menschliche Sichtweisen übereinstimmen, auch noch nicht erledigt. Dieses Syndrom historisch-kritisch aufzuarbeiten und konzeptionell zu überwinden steht heute an, weil es einem biblisch inspirierten evangelischen Selbstverständnis im Weg steht und weil es die Lebensumstände von Familien in der industriekapitalistischen Moderne beeinträchtigt hat.
Im 19. Jahrhundert entstanden die modernen bürgerlichen und proletarischen Familienformen. Ihre sozialökonomische Wirklichkeit ist vom Protestantismus kaum adressiert worden. „Familie“ aber wurde angesichts von Emanzipationsbewegungen (Arbeiter, Frauen) als Garantin der Sittlichkeit beschworen. Die volksmissionarischen Initiatoren der Diakonie und evangelische Sozialpolitiker sahen sie zudem als Vorbild für die Bewältigung von sozialer Verelendung und Arbeitskonflikten in der Industrie. Die Theologen schrieben bis weit ins 20. Jahrhundert die Haustafelethik biblischer und post-reformatorischer Epochen fort.
Dass Fortpflanzung, Kindheit und Lebenssorge im Konfliktfeld zwischen Erwerbs- und Subsistenzwirtschaft stattfinden, dass es in Familien um die Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit und um ein zentrales Feld der Geschlechterbeziehungen geht, wurde allenfalls indirekt erörtert. Im Vordergrund des zeitgenössischen politisch-ethischen Diskurses standen dabei drei Leitmotive:
Ehe als rechtliches und metaphysisch begründetes sittliches Verhältnis
(1) Die protestantischen Intellektuellen interessierten sich stark für die Ehe. Nach philosophischer und theologischer Auffassung war der „unverheiratete Mensch nur ein halber Mensch“ (J.G. Fichte 1797). Preußische Juristen konzipierten die Ehe zugleich als rechtliches und als metaphysisch begründetes sittliches Verhältnis. Noch ein Jahrhundert später versuchten sie, es für das Nachkriegsdeutschland zu restaurieren.
Sozialanalytisch gesehen war der protestantische Ehe-Diskurs zugleich Theorie der Geschlechterverhältnisse und ein Eckstein des Moralregimes. Er integrierte die Kernelemente des Geschlechterregimes der hegemonialen Männlichkeit, das den Kapitalismus stabilisiert (Raewyn Connell) und des Geschlechtervertrages, der den bürgerlichen Gesellschaftsvertrag ermöglicht (Carol Pateman): Die Ehe sollte den Rahmen für emotionale Bindungen stellen, Arbeitsteilung und Eigentumsverhältnisse einschließlich der öffentlichen Sozialleistungen regulieren und die männliche Machtausübung im öffentlichen Raum sichern. Im deutschen Sozialstaatsmodell des „starken männlichen Ernährers“ wirkte sich das konkret und materiell auf die Lebenslagen von Frauen und Kindern aus.
Geschlecht als Beruf?
(2) Der Beruf des Christen: In der Ära des ‚Kulturprotestantismus‘ verstand man darunter Auftrag und Verantwortung im nationalimperialen Projekt des Kaiserreichs. Er war (gebildeten bürgerlichen) Männern vorbehalten, denn Frauen waren von Politik und Öffentlichkeit sowie weitgehend von Bildung ausgeschlossen – mit Folgen für die Agenda der theologischen Ethik bis heute. Mit der Entfaltung des Industriekapitalismus tauchte aber die Idee eines weiblichen Berufs auf, für die Vertreter des Sozialprotestantismus politisch eintraten. Frauen verfügten demnach über ein geschlechtsspezifisches Arbeitsvermögen, das sie in der Familie, in bestimmten Industriezweigen, im Dienstleistungssektor und in diakonisch-sozialen Tätigkeiten mit eigens für sie geschaffenen Ausbildungsangeboten einsetzen sollten.
Dieses dualistische Berufsethos stellte die Weichen in puncto Arbeitsteilung, berufliche Karriere und Einkommensungleichheit der Geschlechter bis heute. Die Institutionalisierung der Lebensläufe, die aktuelle Gleichstellungspolitik zu überwinden versucht, hat hier ihren historischen Ursprung.
Der Primat der Mutterschaft
(3) Frauen wurden seit den 1870er Jahren immer stärker unter dem Vorzeichen ihrer biologischen oder geistigen Mutterschaft gedacht. In der wohlfahrtspolitischen Debatte wurde ihnen moralische und nationale Verantwortung übertragen. Sozialprotestanten und Funktionärinnen der Frauenverbände initiierten Sittlichkeitskampagnen mit bevölkerungspolitischen Zielen und richteten die konfessionelle Wohlfahrtsarbeit sozial- bzw. volkshygienisch aus. In diesem Klima wurden völkisch-rassistische Bewegungen stark und ihre Ideologien zur gesellschaftlich akzeptierten Strömung in der Weimarer Republik. Das NS-Regime setzte sie in einer ‚Wohlfahrtspolitik‘ um, für die massenhaft Kranke, einschließlich tausender Kleinkinder, und als sozial abnorm eingestufte Menschen ermordet wurden.
Der Wohlfahrtsstaat kümmerte sich in Deutschland vor allem um den nachsorgenden Erhalt des männlichen, die Familien „ernährenden“ Lohnarbeiters und um die vorsorgende Kontrolle des weiblichen, volks-vermehrenden Körpers. Zwischen beiden Paradigmen blieb Familie eine abgeleitete Größe, instrumentalisiert von Patriarchat und Nationalstaat, Imperialismus und Rassismus. Erst nach 1945 wurde in der BRD ein familienpolitisches Ressort eingerichtet, aber an der sozialpolitischen Systematik änderte sich nichts. Nach der Diktatur wurde damit der Wechsel von der bevölkerungspolitischen, bzw. völkischen zu einer unbelasteten Rhetorik unterstützt.
Die Geschlechterkultur der hegemonialen Männlichkeit, der eine sich unterordnende weibliche Ideologie und Praxis stützend an die Seite trat, hat über die politischen Systemwechsel hinweg zu dieser Profilierung des Wohlfahrtsstaats beigetragen. Erst nach 1990 begannen – von Ausnahmen oder Vorreitern abgesehen – Ethik und Kirche die sozialethische Bedeutung familialer Praxis zu thematisieren.
„Gleichwertigkeit“ – nicht gleiche Rechte
Ideologische Grundlage dafür war das Theorem der Geschlechterdifferenz. Demnach seien Mann und Frau der Natur nach verschieden und sollten sich in der gelebten Kultur komplementär ergänzen, um ihren sittlichen Auftrag zu erfüllen. Diese Normierung war unter dem Eindruck der bürgerlichen Revolutionen entstanden. Sie war politisch motiviert und drängte Frauen in die Privatsphäre. Nicht gleiche Rechte, allenfalls Gleichwertigkeit wurde ihnen zugestanden.
Die Protestanten übernahmen diese Gedanken eins zu eins in Schöpfungslehre, Christologie und Ethik. Die egalitäre Vision der paulinischen Gemeinden (Gal 3,26ff) und die hierarchischen Vorstellungen der Deutero-Paulinen (Eph 5,21ff) ließen sich von hier aus unangefochten im Einklang denken, wie theologische und tagesaktuelle Literatur der Epoche offenbaren. Nicht die Schrift allein, sondern auch die hermeneutische Perspektive ihrer Ausleger und ihre gesellschaftliche Interessenlage bestimmen eben, wie die Bibel gelesen wird.
Die drei skizzierten Leitmotive gehen heute ins Leere: Rechtlich und in der öffentlichen Meinung akzeptiert gilt die Ehe für alle. Politisch-ökonomisch herrscht das Modell vollständiger Erwerbsbeteiligung, das sozialpolitisch schwach flankiert und von prekären Verhältnissen belastet ist. Der Biokapitalismus revolutioniert Körperverhältnis und Gesundheitspolitik; zugleich fördern rassistische Diskurse und Politik alt-neue bevölkerungspolitische Tendenzen.
Sich für die Realutopie mitmenschlicher Praxis engagieren, statt ein neues protestantisches ‚Familienleitbild‘ verkünden
Eine evangelische, im biblischen Sinn freimachende Haltung zur familialen alltäglichen Praxis muss diese Entwicklungen und das ideologische Erbe kritisch reflektieren. Als Faktor im gesellschaftlichen Moralregime hat es wohlfahrtsstaatliche und geschlechterpolitische Realität geprägt. Statt ein neues protestantisches ‚Familienleitbild‘ zu verkünden, ist es Zeit, sich normen- und bilderkritisch von der hegemonialen Männlichkeit zu emanzipieren und sich für die Realutopie mitmenschlicher Praxis zu engagieren.
Dr. Sabine Plonz, Privatdozentin an der ev.-theologischen Fakultät in Münster, betreibt und diskutiert Ethik als kritische Theorie. Sie ist Preisträgerin des Elisabeth-Gössmann-Preises 2019 der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.
Ausfühlicher: Sabine Plonz, Wirklichkeit der Familie und protestantischer Diskurs. Ethik im Kontext von Re-Produktionsverhältnissen, Geschlechterkultur und Moralregime, Baden-Baden: Nomos 2018.
Bild: Godewind / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)