Odilo Noti kritisiert anlässlich des Agierens der Schweiz in der Unterstützung der Ukraine die Misere der helvetischen Selbstverzwergung.
Nun will die Schweiz also doch noch 25 stillgelegte Leopard-2-Panzer an den Rüstungskonzern Rheinmetall zurückverkaufen. Die Panzer werden nicht in die Ukraine transportiert. Deutschland will damit die Lücken schliessen, die wegen der eigenen Lieferungen an das von Putins Truppen überfallene Land entstanden sind. Die Schweiz wäre so an einer Art Ringtausch beteiligt. Die deutschen Minister Boris Pistorius und Robert Habek hatten in ihrem Schreiben vom 23. Februar 2023 an die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd darum gebeten. Das ist allerdings schon wieder eine Weile her. Dem Vernehmen nach soll Kanzler Scholz kürzlich beim Besuch von Alain Berset, dem gegenwärtigen Schweizer Bundespräsidenten, soviel Druck aufgesetzt haben, dass dieser umgehend nach seiner Rückkehr für den Leopard-Deal zu weibeln begann.
Unverständnis für die helvetisch gemächliche Gangart.
Noch ist die Sache nicht in trockenen Tüchern. Bislang hat trotz Neutralitätsbedenken erst der Nationalrat, die Volkskammer des Parlaments, den Segen dazu erteilt. Im Herbst wird die zweite Kammer, der Ständerat, darüber befinden müssen. Dann dürfte der Weg für den Panzer-Rückkauf frei sein. Angesichts der Lage in der Ukraine stösst die helvetisch gemächliche Gangart bei unseren Nachbarn auf Unverständnis, und die neutralitäts- und exportrechtlichen Bedenken lösen Kopfschütteln aus. Kommt hinzu: Die Weitergabe der Munition für die von Deutschland an die Ukraine gelieferten Gepard-Flugabwehrpanzer hat die Schweiz bereits im November 2022 blockiert. Dabei wäre diese Munition essenziell für den Schutz der Zivilbevölkerung vor den iranischen Kamikaze-Drohnen.
Kurzum: Die Schweiz präsentiert sich in Sachen Neutralität als ein Dürrenmattsches Durcheinandertal – unangemessen, absurd und aus der Zeit gefallen.1 Eigentlich ist die Sachlage klar und eindeutig, wenn das Völkerrecht, so wie es in der Charta der Vereinten Nationen zugrunde gelegt ist, zum Bezugspunkt genommen wird. Darin verpflichtet die UNO die Staatengemeinschaft auf friedliche Konfliktbeilegung. Allen Staaten ist militärische Aggression verwehrt. In einem Aggressionskrieg hat aber der angegriffene Staat das Recht, sich zu verteidigen und auf die Hilfe jener zu bauen, die seine Werte teilen. Dazu gehören neben militärischer Unterstützung ebenfalls Sanktionsmassnahmen.
Dass die Schweizer Behörden sich nicht nur hinter einem inadäquaten Verständnis von Neutralität, sondern auch hinter ihrem Gesetz über die Ausfuhr von Kriegsmaterial verstecken, ist bemühend. Denn das Gesetz lässt Ausnahmen zu. Diese müssten allenfalls über Notrecht konkretisiert werden – was der Bundesrat beim Bankendebakel der Credit Suisse problemlos praktiziert hat …2
Sanktionen gegen Russland sind mit der Neutralität vereinbar.
Wenigstens die Bevölkerung ist einen Schritt weiter als die Regierung. Aufgrund einer im Januar 2023 durchgeführten Umfrage vertraten zwar 91 Prozent der Befragten die Meinung, die Schweiz solle ihre Neutralität beibehalten. Aber 70 Prozent waren der Ansicht, die Sanktionen gegen Russland wären mit der Neutralität vereinbar. Die Regierung hatte bekanntlich erst nach einem einwöchigen Lernprozess unter wachsendem internationalen Druck die von der Europäischen Union erlassenen Sanktionsmassnahmen übernommen. Oder wie es hierzulande üblicherweise heisst: den autonomen Nachvollzug beschlossen.
Die Statistiken des Kieler Instituts für Weltwirtschaft analysieren die seit dem Kriegsbeginn erbrachten Hilfeleistungen von 40 Ländern. Die Schweiz befindet sich mit 350 Millionen Franken, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft von 771 Milliarden BIP, auf den hinteren Rängen. Zwar rechnen die Kieler Zahlen auch die Militärhilfe ein. Hingegen wird der von den politischen Verantwortlichen gepflegte Diskurs, die Schweiz liefere zwar keine Waffen, leiste aber grosszügige humanitäre Hilfe, als unzutreffend entlarvt. Auch dieser Umstand macht die neutralitätspolitischen Positionsbezüge des helvetischen Sonderlings nicht verständlicher.
Aussenpolitik ist Wirtschaftspolitik.
Was dieser Neutralitätsdiskurs jedoch erkennen lässt, ist die Devise: je weniger Aussenpolitik, desto besser. Oder noch präziser: Aussenpolitik ist im wesentlichen Wirtschaftspolitik, wenn immer möglich unter der Flagge der Neutralität. Aufgrund ihres aussenpolitischen Defizits hat die Schweiz nicht zur EWG, EG und EU gefunden. Mit Ausnahme des Beitritts zur OECD trat sie den wichtigsten multilateralen Organisationen mit grosser Verspätung bei. Das gilt etwa für das GATT, die Weltbank, den IMF und gerade auch für die UNO (2002). In einem vielsagenden Kontrast dazu steht die frühe Anerkennung der Volksrepublik China nur wenige Monate nach deren Ausrufung. Ihre schnelle Reaktion verschaffte der Schweiz später einen wichtigen Vorteil bei der Öffnung der chinesischen Märkte. Zur Überwindung der Apartheid in Südafrika wiederum hat die offizielle Schweiz wenig beigetragen.
Neben dem aussenwirtschaftlich motivierten Eigennutz oder Opportunismus ist für die politische Abstinenz der Schweiz im internationalen Bereich ein Verhalten verantwortlich, das Tim Guldimann, früherer Botschafter in Berlin und OSZE-Vermittler in der Ukraine, als «Selbstverzwergung» bezeichnet hat. Die Schweiz – obwohl unter den Top-20-Wirtschaftsstaaten – macht sich selbst kleiner und bedeutungsloser als sie in Wirklichkeit ist. Sie leidet unter dieser Selbstverzwergung nicht aus Bescheidenheit oder Demut, sondern weil sie opportunistisch alles beim Alten belassen, keine Entscheidungen treffen und keine Veränderungen eingehen will. Selbstverzwergung bedeutet die Verweigerung von Verantwortung.
Die Schweiz leistet sich das Laster der Selbstverzwergung, obwohl sie – beispielsweise – weltweit der wichtigste Rohstoff-Handelsplatz ist. Schätzungen zufolge beträgt der Weltmarktanteil beim Erdöl 35 %, bei Metallen 60 %, bei Getreide 50 % und bei Zucker 40 %. Die wirtschaftliche Bedeutung des Rohstoffsektors übertraf 2022 erstmals die Wertschöpfung des gesamten Finanzsektors, wie die Nichtregierungsorganisation «Public Eye» dokumentiert. Der Rohstoffsektor liegt heute auch weit vor dem Maschinenbau oder dem Tourismus. Die Rolle der Schweiz als global tätige Finanzdienstleisterin darf gerade im Blick auf die Ukraine bzw. die russische Vermögensverwaltung nicht unterschätzt werden. Deshalb soll dieser Aspekt etwas ausführlicher zur Sprache kommen, zumal er eng mit den Sanktionsmassnahmen gegen Russland verknüpft ist.
Nachsichtiger Umgang mit Oligarchengeldern.
Scott Miller, der US-amerikanische Botschafter, wurde in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung deutlich. Im Blick auf die 7,75 Milliarden Franken an russischen Geldern, die von der Schweiz bislang eingefroren wurden, urteilte er, dies sei ein Klacks. Man müsse davon ausgehen, dass es in der Schweiz das 50-bis 100-Fache an russischen Potentaten-, Banken- und Oligarchengeldern gäbe. Die Botschafter der G7-Staaten legten mit dem Vorwurf nach, die Schweiz würde mit den Oligarchengeldern zu vorsichtig oder – zutreffender – zu nachsichtig umgehen. Ausserdem solle sich die Schweiz an der entsprechenden G7-Taskforce beteiligen. Die Regierung verwies in ihrer wenig aussagekräftigen Antwort auf die Tatsache, die von der Schweiz blockierten Gelder würden immerhin einem Drittel der von der EU blockierten Gelder in der Höhe von 24 Milliarden Euro entsprechen. Diese Aussage ist – eher unbeabsichtigt – ein Hinweis auf die reale Bedeutung des Schweizer Finanzplatzes.
Die Neue Zürcher Zeitung versuchte zu ermitteln, wie umfangreich die in der Schweiz parkierten russischen Gelder sind.3 Auch wenn sie zu guter Letzt keine exakten Zahlen liefern konnte, hat sie doch einiges Licht ins Dunkel gebracht. So schätzt die Schweizer Bankiervereinigung die Einlagen russischer Kunden auf 150 Milliarden Franken. Doch diese Gelder beziehen sich nur auf Vermögen, die unmittelbar flüssig zur Verfügung stehen. Beteiligungen an nicht-kotierten Unternehmen, Kunst, teurer Schmuck oder Jachten sind nicht eingerechnet.
Allerdings verfügte die Schweiz im Frühjahr 2022, dass selbst nicht mit Sanktionen belegte Russinnen und Russen Bankeinlagen, welche die Höhe von 100’000 Franken übersteigen, melden müssen. Es gibt auch hier wichtige Einschränkungen. Von der Meldepflicht befreit sind nämlich Einlegerinnen und Einleger, die neben dem russischen auch über einen Schweizer Pass oder die Staatszugehörigkeit zu einem EWR-Land verfügen – also keine Meldepflicht für russische Anleger aus allen EU-Staaten plus Norwegen, Island und Liechtenstein. Schliesslich leisten sich Oligarchen-Familien zur Verwaltung ihrer Grossvermögen (ähnlich wie Bill Gates oder die Agnelli-Familie) nicht nur herkömmliche Banken, sondern auch sogenannte Family-Offices, die im Vergleich zu Privat- und Grossbanken ungleich «lascheren Regularien» unterliegen. Und diese Offices sind auf den Finanzmärkten immer wichtigere Investoren. Statistiken schätzen, dass sie heute rund 6000 Milliarden Dollar verwalten.
Neutralität als Mittel zur Erreichung aussenpolitischer Ziele.
Wie der frühere Schweizer Botschafter Daniel Woker zu Recht bilanziert, erlangt die Schweiz auf dem internationalen politischen Parkett nur Glaubwürdigkeit, wenn sie zu einem sach- und situationsgerechten Umgang mit den blockierten und gemeldeten russischen Vermögenswerten findet. Konkret besagt dies, dass die blockierten Gelder wegen der Mitschuld ihrer Besitzer an der Aggression Russlands konfisziert und für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden müssen. Für die zweite Kategorie, die gemeldeten Vermögenswerte, muss die Schweiz den Vorschlag der EU-Kommission umsetzen: Der laufende Ertrag kommt ebenfalls dem Wiederaufbau zugute. Die Werte selbst werden den Eigentümerinen und Eigentümern wieder zur Verfügung gestellt, sobald ein allseits akzeptierter Friedensplan für die Ukraine vorliegt.
Die Schweiz käme damit auch den aussenpolitischen Zielen und Leitlinien nach, wie sie in Art. 54 der Bundesverfassung formuliert sind: Linderung von Not und Armut in der Welt, die Achtung der Menschenrechte, die Förderung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Von Neutralität hingegen ist keine Rede. Sie ist richtigerweise bloss als Mittel zur Erreichung der genannten aussenpolitischen Ziele zu begreifen. Und sie ist nur so viel wert, wie sie zu deren Verwirklichung beiträgt. Ein Ersatz für aussenpolitisches Handeln ist sie erst recht nicht.
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Odilo Noti, Dr. theol., langjähriger Leiter Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas Schweiz, u.a. Präsident der Herbert Haag Stiftung für Freiheit in der Kirche.
Bild: https://de.freepik.com/fotos-kostenlos/ballon-schweiz_36613640.htm
- Ausführlich erörtert Geschichte, Systematik und Widersprüche eidgenössischer Neutralitätspolitik das eben erschienene Buch: Marco Jorio, Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte, Zürich 2023, 501 Seiten. ↩
- Auch der neueste Entscheid des Bundesrates vom 28. Juni 2023 fügt sich nahtlos in das helvetische Durcheinander in Sachen Neutralität ein: Die Schweizer Regierung hat es am 28. Juni 2023 abgelehnt, 96 Leopard-1-Panzer, die derzeit in Italien eingelagert sind, in die Ukraine auszuliefern. Diese können nun nicht in Deutschland instand gesetzt und anschliessend an die Ukraine reexportiert werden. ↩
- Das Versteckspiel der Oligarchen, in: Neue Zürcher Zeitung, Samstag, 22. April 2023, S. 10 und 11. ↩