Die „Radikale Aufklärung“ vor dem deutschen Idealismus hat keinen guten Ruf in der Theologie. René Buchholz plädiert für eine Neubewertung.
Ein kaum erschlossener Kontinent
Die Theologie hat ihre wissenschaftlich drapierten Einseitigkeiten. Ihre Vermittlungsversuche zur Philosophie galten vor allem der idealistischen Tradition: von Platon und Aristoteles in Antike und Mittelalter zu Kant (der der katholischen Theologie noch bis ins 20. Jahrhundert hinein suspekt war), Fichte, Schelling und Hegel in der Neuzeit. So fortschrittlich die theologischen Modelle eines Blondel, Maréchal, Rahner, de Lubac, Verweyen und Pröpper gegenüber der Neuscholastik auch waren, so stehen sie doch für eine halbierte Rezeption neuzeitlicher Philosophie. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der seit dem 17. Jahrhundert Gestalt gewinnenden radikalen Aufklärung, die bis in die Gegenwart nachwirkt, unterblieb weitgehend, hatte Kant, der weniger als Teil, sondern als „Überwinder“ der Aufklärung verstanden wurde, sie doch alle „widerlegt“. Allenfalls die religionskritischen Schriften weckten das theologische Interesse – aber doch eher im Sinne einer Abwehr und Zurückweisung. Radical Enlightenment war ein Thema, das in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem im angelsächsischen Bereich von Philosophie- und Kulturhistoriker*innen wiederentdeckt und erforscht wurde. Den Begriff prägte bereits 1981 Margaret Jacobs; einem größeren Publikum wurde er geläufig durch Jonathan Israels umfangreiche Studien, die zeigten, dass es sich nicht einfach um ein Konvolut einschlägiger Schriften – die Beiträge in Diderots und d‘Alemberts Encyclopédie eingeschlossen – handelt, sondern um eine internationale Bewegung oder Strömung der Aufklärung, ein Netzwerk von Philosoph*innen und politischen Akteuren (vgl. Israel 2001, 22) – und nicht zuletzt um einen Habitus.
Entzauberung von Autorität und Herrschaft
Radikale Aufklärung begnügte sich nicht mit einzelnen Reformvorschlägen zur Neugestaltung der Monarchie; sie entzog ihr die religiöse Legitimation und verlagerte die Souveränität vom entzauberten Monarchen auf das Volk. Der Prozess der Entzauberung war allerdings umfassend; er erstreckte sich von den religiösen und weltlichen Autoritäten über die heiligen Schriften und die Erklärung der Natur. Radikale Aufklärung „effectively demolished all legitimation of monarchy, aristocracy, woman’s subordination to man, ecclesiastical authority, and slavery, replacing this with the principles of universality, equality, and democracy.“ (Israel 2001: VI)
Auch die Kritik der Religion hat hier ihren Ort; sie ist Teil einer Herrschaftskritik, die nicht sine ira et studio formuliert wird; Argumente werden zu Waffen. Mit dem genealogischen Aufweis religiöser Autorität (der Schrift, der Priester, der Tradition) wird ihre transzendente Legitimation dekonstruiert. Manche Schriften wie der Traité des trois imposteurs, aber auch das Testament de Jean Meslier, jenes Priesters, der tagsüber sein Amt versieht und abends sich an die Abfassung einer der schärfsten religionskritischen Schriften der Aufklärung begibt, führen die drei monotheistischen Religionen auf Angst vor der unerklärten Natur, Unbildung der Massen und Betrugsmanöver ihrer „Stifter“ zurück. Meslier schöpft aus der Erfahrung eines Dorfpfarrers, der das Elend der ausgebeuteten Bevölkerung auf dem Lande täglich sieht. Die Armut wird nicht idealisiert, vielmehr zeigt er, wie die Not auch familiäre Gewalt produziert. Dem stehen die Jenseitsvertröstungen kirchlicher Verkündigung gegenüber, die er einer scharfen Kritik unterzieht. Anstatt auf das Jenseits zu hoffen, kommt es auf eine „umwälzende Veränderung der Lebensverhältnisse“ an (Schlette 1979: 234; vgl. Israel 2006: 724-728). Das schlechte Ansehen des höheren Klerus wird zurückprojiziert in die Anfänge der Religion; gewiss eine zu simple und historisch anfechtbare These, die eher auf die aktuellen Kämpfe verweist als auf den Ursprung religiösen Bewusstseins. Andererseits liest man/frau angesichts des aktuellen religiösen Fanatismus und seiner Opfer so manche Kritik des siècle des lumières mit anderen Augen.
„Mann, bist du fähig, gerecht zu sein?“
fragt Olympe de Gouges (1748-1793) in ihrer Erklärung der Rechte der Frau (1791) „Eine Frau stellt dir diese Frage; du wirst ihr doch nicht das Recht dazu absprechen wollen. Sag an, wer hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken? Deine Kraft? Deine Talente?“ (de Gouges 2018, 90) Olympes deistisch gedachter Gott verurteilt Eva nicht zur dauernden Untertänigkeit, weil sie angeblich Adam zur Sünde verführte; er hat vielmehr alles Männliche und Weibliche unter der Sonne mit gleichen Rechten ausgestattet. Erst männliche Anmaßung führte zur Ungleichheit und gibt ihr obendrein noch einen wissenschaftlichen Anstrich. Radikale Aufklärung untermauerte die frühen feministischen Forderungen auf ihre Weise. Holbach wie Condorcet plädieren für gleiche Bildung in staatlichen Instiutionen, ebenso für gleiche Zugänge zu den bürgerlichen Berufen. Der Marquis d’Argens publiziert 1748 seine Thérèse philosophe, einen Roman, der die erotische wie intellektuelle Emanzipation einer jungen Frau zum Gegenstand hat, angestoßen durch ihre Zeugenschaft eines sexuellen Missbrauchs durch den Jesuitenpater Dirrag (vgl. Israel 2001, 95f). Bleibt der Roman durchweg zwar einem männlichen Blick verhaftet, so ist seine Zusammenschau von sexueller und intellektueller Emanzipation Ausdruck einer Anthropologie, die den Menschen in starker Abhängigkeit von seiner somatischen Konstitution – man könnte von einer frühen mind-brain-Debatte sprechen – begreift. Wo diese nicht kultiviert, sondern – und dafür stehen kirchliche Moralvorstellungen – unterdrückt wird, finden sich pathologische Verhaltensweisen, wie die auf einen historischen Fall anspielende Missbrauchspraxis des Paters Dirrag. Es gibt einen legitimen amour propre, der sich auch auf die Sinnlichkeit erstreckt. Ideale der Askese, der Selbstverleugnung und Unterordnung vergewaltigen die menschliche Natur und verderben das menschliche Zusammenleben. Den Autor*innen der radikalen Aufklärung war die kirchliche Sexualmoral menschenfeindlich und reformresistent, sie musste beseitigt werden.
Emanzipation und Religion
Einige der damaligen Thesen sind aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit einem eher dogmatischen, mechanistischen Materialismus überholt: der Mensch ist nicht einfach eine Maschine, auch keine gut erleuchtete. Aber das Bewusstsein von der engen Verbindung geistiger und physischer Vorgänge, die Problematisierung der überlieferten Gendercodierung und unerhellter Herrschaft, die Reduzierung von Autorität auf die Kraft der Argumente und – im politischen Rahmen – allein durch Delegation innerhalb eines demokratischen und rechtstaatlich fundierten Gemeinwesens waren ohne die Umbrüche, für die die radikale Aufklärung steht, nicht möglich. Die moderatere religiöse Aufklärung wagte es nicht, die überlieferten Machtverhältnisse grundlegend zur Disposition zu stellen und scheiterte an der Härte der politischen Verhältnisse. Gewiss sind aus heutiger Sicht die Konzepte der Naturbeherrschung, die sich bis in die Gestaltung der sozialen Verhältnisse hinein auswirkten (Holbach) problematisch: Herrschaft über Natur verlängerte sich in die Herrschaft über Menschen; doch kann von der Dialektik der Aufklärung nur sprechen, wer durch sie hindurchgegangen ist. Erst nach dem Ende religiöser und feudaler Herrschaft im bürgerlichen Zeitalter und angesichts der Engführungen einer formalisierten, auf die Ordnung der Tatsachen reduzierten Vernunft zeigte sich der emanzipatorische Gehalt religiöser Traditionen, der den meisten Aufklärern verborgen blieb, dem kritischen Blick. Emanzipation und Religion bilden nicht a priori Gegensätze, kein Weg aber führt hinter die Kritik religiöser und politischer Autorität zurück. Die von Theolog*innen so oft beschworene Selbsttranszendenz konkretisiert sich gerade in der Kritik und der politischen Veränderung dessen, was sich im Laufe der Zeit zur scheinbar unveränderlichen „Natur“ verhärtete. Hier kann von der Aufklärung noch einiges gelernt werden – sogar von den „bösen Philosophen“. Das ist auch von theologischer Bedeutung, denn ohne eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft werden Fragen, die hinausgehen über das, was der Fall ist, nicht mehr gestellt werden. Eine geradezu kathartische Wirkung auf die Theologie darf man von jener Denktradition erwarten, die von der radikalen Aufklärung bis zu Pierre Bourdieus Konzeption der Soziologie als „Kampfsport“ reicht: Der bei Theolog*innen immer noch beliebte „Mensch“ oder „Christ von heute“ verwandelte sich vor unseren Augen von einer Abstraktion und Phrase in eine Vielzahl lebendiger, bekörperter Zeitgenossen und Zeitgenossinnen – wahrhaftig ein großes Wunder, das selbst einen Baron Holbach bekehren dürfte.
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Dr. René Buchholz ist Mitarbeiter in der kirchlichen Erwachsenenbildung der Erzdiözese Köln und Apl. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Literatur:
Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011.
Buchholz, René: Die subversive Kraft der Immanenz. Themen, Motive und Kontexte neuzeitlicher Religionskritik (2022), auf academia.edu: bit.ly/3Xz04Zn
de Gouges, Olympe: Die Rechte der Frau / Déclaration des droits de la femme, hrsg., übersetzt und mit einer Einleitung von Gisela Bock, München 2018.
Israel, Jonathan Irvine: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, Oxford-New York 2001.
Israel, Jonathan Irvine: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670-1752, Oxford-New York 2006.
Jacob, Magaret C.: The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons, and Republicans, Lafayette (LA) 22006.
Schlette, Heinz-Robert: Artikel Meslier in Karl-Heinz Weger, Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Freiburg-Basel-Wien 1979, 233-235.