Sommerzeit ist Reisezeit. Albert Gerhards lädt ein zu einer spannenden Entdeckungstour des zeitgenössischen Kirchenbaus auf der „Straße der Moderne“.
Moderne Kirchen haben auf dem Immobilienmarkt einen schweren Stand. Wer möchte schon gern hinter Beton wohnen, dann schon lieber hinter Spitzbögen! So fiel inzwischen mancher bedeutende Kirchenbau des 20. Jahrhunderts der Abrissbirne zum Opfer, denn vor allem Kirchen aus dieser Zeit werden gern als erste ausgemustert.
Längst schon steht an Stelle eines verschwundenen markanten Kirchengebäudes ein banaler Supermarkt oder eine kaum weniger anödende Investoren-Wohnanlage. Dies ist nicht zuletzt städtebaulich ein Desaster, da Neubausiedlungen oft auf ein Kirchengebäude als architektonisch qualitätsvollen Mittelpunkt hin angelegt wurden. Reißt man es ab, verliert das ganze Viertel sein Gesicht oder – je nachdem – sein Herz.
Einzigartige Sakralbaulandschaft
Die weltweit in ihrer Vielfalt und Qualität einzigartige deutsche Sakralbaulandschaft der Moderne droht weitgehend zu verschwinden, bevor sie überhaupt in ihrer ästhetischen und geistig-geistlichen Qualität wahrgenommen worden ist.
Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Einer ist das jahrzehntelange Versäumnis der Vermittlung der zeitgenössischen Sakralarchitektur und der Gegenwartskunst innerhalb und außerhalb von Theologie und Kirche. Diese blieb immer das vielfach belächelte, jedenfalls marginalisierte Anliegen weniger. In vielen Gemeinden ging schon nach der Erbauergeneration das Verständnis für ihre moderne Kirche verloren, sowohl in Bezug auf deren architektonisch-künstlerische als auch liturgisch-spirituelle Dimension. Dementsprechend wurden viele Räume in der Folgezeit mehr verunstaltet als gestaltet.
Erstaunliches Interesse im Ausland
Manchmal gelingt es, sofern die Gebäude im kirchlichen Gebrauch geblieben sind, einem Raum durch Orientierung am Ursprungskonzept seine ursprüngliche Qualität und der Gemeinde einen adäquaten Feierraum wiederzugeben. Längst hat die Kunst- und Architekturgeschichte international den außerordentlich hohen Standard der Sakralarchitektur im deutschsprachigen Raum erkannt. Dem Desinteresse auch nicht weniger Verantwortlicher in den Kirchenleitungen hierzulande am Kirchenbau der Moderne steht ein erstaunliches Interesse im europäischen und außereuropäischen Ausland an diesem Kulturgut gegenüber.
Straße der Moderne
Das unter dem Dach des Deutschen Liturgischen Instituts Trier von Dr. Andreas Poschmann initiierte und geleitete und von Manuel Uder koordinierte Projekt „Straße der Moderne“ hat sich zum Ziel gesetzt, mit den Möglichkeiten heutiger Kommunikation das Anliegen der Wahrnehmung und Wertschätzung moderner Kirchen zu fördern. Als glücklicher Umstand erwies sich, dass neben den vielen bereits existierenden Straßen (Straße der Romanik, des Barock…) die Straße der Moderne noch nicht besetzt war.
Dass diese nun zu Kirchenbauten evangelischer, katholischer und ökumenischer Provenienz führt, ist sachlich vollauf berechtigt; denn im Kirchenbau der Moderne spiegelt sich die Architekturgeschichte der Zeit und damit auch die Zeitgeschichte wider. Ein Grund für dieses Phänomen waren die Reflexe des Aufbruchs der Moderne in den verschiedenen Bewegungen beider Kirchen, die diese zumindest in Teilen gegenüber der Avantgarde aufschlossen. Trotz mancher restaurativen Tendenzen konnte sich die Moderne in der Kirchenarchitektur weitgehend durchsetzen und eine erstaunliche Vielfalt von Gebäuden vor und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg hervorbringen.
Entdecken, erleben, ankommen
Diese ist nun in der „Online-Ausstellung“ www.strasse-der-moderne.de zu besichtigen, und nicht nur das: Die aufwendig erstellte Internetseite führt einen in eine eigene geistig-sinnliche Welt ein. Seit Juli 2015 wird wöchentlich ein neuer Kirchenbau von kompetenten Autorinnen und Autoren ein- und vorgestellt. Dabei wird man komfortabel in und durch den Bau geführt und kann sich mit allen wichtigen Informationen versorgen oder auch nicht, über geschichtliche und städtebauliche Kontexte, Architektur und Kunst, Liturgie und Theologie sowie über die Biographie der Architekten.
Eingeteilt ist das Ganze in drei große Kapitel: Kirchen entdecken, Architektur erleben, unterwegs ankommen. Da der Tourismus die Triebfeder des Projekts ist, hat man die regional aufgeteilten Objekte mit google-maps verlinkt, so dass man schnell unterwegs nach möglichen Zielen Ausschau halten kann. Auf diese Weise kann man, auch wenn man nicht speziell am modernen Kirchenbau interessiert ist und sich z.B. auf einer Städtereise mit vornehmlich historischen Kirchen befindet, manche Entdeckung in der Moderne machen. Wichtig sind zudem praktische Angaben wie Anschrift, Kontakte, Öffnungs- und Gottesdienstzeiten sowie Literaturhinweise für die vertiefte Befassung.
Keine bloßen Monumente, offen für Prozesse
Die Auswahl der Kirchengebäude wurde und wird durch ein interdisziplinär besetztes Kuratorium getroffen, zusätzlich werden Beraterinnen und Berater hinzugezogen. Neben den ausführlich vorgestellten Kirchen (Kategorie A) sollen auch Hinweise auf weitere lohnende hinzukommen (Kategorie B). Zunehmend werden auch Verluste bzw. Umnutzungen zu verzeichnen sein, insgesamt handelt es sich also um ein work in progress.
Wünschenswert wäre z.B. neben der Vorstellung der Architekten auch die der beteiligten Künstlerinnen und Künstler sowie in Einzelfällen auch der Promotoren seitens der Kirchen, die nicht selten die Inspirationen für außergewöhnliche Raumlösungen gaben. Dann würde auch deutlicher, dass Kirchenbauten niemals bloße Monumente sind, sondern Ergebnisse von Prozessen, die mit der Einweihung nicht abgeschlossen sind, sondern fortdauern.
Schlummernde Potenziale entdecken
Damit ist die „Straße der Moderne“ auch eine Einladung an die Ortsansässigen, die schlummernden Potenziale der modernen Kirchenräume über ihre liturgischen Funktionen hinaus zu entdecken und im Sinne einer offenen Gastfreundschaft zu entwickeln – nicht zuletzt zum eigenen Vorteil.
Albert Gerhards ist emeritierter Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Bonn.
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