Der Theologe, Redner, Prediger und Publizist Fulbert Steffensky feiert heute am 7. Juli 2023 seinen 90. Geburtstag. Nahezu zeitgleich sind seine neuesten Bibelauslegungen erschienen: «Schutt und Asche. Streifzüge durch die Bibel und das Gesangbuch» (Verlag Radius). Sie komplettieren damit ein Gesamtwerk von mehr als 20 Buchpublikationen. Eine Würdigung von Odilo Noti.
Der 1933 im Saarland geborene und auf den Namen Edmund getaufte Steffensky hatte nach dem Abitur zunächst katholische Theologie studiert und war bei den Benediktinern in Maria Laach eingetreten. 1969, 13 Jahre nach seinem Eintritt, verliess er das Kloster. Den Namen Fulbert behielt er bei. Er konvertierte zum evangelisch-lutherischen Bekenntnis und heiratete die Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle.
Es war die Zeit der Aufbrüche und Proteste. Seit 1966 gab es den Bensbergerkreis, der von den katholischen Publizisten Walter Dirks und Eugen Kogon gegründet worden war, zusammen mit Mitgliedern aus der Pax-Christi-Bewegung. Sölle und Steffensky, die sich an einem interreligiösen Treffen in Israel/Palästina kennen gelernt hatten, stiessen zur Kölner Gruppe des Bensbergerkreises. Der Vietnamkrieg und die Aufrüstung waren zwei entscheidende Herausforderungen, denen sie sich aus einer politischen, aber auch aus einer theologisch-kirchlichen Perspektive stellen wollten.
Politische Nachtgebete in Köln.
Ein Gefäss dafür schufen sie mit den «Politischen Nachtgebeten». Die Bezeichnung rührt daher, dass sich die Gruppe am Essener Katholikentag von 1968 um einen Raum bemühte, die Kirchenoberen den Initiant:innen nicht so recht trauten und ihnen deshalb für ihre Veranstaltung nur eine Randstunde zuwiesen, nämlich nachts um 23.30 Uhr. Wie Steffensky sich erinnert, habe die Gruppe daraufhin gesagt: Dann machen wir eben ein gemeinsames Nachtgebet – kein privat-intimes, sondern ein Politisches Nachtgebet. Weitergeführt wurden die Politischen Nachtgebete später allmonatlich in der evangelischen Antoniterkirche in Köln. Zuvor hatte Kardinal Frings eine Durchführung in der katholischen Petruskirche verboten. In zwei Bänden haben Sölle und Steffensky das «Politische Nachtgebet in Köln» dokumentiert und reflektiert.
Es sei eine konfliktreiche Zeit gewesen, meint Steffensky im Rückblick. Es habe Widerstände unterschiedlicher Art gegen dieses Engagement gegeben. Zum einen opponierte die katholische Kirche dagegen, weil sie im Rheinland völlig mit der CDU verbandelt war. Zum anderen waren die Verantwortlichen der evangelischen Kirche, die grossenteils aus der Bekennenden Kirche kamen, traumatisiert durch die Nazi-Zeit. «Nie mehr Politik in der Kirche!» hiess ihre Devise.
Trotz Konflikten und Repressionsmassnahmen insbesondere von der katholischen Seite beschreibt Steffensky in «Schwarzbrot-Spiritualität» (2005) seinen Übertritt zur evangelischen Kirche als undramatisch: «Ich bin 1969 in die evangelische Kirche eingetreten. Ich sage bewusst nicht konvertiert. Ich habe den Übertritt nicht als Konversion empfunden. Konfessionsgrenzen waren mir schon damals gleichgültig. Es war eher wie ein Umzug von Saarbrücken nach Berlin.» Nicht verschwiegen sei, dass sein Freund Heinrich Böll – nicht zum Klosteraustritt, aber zum Konfessionswechsel – bemerkte: «Muss dat sein!». Er konnte Steffenskys Schritt nicht verstehen. Später trat dann auch er mit seiner Frau aus der katholischen Kirche aus. Die Bölls fanden es dringender, ihre Kirchensteuer nach Ecuador zu spenden, statt der reichen Kölner Erzdiözese zu überlassen. Worauf das Bistum sie pfänden liess.
Öffentliche Rede und Gegenrede.
1975 zog Steffensky von Köln nach Hamburg um, wo er an der Universität als Professor für Religionspädagogik lehrte. 1998 wurde er emeritiert. Mit Dorothee Sölle teilte er sein Leben bis zu ihrem Tod infolge Herzinfarkt auf einer Vortragsreise (2003). Das Ehepaar Sölle-Steffensky vertrat gemeinsame Grundoptionen, was etwa das Verhältnis von Theologie und Gesellschaft, Religion und Politik betraf. Oft hielten sie gemeinsame Vorträge und Reden, bei Veranstaltungen von Friedens- und Solidaritätsbewegungen, auf Kirchentagen oder in evangelisch-katholischen Kirchgemeinden. Bei allem Einverständnis, das sie auszeichnete, legten sie auch ihre Unterschiede offen – in öffentlicher Rede und Gegenrede. Davon zeugen die gemeinsamen Bücher «Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit» (1995) oder «Zwietracht und Eintracht» (1996). Es ging ihnen nicht nur um «linke Selbstkritik», sondern auch um die «Rettung des Zweifels», um die Grundhaltungen des Optimismus, Pessimismus und Skeptizismus oder um Mystik und Widerstand. Sölle fasste es so zusammen, sie würden dasselbe meinen – und zweistimmig singen.
Steffensky war nie «nur» der Ehemann von Sölle. Er pflegte, wie oft angemerkt wurde, einen eigenen Denkstil und eine eher «sanfte religiöse Sprache». Sein Freund, der Hamburger Theologe Hans-Jürgen Benedict, attestierte ihm die Fähigkeit, etwas so schön zu sagen, dass es die Menschen «für den Moment dann auch tröstet und im Glauben befestigt». Als Steffensky vor zehn Jahren den deutschen Predigtpreis für sein Lebenswerk erhielt, verstieg sich «Die Welt» in einem Anflug von absichtsvoller Rührseligkeit zur Aussage, Steffensky, der in seiner theologischen Jugend ein Linker gewesen sei, habe ein «Werk voll Poesie, Milde und Ausgewogenheit» geschaffen. Gerade die letztere Eloge lädt dazu ein, das Politisch-Widerständische, das Zweifelnd-Skeptische, ja das Fröhlich-Anarchische in seinen Texten nicht zu überlesen.
Der lustvolle Ökumeniker.
Seit 2011 lebt Steffensky in Luzern, in zweiter Ehe verheiratet mit der feministischen Theologin Li Hangartner. Er hat seinen Umzug in die Zentralschweiz als «charmante Rückkehr» in die Welt des Katholizismus bezeichnet: «Ich bin froh, dass ich Protestant bin, aber ich schätze diese katholische Welt sehr.» Die immer wieder überraschenden Texte im Schrifttum von Steffensky haben einen Cantus firmus. Darin klingen seine Grundthemen an wie Gott und Gerechtigkeit, Glaube und Hoffnung, Skepsis und Zweifel, Endlichkeit und Tradition. Und nicht zuletzt ist er auch aufgrund seiner Biografie ein lustvoller Ökumeniker, der die Klaviatur der interreligiösen Grammatik beherrscht. Davon soll in einigen Schlaglichtern die Rede sein.
Steffensky spricht in «Fragmente der Hoffnung» (2019) von einer ersten Ökumene, jener zwischen den unterschiedlichen Dialekten des Christentums, sodann von einer zweiten Ökumene zwischen den verschiedenen Religionen und schliesslich von einer dritten Ökumene, die das Gespräch zwischen den nicht-religiösen Menschen und den Religiösen beschreibt. Da sind wir «erst auf dem Weg, zu lernen, Atheisten das gleiche Recht zuzusprechen». Denn es ist nicht leicht, «damit umzugehen, dass Menschen nicht lieben, was wir lieben; dass sie andere Wege gehen als die, die wir gehen. Es ist nicht leicht, fremde Wege wertzuschätzen, sie also nicht zu tolerieren in einem liberalistischen Sinn, sondern sie fraglos zu schätzen. Wir müssen sie tolerieren, also erdulden, also erleiden.»
Vom Mut zur Endlichkeit.
Zunächst geht es Steffensky allerdings um die interreligiöse Dialogfähigkeit im eigenen Hause.1 Schon da haben die christlichen Dialekte der religiösen Sprache erkleckliche Defizite vorzuweisen. Als Beispiel nennt er das gemeinsame Abendmahl. Die Gemeinden sind weiter als die Kirchenleitungen. Letztere verfolgen in der Regel eine «Bewahrungs- und Hinhaltestrategie». Und sie machen damit unfreiwillig klar: «Konflikte in der Kirche entstehen nicht nur durch die Neuerer. Auch die Verzögerungsstrategien bringen die Kirchen auseinander».
Erstens ist Steffensky der Überzeugung, dass nur eine religiöse Gruppe dialogfähig ist, die ihre Endlichkeit anerkennt. Wer sich für einzigartig hält, verfällt dem Zwang zur Einstimmigkeit, die «Fremdheiten» kaum zulässt oder duldet: «Sich für einzigartig zu halten, heisst immer bereit sein zum Eliminieren. Deshalb ist Mut zur Endlichkeit notwendig … Ich wünsche mir eine Kirche und religiöse Gruppen von radikaler Deutlichkeit, die ihre eigenen Traditionen, Geschichten und Lieder kennen und nicht verschweigen. Ich wünsche mir religiöse Gruppen mit Konturen. Zugleich wünsche ich mir eine Religion, die Gott unendlich sein lässt und auf ihre eigene Unendlichkeit verzichtet. Erst sie ist fähig zum Zwiegespräch.»
Allerdings gibt es zweitens nicht nur ein Problem mit religiöser Enge und mit Einmaligkeitsfanatismus. Es gibt auch eines mit dem «religiösen Flanieren», gar der «Flucht in die Fremde». Wer weiss, wer er ist, weiss auch, wer er nicht ist. Es gibt Grenzen, die zu respektieren sind. Grenzen müssen jedoch nicht feindlich sein. Sie stören das Gespräch nicht, sondern ermöglichen es. Man muss eine eigene Sprache haben, um mit anderen zu sprechen. Das Problem der Flucht in die Fremde gibt es deshalb, «weil man dem eigenen Reichtum nicht traut, weil man ihn nicht kennt und weil man sich nicht getraut hat, ihn zu finden».
Drittens ist für das interreligiöse Gespräch von Gruppen Voraussetzung, dass sie Rationalität und Skepsis gegenüber sich selbst zulassen. So bewahrt die Vernunft, «diese schöne, kühle Gefährtin», «die Kühnheit und Leidenschaft des Glaubens» vor den grössten Fehltritten und «bringt seine Bedenkenlosigkeit zu Fall». Nur so kann eine religiöse Gruppe «im Fremden das Eigene erkennen» – den gleichen Ursprung des Lebens.
Suchender Zweifler.
Die Bewahrung der Tradition schliesslich, die zum Führen des interreligiösen Gesprächs unverzichtbar ist, versteht Steffensky als einen schöpferischen Akt (Heimathöhle Religion, 2017), indem er eine Formulierung des tschechischen Theologen Tomáš Halík aufgreift: «Die Tradition ist immer eine Reinterpretation (ein neuer Interpretationsversuch vom Vorherigen – während Traditionalisten an diesem Punkt untreu werden … Wer nicht interpretieren will, hört auf zu bewahren, oder wie der Aphoristiker Elazar Benyoetz sagt: ‹Eine getreue Wiedergabe ist eine echte Fälschung›.»
In «Schutt und Asche» gesteht Steffensky freimütig: «Ich bin ein Freigeist. Die Tradition ist meine Lehrerin, aber ich bin nicht ihre Beute. Zur Tradition kann man nur ein Verhältnis haben, wenn man auch mit ihr brechen kann und wenn wir uns nicht in falscher Faszination jedes Urteil über sie verbieten. Je mehr ich mich einarbeite, einlese, hineindenke in die Texte jener Tradition, umso mehr lerne ich mit ihrem Geist einzelne ihrer Sätze zu kritisieren.»
Steffensky ist offensichtlich ein Gott suchender Zweifler geblieben. Oder wie er ironisch anmerkt: Anders als es die Sentenz besagt, verliert man im Alter nur die Zähne, nicht jedoch den Zweifel.
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Am Samstag, den 8. Juli 2023 folgt der ungekürzte Vortrag von Fulbert Steffensky: „Eine Reise durch meine religiösen Welten“, den er am 5. Juli 2023 in Luzern gehalten hat:
Odilo Noti, Dr. theol., langjähriger Leiter Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas Schweiz, u.a. Präsident der Herbert Haag Stiftung für Freiheit in der Kirche.
- Vgl. zum Folgenden: F. Steffensky, Lassen und nicht im Stich lassen. Momente einer interreligiösen Grammatik: https://www.beaonline.de/wp-content/uploads/2015/06/2009_Jubilaeum_Fulbert_Steffensky_Lassen_und_nicht-im_Stich_lassen_Momente_einer_interreligioesen_Grammatik.pdf. ↩