Heiner Bielefeldt, Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats legt die Problematik offen, die sich hinter dem zunächst redlich erscheinenden Eintreten für „traditionelle Werte“ verbirgt. feinschwarz.net dokumentiert den Festvortrag am Dies academicus der FAU 2015.
Ab und zu gibt es auch in den Gremien der UNO richtige Grundsatzdebatten und solch eine Grundsatzdebatte fand im September 2012 statt, als im Menschenrechtsrat eine Resolution mit dem Titel „Promoting Human Rights and Fundamental Freedoms through a Better Understanding of Traditional Values of Humankind“, zu Deutsch: „Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch ein besseres Verständnis von traditionellen Werten der Menschheit“ vorgelegt wurde. Die Beratung über diese Resolution war allerdings keine Sternstunde des Menschenrechtsrats.
„Traditional values“: ein undefinierter Begriff
Die verwirrenden Debatten mündeten denn auch in ein gespaltenes Votum: Eine knappe Mehrheit unterstützte die Resolution, eine starke Minderheit kämpfte zum Teil erbittert dagegen, darunter auch die im Menschenrechtsrat vertretenen EU-Staaten, die die Resolution allesamt ablehnten. Der Zentralbegriff „traditional values“ (traditionelle Werte) blieb in dem Resolutionstext völlig undefiniert. Das erweckte nachvollziehbar Misstrauen und die Tatsache, dass die Quelle des Textes und die treibende Kraft in der Debatte Russland war, vermochte die Situation nicht zu wenden.
Russland also, ein Staat mit zunehmend autoritären Tendenzen, ein Staat, der Druck ausübt auf kritische Journalisten, in dem zivilgesellschaftliche Organisationen systematisch als „ausländische Agenten“ diskreditiert werden; in dem Versammlungsfreiheit immer mehr stranguliert wird; ein Staat, der eine aggressivere Rhetorik fährt gegen sexuelle wie religiöse Minderheiten: dieses Russland initiiert die Debatte über traditionelle Werte. Da liegt der Verdacht nahe, dass über diesen undefinierten, völlig verschwimmenden Begriff der „traditional values“ Grauzonen eröffnet werden sollen, Grauzonen für staatliches Ermessen; dass es darum gehen könnte, inmitten der Menschenrechtsdebatte Relativismus zu implantieren, und zwar ausgerechnet im Herzgremium der internationalen Menschenrechtspolitik: im Human Rights Council in Genf.
Vorwurf: Menschenrechte seien ohne Tradition und Wertegrundlage
Zwischen den Zeilen ließ sich ein doppelter Vorwurf entdecken, nämlich einmal der Vorwurf, Menschenrechte seien traditionslos, ein Konstrukt liberaler Eliten, Ausdruck moderner Aufklärung, also etwas höchst Künstliches, etwas ganz Abstraktes, fern von der Bevölkerung und ihren lebensweltlichen ethischen Traditionen, vielleicht sogar ein Element der Zerstörung und deshalb bräuchten sie eine neue Erdung. Und der zweite Vorwurf: Menschenrechte seien ohne Wertgrundlage, Ausdruck eines rein positivistischen Rechts, einer Freiheit ohne Verantwortung, kurz: ein moralisch anspruchsloses Projekt, vielleicht gar Ausdruck einer Verirrung, insbesondere im Genderbereich. Mit dieser düsteren Diagnose verbindet sich das Angebot einer Therapie, nämlich die Rückkehr zu „traditionalen Werten“, eine erneute Rückbindung der Menschenrechte an traditionelle Werte, von denen her sie interpretiert werden sollten.
Inszenierung: Russland als Schutzmacht christlicher Werte
Der Preis für diese Therapie wäre allerdings hoch; er bestünde im Verlust an Klarheit, in der Auflösung all der präzisen Konturen, die die Menschenrechte erhalten haben in den letzten Jahrzehnten – durch Konventionen, die Erarbeitung menschenrechtlicher Normen. Bedauerlicherweise fand dieses Projekt des russischen Staates auch die Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche. Die russisch-orthodoxe Kirche hat in einem Positionspapier 2008 zu den Menschenrechten ein zaghaftes „Ja“ und ein herzhaftes „Aber“ formuliert, also ein Ja zu den Menschenrechten gespickt mit allerhand Vorbehalten im Namen nationaler Souveränität, kultureller Identität und wiederum nicht näher definierter moralischer Werte. In enger Verbindung mit der russisch-orthodoxen Kirche inszeniert sich nun Russland auch in der UNO immer mehr als christliche Schutzmacht, als Schutzmacht christlicher Werte.
Das gilt übrigens auch für die Nahost-Politik. Die Führung in der UNO in der Debatte über Blasphemie, vor fünf Jahren noch bei Pakistan, ist mittlerweile zu Russland übergegangen und auch in der Positionierung gegen den Westen zieht Russland die christliche Karte gegen das angeblich postchristlich dekadente Europa, die EU. Die Menschenrechte werden hineingezogen, eingespannt in diesen aufgebauten Gegensatz „Moderne versus Tradition“, Menschenrechte gelten mithin als Manifestation einer bodenlosen, einer sinnlosen, einer morallosen, einer wertlosen Moderne – es sei denn, man korrigiert diesen Kurs durch Rückbindung an „traditional values“, wobei der autoritäre Zungenschlag nicht zu überhören ist.
Die Aufgabe besteht nun genau darin, diesen Gegensatz aufzubrechen. Ähnliche Pseudo-Gegensätze geistern seit vielen Jahren durch die Debatten: einmal der immer wieder beschworene Gegensatz zwischen Menschenrechten als Ausdruck eines Individualismus, also eines individualistischen Lebensstils einerseits und gemeinschaftlichen Werten andererseits. In solcher Pauschalität ist dieser Antagonismus vollständig falsch; das einzig Richtige daran ist, dass Menschenrechte Rechte jedes Menschen, und zwar Rechte des Menschen als Menschen, vorgängig zu konkreten Gruppenbildungen sind. In diesem Sinne kann man sagen: sie sind Rechte jedes Individuums. Aber ausgeübt werden sie in Gemeinschaft. Jedes Menschenrecht hat eine Gemeinschaftsdimension. Nehmen wir Versammlungsfreiheit (versammeln Sie sich mal individuell), Vereinigungsfreiheit, Gewerkschaftsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit.
Provokation: Gemeinschaftsdimension der Religionsfreiheit
Das Provokante der Religionsfreiheit ist für viele Staaten gerade die Gemeinschaftsdimension, nicht der individuelle Glauben, sondern kritisch wird es, wenn es darum geht, Infrastrukturen aufzubauen. Menschenrechte lassen sich nicht entziffern innerhalb dieses aufgebauten Dualismus von Individuum versus Gemeinschaft, sondern es geht um Freiheit versus Autoritarismus. Das ist die Stoßrichtung: Freiheit und zwar gegen die Vergewaltigung durch Kollektive, gegen Zwangsmitgliedschaften, gegen Zwangskonversionen, gegen Zwangsverheiratung, aber auch genauso eben auch gegen Zwangsindividualisierung, gegen die zwangsweise Ausgrenzung, gegen die Ausbürgerung von Dissidenten, gegen die Exklusion von Menschen mit Behinderung, gegen das erzwungene Versteckspiel von Lesben und Schwulen, die für ihre Partnerschaft, für ihre Verantwortungsgemeinschaft keinen Raum finden, ja und gegen das Aussperren von Flüchtlingen durch Stacheldraht bewehrte Zäune. Kurz: es geht um freie Vergemeinschaftung, freie Vergesellschaftung, freie Kommunikation, die völlig verbaut wird durch diesen falschen Antagonismus von Individualismus versus Gemeinschaftsgeist.
Es geht nicht um Menschenrechte gegen Gott, allerdings gegen Theokratien.
Genauso unsinnig ist der Gegensatz „Menschenrechte gegen Gottesrechte“, auch eines der Motive, die immer wieder durch die Debatten wabern. Menschenrechte, „human rights“, das klingt für viele nach „humanism“ und weckt im Englischen übrigens andere Assoziation als das alte deutsche Wort Humanismus. Im Deutschen denkt man am ehesten an Humboldt oder Erasmus von Rotterdam. „Humanism“ klingt im Englischen demgegenüber eher nach Atheismus: „humanist society“. „Human rights“, „humanism“, „atheism“ und mit Michael Ignatieff „Humanity worshipping itself“ – das sind die Klischees, gegen die dann Religion gesetzt wird. Das ist schon deshalb völlig falsch, weil eines der klassischen Menschenrechte – nämlich die Religionsfreiheit – ja genau darin besteht, dass Menschen frei sein sollen, sich zur Religion zu bekennen. Es geht nicht um Menschenrechte gegen Gott, wohl allerdings gegen Theokratien, nämlich im Namen der Freiheit – auch der religiösen Freiheit – gegen alle Formen eines theokratischen Zwangs.
Zurück zum Anfang. Neuerdings haben wir neben diesen falschen Antagonismen von Individuum versus Gemeinschaft oder Menschenrechten versus Gottesrechten auch das noch: Moderne gegen Tradition. Dabei sind Menschenrechte weder traditionell noch sind sie antitraditionell, man könnte sie, wenn man will, „posttraditionell“ nennen. Eigentlich bin ich kein Freund dieser Adjektive, die mit „post“ anfangen. Aber ich glaube, es ist in diesem Falle nicht ganz verkehrt, Menschenrechte posttraditionell zu nennen. Denn der historische Ort der Menschenrechte sind die sich pluralisierenden Gesellschaften.
Wir haben heute überall in der Welt einen irreversiblen Pluralismus, nicht nur der Religionen, der Weltanschauungen, auch der ethischen Überzeugungen, d. h. auch der ethischen Lebenswelten. Wir kennen deshalb längst einen Pluralismus auch der „traditional values“. Das Zusammenleben in Pluralismus, auch in ethischen Fragen sich radikal pluralisierenden Gesellschaften ist eben nicht mehr möglich durch Rückgriff auf das, was fraglos immer gilt. Das kann nicht funktionieren. Die Beschwörung fragloser Geltung wird immer mehr zum gewaltsamen Tabu, zur Einzäunung von Traditionen, zum Stacheldraht bewehrten Abendland, zur Zerstörung von Traditionen.
Verständigung setzt voraus, Traditionsgrenzen zu überschreiten.
Und hier kommen nun die Menschenrechte ins Spiel. Die Menschenrechte knüpfen an die Menschen als verantwortliche Interpreten auch ihrer ethischen Lebenswelten an, also der Lebenswelten, in denen sie sich selbst vorfinden, denen sie sich verpflichtet fühlen, die zugleich von ihnen eigenständig, mündig interpretiert werden können. Das findet institutionelle Rückendeckung in den Menschenrechten, etwa im Menschenrecht auf Gewissensfreiheit, auf Religionsfreiheit, Weltanschauungsfreiheit, Meinungsfreiheit, die kommunikativen Freiheiten, Medienfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit. Es geht stets um Rechte gleicher Freiheit für alle. Das ist die Kurzformel der Menschenrechte. Das heißt, auch die ethischen Traditionen werden auf diese Weise transparent auf die Interpretationsleistungen derjenigen, die sich in ihnen finden, sich ihnen verbunden fühlen.
Menschenrechte nicht Abriss traditioneller Werte, sondern ihre reflexive Öffnung
Die Posttraditionalität der Menschenrechte meint deshalb gerade nicht den Abbruch von Traditionen. Menschenrechte fungieren nicht als Abrissbirne traditioneller Werte, sondern ermöglichen die reflexive Öffnung von Traditionen unter den Bedingungen eines irreversiblen, und zwar mittlerweile weltweit irreversiblen, Pluralismus. Damit werden auch ethische Traditionen geöffnet für Kritik, aber auch für mündige Affirmation, für neue Interpretationen, für kritische Aneignungen, neue Entdeckungen, Wiederentdeckungen. Darunter geschehen Entdeckungen etwa aus feministischer Sicht, Bibellektüre aus der Perspektive von „queer theology“, die religiöse Botschaft im Horizont der Erfahrungen von sexuellen Minderheiten liest. In zarten Ansätzen gibt es mittlerweile „queer theology“ übrigens auch bei Muslimen.
Menschenrechte als Ermöglichung der Interpretation ethischer Lebenswelten bringen dann vor allem einen Begriff ganz ins Zentrum: die Würde des Menschen als Verantwortungsobjekt. Auch ethische Traditionen werden daraufhin noch einmal ganz besonders transparent: auf die Würde des Menschen als Verantwortungsobjekt. Menschenwürde ist gewiss kein neuer Begriff, aber neu ist, dass sie nun universalistisch und egalitär verstanden wird: also die gleiche Würde aller. Die gleiche Würde aller Menschen als Verantwortungsobjekte, die in der Rechtsordnung ihre institutionelle Rückendeckung findet. Genau deshalb haben Menschenrechte den Status „unveräußerlicher“ Rechte, in denen die Prämisse jedweden sinnvollen Miteinander-Handelns, nämlich der Respekt vor der Menschenwürde eine institutionelle Rückendeckung erhält. Menschenrechte erweisen im Blick auf die Menschenrechte aber eben auch als moralisch gehaltvoll. Sie sind moralisch anspruchsvoll und brauchen keine externe Moralzufuhr durch verschwiemelte „traditional values“.
Menschenrechtssemantik ohne Menschenrechtskonzept
Die UN-Resolution über „traditional values“ im September 2012 ist nicht das Ende einer Debatte, sondern diese Debatte geht weiter, auch in der UNO. Sie durchzieht die verschiedensten Institutionen und Foren der Vereinten Nationen und produziert dabei immer wieder neue Varianten. Wir haben jetzt zum Beispiel eine Debatte über „traditional family values“. Darin manifestiert sich eine möglicherweise immer schärfer werdende Polarisierung, leider auch in der internationalen Menschenrechtspolitik. Wir erleben das seit einigen Jahren: Neue Bruchlinien treten aus dem Herzstück der internationalen Menschenrechtspolitik hervor. Diese Bruchlinien fressen sich gleichsam hinein in die menschenrechtliche Semantik, die dadurch oft recht doppelbödig werden kann. Die Resolution vom September 2012 ist ein Beispiel solcher doppelbödiger Menschenrechtssemantik, hinter der kein erkennbares Menschenrechtskonzept mehr steht. So löst sich womöglich eine diffuse Menschenrechtssemantik von jeder sinnvollen Rede über Menschenrechte ab – auch von den geltenden Menschenrechtsnormen, die im internationalen Recht niedergelegt sind. Außerdem verstrickt sich diese Semantik in Pseudo-Alternativen, durch die die menschenrechtliche Agenda zerrissen, fragmentiert, zerfetzt zu werden, droht.
Es braucht Leidenschaft und ein hohes Maß an Klarheit.
Das alles ist ernst und verlangt Engagement. Es verlangt keine faulen Kompromisse, sondern ein systematisches Gegenhalten, entschiedenes Gegenhalten mit gleichzeitig großer Klarheit, denn auch die liberalen Verteidiger der Menschenrechte gehen manchmal denselben falschen Disjunktionen auf den Leim und kommen von der anderen Seite her ebenfalls zu dualistischen, antagonistischen, die Menschenrechtsagenda zerfetzenden Schlussfolgerungen.
Deshalb braucht es neben Entschiedenheit, Leidenschaft, kommunikativer Sensibilität auch ein hohes Maß an Klarheit bezüglich der Kategorien, in denen wir über Menschenrechte reden, in denen wir Menschenrechtspolitik betreiben. Das ist nicht einfach, aber für die Zukunft der Menschenrechte eine der großen Hoffnungen unserer Zeit. Für die Zukunft der Menschenrechte sollte uns keine Investition zu hoch sein.
Transkription des Festvortrags von Prof. Bielefeldt am Dies academicus der FAU 2015. Der Duktus mündlicher Rede wurde beibehalten: https://www.fau.de/universitaet/das-ist-die-fau/veranstaltungen/dies-academicus/dies-academicus-2015/
Bild:Rainer-Sturm / pixelio.de