Hat die Kirche den Kontakt zur Lebenswelt der Menschen verloren? Überlegungen dazu dürfen sich nicht auf Kommunikation und Organisation von Kirche beschränken. Denn es geht um mehr, argumentiert Jan Loffeld. Es geht um die Kernbotschaft des Christlichen.
Es waren mindestens zwei Ereignisse innerhalb der kirchlichen bzw. theologischen Diskurslandschaft, die eine lebhafte Debatte während des zu Ende gehenden Jahres auslösten: Thomas Frings’ „Kurskorrektur“ und Erik Flügges „Jargon der Betroffenheit“. Mit ein wenig Abstand kann man vielleicht fragen, was dabei genau passiert ist: Beide haben offenbar Realitäten benannt, die im Zwischenbereich von Sagbarem und bislang Verschwiegenem rangierten: ein lauwarmes Tabu ist gelichtet – und worin bestand es?
Bei Frings war es die Desillusionierung, dass alle mit viel Idealismus angelegten Kirchen- und Gemeindebilder während seiner beruflichen Laufbahn sich als nicht realitätskompatibel herausgestellt hatten. Den Kirchen mag in vielerlei gesellschaftlichen Belangen zwar immer noch Unverzichtbarkeit bescheinigt werden, wenn man allerdings innerhalb vieler pastoraler Situationen de facto eher auf religiöse Indifferenzen trifft, hilft das offenbar wenig weiter.
Flügge beging ein angrenzendes Feld, allerdings aus anderer Perspektive: Seine Analyse einer sprachlich sowie substantiell verengten kirchlichen Kommunikation auf beinahe allen Ebenen sprach nicht wenigen aus dem Herzen, will man doch mit der persönlich für bedeutsam gehaltenen Botschaft ankommen und ist froh, wenn Stellschrauben endlich benannt werden: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – dieses Motto aus der Fahrschule kann vielleicht den Hype erklären, der schließlich entbrannte: endlich, wir haben das Leck des havarierten Tankers identifiziert, jetzt kann alles besser werden.
Das Phänomen einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit der christlichen Kirchen.
Ohne Zweifel: Innerhalb der kirchlichen Verkündigung sowie Kommunikation herrscht substantieller Nachholbedarf und der allgemeinplatzierte Binnensprech – bis in offizielle Texte hinein – überschreitet tatsächlich häufig die Grenze zur Belanglosigkeit. Ist aber damit schon das gesamte Feld einer zunehmenden Nichtpassung zwischen Evangelium und Gegenwartskultur, wie sie religionssoziologische Studien analysieren, adressiert? Jenes Phänomen einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit – das wäre die hier verfolgte Vermutung, die Arnd Bünker bereits für Flügge zu Recht in die Debatte einspielte – liegt letztlich beiden Diskursen zugrunde. Bei Frings eher im Sinne einer offen gehaltenen Frage, bei Flügge in Form von Analysen und strategisch-kommunikativen Optimierungsimperativen. Daher: Die Relevanzdebatte ist eröffnet!
Franz-Xaver Kaufmann hat jene Grundsituation, die hier infrage steht, einmal sehr treffend analysiert: Es geht den Kirchen in Deutschland in jeder Hinsicht gut, mit einer Ausnahme: dass sie den Kontakt zur Seele der meisten Menschen verloren zu haben scheinen, sie also innerlich nicht mehr ansprechen können.[1] Worin aber besteht der Kontaktverlust genau?
Geht es um eine Relevanzkrise des Evangeliums?
Ohne Zweifel sind wesentliche Gründe auf Organisations- bzw. Systemebene analysierbar – insbesondere die Machterosion des Kirchlichen und die augenfälligen institutionellen Schwierigkeiten, dies wirklich zu akzeptieren. Aber liegen Motive nicht auch tiefer? Ist die kirchliche Relevanzeinbuße allein mithilfe ekklesiogener, organisationssoziologischer, eines New-Public-Management bzw. anderer Analysen und Strategien zu beheben – bei aller unbestrittenen Notwendigkeit, auch auf diesen Ebenen experimentieren und optimieren zu müssen? Geht es nicht aber auch um eine Relevanzkrise des Evangeliums und seiner Kernbotschaft an sich?
Der im vergangenen Jahr verstorbene Münsteraner Dogmatiker Thomas Pröpper hat sich bereits in seiner Dissertation 1988 einem wesentlichen Problem des Christentums in moderner Kultur gestellt und dies mit einer treffsicheren Identifikation des theologischen Zentraldiskurses verbunden:
„[Es; J.L.] gibt wohl kein Wort das einerseits so unlösbar mit dem christlichen Selbstverständnis verbunden und andererseits so direkt auf menschliche Selbsterfahrung bezogen, ihr zugleich jedoch fremd geworden sein dürfte wie eben das ehrwürdig-vertraute und problembeladene Wort von unserer Erlösung.“[2] Und: „Ich gehe […] davon aus, dass mit dem Erlösungsgedanken, richtig verstanden, in der Tat das für das Ganze des christlichen Glaubens Entscheidende auf dem Spiel steht […].“[3]
Der Erlösungsgedanke ist entscheidend für den Sinn der Rede von Gott.
Jürgen Werbick stellt schließlich explizit eine Verbindung von Erlösung und Relevanz her: „Dass Gott rettet, das ist die Grundvoraussetzung der Soteriologie. An ihr hängt offenkundig nicht nur der Sinn allen Redens von Erlösung, sondern – heute wahrnehmbarer als je zuvor – die ‚Relevanz‘ des christlich geprägten Gottesglaubens.“[4]
Das Christentum hat, so sind sich nicht nur Pröpper und Werbick, sondern viele weitere Systematiker*innen über die Konfessionsgrenzen hinweg einig, über den Gnaden- bzw. Erlösungsgedanken und deren genuines Immanenz/Transzendenz-Dual während der gesamten Geschichte existentiell bedeutsame Passungen entfalten können. Allerdings: Dazu ist es stets zwingend nötig (gewesen), eine Bedürftigkeit solcher Erlösung anzutreffen, zu erweisen oder, wo nötig, sogar herzustellen. Doch, und dies wäre die Kernfrage: Verstehen sich weite Teile unserer Gegenwart wirklich als im christlichen Sinne erlösungsbedürftig?
Sicherlich ließe sich einwenden: Selbstmentoring, Enhancement, weitere Optimierungsstrategien sind vielleicht niemals so sehr en vogue gewesen wie heute. Und zweifelsohne hat die Rede von einer „Gesellschaft der Angst“ einiges für sich.[5] Aber braucht es für eine Verbesserung dieser Verhältnisse, für Existenzoptimierungen oder persönliches Glück postmodernen Zuschnitts einen menschgewordenen und zugleich transzendenten Gott? Ein Pfarrer drückte dies nach den diesjährigen Erstkommunionfeiern in seiner Gemeinde so aus: „Es lebt sich auch ganz gut ohne Gott und Kirche.“
Man merkt häufig gar nicht mehr, dass einem etwas fehlt, wenn Gott fehlt.
Ein Drittel der Familien war nicht beim vorherigen Üben für die Feier dabei gewesen und sogar zwei von ihnen erschienen am Festtag gar nicht erst zur Eucharistie – mitten im „katholischen Münsterland“. Ein vielleicht passendes Beispiel für jene Prozesse, die Detlef Pollack und Gergely Rosta als „Distraktion bzw. Absorption“ des Religiösen[6] beschreiben: Man merkt häufig gar nicht mehr, dass einem etwas fehlt, wenn Gott fehlt.
Diese Linie lässt sich bis zur scheinbar letzten bzw. größten Kontingenz, dem Tod, weiterziehen. Auch die augenscheinlich ‚letzte‘ Relevanz-Bastion eines „Not lehrt beten“ scheint geschliffen[7]. Exemplarisch formuliert der koreanisch-deutsche Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han: „In der heutigen Zeit, die bestrebt ist, jede Negativität aus dem Leben zu verbannen, verstummt auch der Tod. Er spricht nicht mehr. Ihm wird jede Sprache genommen. Er ist nicht mehr eine Weise zu sein, sondern nur noch das bloße Ende des Lebens, das es mit allen Mitteln aufzuschieben gilt. Der Tod bedeutet einfach die Endproduktion, das Ende der Produktion.“[8]
Kontingenzen werden innerhalb einer säkularen Kultur anders und nicht selten wirksamer bearbeitet als mithilfe des christlichen Codes. Zuweilen geht es um das bestmögliche, autologische Verwandeln eines gegebenen Makels in ein Charisma.[9] Etwa so, wie Clueso in seinem neuen Song „Neuanfang“ singt: „Ich kann den Wind nicht ändern, nur die Segel drehen.“
Eine neue Ausgangsposition für das Christentum: aus Zwängen und Funktionalitäten befreit.
Sollte man unserer Zeit nun (kulturpessimistisch) immer wieder andemonstrieren, was ihr fehlt? Oder ist die beschriebene Lage nicht auch eine reizvolle, attraktive Ausgangsposition für das Christentum? Denn Gott(esglaube) und auch die Entscheidung für ihn wären schließlich aus allen Zwängen und Funktionalitäten befreit. Nicht zuletzt auch von der Phantasie, ihn mittels ausgeklügelter Konzepte „machen zu können“.
Zunächst aber ist dies eine ungewohnte Situation, da viele der bisherigen Strategien im Sinne eines aktivistisch-versuchbaren „Weiter so“ genauso wie das Ausrufen neuer Masterpläne immer sichtbarer ins Leere laufen. Die Herausforderung scheint eher in einer „adventlichen Haltung“ zu liegen: Geistlich gälte es, Ohnmachtserfahrungen auch als unerfülltes Warten zu benennen und als eigenen spirituellen Erkenntnisort zu begehen, theologisch wäre vielleicht ein erneutes oder verändertes „zur Welt kommen“ zu lernen: an jene Orte oder Lebensentwürfe, wo christliches Leben im Sinne des Auftrages „funktioniert“, „Sakrament des Heils zu sein“, wie es Rainer Bucher in Anlehnung an das letzte Konzil sagt.[10]
Und es gibt sie: Orte des solidarischen Lebens aus der christlichen Hoffnung.
Auf katholisch.de erzählte kürzlich ein junger, neugetaufter Student, wie die Begegnung mit einer christlichen Kommilitonin ihm zu einem Schlüsselerlebnis wurde: dass sie auf die Beleidigung ihres Glaubens innerhalb der gemeinsamen Lerngruppe konstruktiv antwortend und „vergebend“ reagiert habe, war für ihn der Anlass, mehr über diesen Glauben erfahren zu wollen.[11] Warum könnten nicht noch weitere Orte und Menschen aufzufinden sein, an bzw. bei denen der alte Gedanke erfahrenen oder verheißenen „Lebens in Fülle“ mit einem persönlich relevant gewordenen Glauben zusammenfällt? Orte des solidarischen Lebens aus der christlichen Hoffnung, wo das geteilte Zeugnis des Bejahtseins durch Gott dazu anhält, aktiv diese Welt zum Besseren hin zu gestalten. Was wäre schließlich von hierher für den Glauben an einen Gott, der das Glück und Heil aller Menschen will, zu lernen?
Freilich: Dies wird institutionell und theologisch-methodisch entsicherter als gewohnt verlaufen – aber es kann auch gelassen-optimistisch machen: dass christliche Verheißungen tragen können, nicht müssen.
Jan Loffeld ist wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster.
(Photo: Rainer Bucher)
[1] F.X. Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum? Freiburg/Brsg. 2011, 172.
[2] Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, Tübingen 31991, 19.
[3] Ebd., 37.
[4] J. Werbick, Soteriologie, Düsseldorf 1990, 9.
[5] H. Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.
[6] Vgl. D. Pollack/G.Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt 2015, 230 u. 232, passim.
[7] Vgl. dazu auch die im Erscheinen begriffene, empirisch basierte Dissertation von Gereon Heuft, Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Münster, „Not lehrt (nicht) beten!“
[8] B.-C. Han, Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, Frankfurt a. M. 2016, 41f.
[9] Vgl. zu solchen Prozessen detailliert ebenfalls: Bude, Gesellschaft der Angst. Zum Verwandeln von Schwächen in Stärken vgl. ebd., 48. Zur Ambivalenz von Herzeigen und Verbergen: vgl. ebd., 121.
[10] R. Bucher, Nicht in Idyllen flüchten. Noch einmal zur Kurskorrektur von Pfarrer Frings (vgl. feinscharz.net; abgerufen 22.11.2016)
[11] Vgl. http://katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/ab-diesem-moment-wollte-ich-mehr-wissen (22.11.2016)