Der katholischen Kirche fehlen die Priester. Der guten, alten Pfarrei kostet das die Existenz. Das tut vielen weh, kann man aber nutzen. Zum Beispiel zur endgültigen Überwindung des Klerikalismus. Von Rainer Bucher.
I.
Man soll nicht bejubeln, was ungefragt über einen kommt. Dass die alte, gewohnte Pfarrei aufgelöst und in einen Pfarrverband, in Seelsorgeräume, „Pfarreien neuen Typs“, „Pfarreien der Zukunft“ oder in wie immer auch kreativ benannte Größen überführt wird, geschieht selten freiwillig und es geschieht auch nicht unbedingt aus guten Gründen. Der katholischen Kirche fehlen schlicht die Priester. Das müsste nicht unbedingt sein, es steht aber nicht in der Macht der Theologie und auch nicht der normalen Gläubigen, über die Zulassungsbedingungen zum Priestertum zu entscheiden. Sie müssen es also auch nicht verantworten.
Die Konsequenzen der Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen der Verantwortlichen betreffen aber dann doch das ganze Volk Gottes: Es muss mit den Folgen des Priestermangels umgehen. Da aber gilt, was für alles, das über einen kommt, gilt: Man muss die Chancen nutzen, die es bietet, und die Gefahren vermeiden, die es birgt.
Was sind die Gefahren? Dass es so weiter geht wie bisher, nur schlechter und zwar für alle. Der Priester wird zum fremden Sakramentenspender, die Gläubigen verlieren ihre gewohnte religiöse Heimat und bleiben in der Abhängigkeit vom noch etwas entrückteren Pfarrer, und auch die „Pfarre der Zukunft“ beschäftigt sich weiterhin vor allem mit sich selbst: Jene, für die man sich nicht interessiert und die sich nicht für uns interessieren, sind weiterhin gleichgültig.
Viele befürchten dies und die entsprechende Kritik ist weit verbreitet, auch in Teilen der Pastoraltheologie. Diese Kritik führt freilich nicht weiter, denn sie sehnt sich nach etwas zurück, was es nie gegeben hat und in spätmodernen Zeiten schon gar nie geben wird: die Idylle einer quasi großfamiliären Pfarrgemeinde.
Die reale Chance einer pastoralen Neuorientierung.
Worin aber liegen die Chancen? Es gibt eine und sie ist groß. Es ist die Chance der pastoralen Neuorientierung, einer Neuorientierung, von der alle etwas haben: die Priester, weil sie endlich vom klerikalistischen Anspruch, allen alles sein und alles „überschauen“ zu müssen, befreit werden, die engagierten Christinnen und Christen, weil sie einen größeren Handlungs- und Entscheidungsspielraum bekommen, vor allem aber jene, die bislang überhaupt nicht in den Blick des Gemeindemilieus kamen, weil man sich für sie und ihr Leben endlich interessiert.
Diese drei Chancen sind real, und würden, nützte man sie nur, einen wirklichen Schritt nach vorne für die katholische Kirche hierzulande bedeuten.
II.
Als Erbe der spätantiken Konstantinischen Formation, der frühneuzeitlichen Institutionalisierungsprozesse von Kirche und der reaktiven Schließung im 19. Jahrhundert denkt und entwirft sich die katholische Kirche immer noch primär von ihren Sozialformen her: als globale Papstkirche, als regionales Bistum, als lokale Gemeindekirche. Sie denkt den Raum geographisch, sich selbst institutionell und ihre Prozesse repetitiv.
Sich selbst von der eigenen Aufgabe her denken – in offenen Such- und Evaluationsprozessen.
Es ist aber theologisch wie soziologisch weit angemessener, den Raum als soziale Größe, sich selbst von der eigenen Aufgabe her und die eigenen Prozesse als permanente Innovation zu denken. Das aber ist nur in offenen Such- und laufenden Evaluationsprozessen möglich.
Auf konzeptioneller Ebene hat die katholische Kirche die Prinzipien eines solchen Umbaus in der Ekklesiologie des II. Vatikanums bereits zur Verfügung, vor allem im aufgabenorientierten „Zeichen der Zeit“-Begriff, im entklerikalisierten Pastoralbegriff und in der inklusivistischen Volk-Gottes-Theologie. Aber in der gespaltenen Rezeption des Konzils bis zu Papst Franziskus wurde viel Zeit verloren, diese bereit liegenden Instrumentarien zu nutzen.
Ein erster Schritt wäre, sich von der alten Herrschaftskategorie „Überschaubarkeit“ zu verabschieden und dafür Zielkategorien wie „Erreichbarkeit“, „Zugänglichkeit“, „Ansprechbarkeit“, also Dienstkategorien, zu etablieren. „Überschaubarkeit“ ist eine typisch neuzeitliche Disziplinierungskategorie. Alles zu sehen ist ein lange unerreichtes, aber immer erreichbareres Ziel moderner Herrschaft.
Eine Ausrichtung auf die Prinzipien Gastfreundschaft, Spontaneität und (mögliche) Anonymität.
Die kirchliche Pastoralmacht war charakterisiert durch das Doppel von „Bewachung und Überwachung“ (Foucault); wie sehr die Pastoralmacht zum modernen Staat gewandert ist, lernen wir aktuell von der NSA und ihren vielen Brüdern im Cyber-Geiste. „Überschaubarkeit“, jetzt ins Fürsorgliche gewendet, war noch eine zentrale Kategorie der bis vor kurzem dominierenden Gemeindetheologie.
Es geht um einen Wechsel des pastoralen Habitus. Es geht um den Verzicht auf die pastoralen Prinzipien Kontrolle, Dauer und umfassende Integration und um die Ausrichtung auf die Prinzipien Gastfreundschaft, Spontaneität und (mögliche) Anonymität. Man muss nicht überblicken, worin man ist, um erkennbar, erreichbar und ansprechbar zu sein. Man darf gar nicht die Position des zentralperspektivischen Allesüberblickers einnehmen, um die Chance zu bekommen, angesprochen und gefragt zu werden.
Erkennbarkeit, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit sind die notwendigen Kategorien einer Kirche, die, wie sehr zu Recht gefordert wird, vor Ort ist, präsent bleibt, sich aussetzt und anbietet. Pastorale Kompetenzvermutung muss kommuniziert werden, erkenn- und erreichbar sein. Die größeren pastoralen Räume sind eine große Chance, den ererbten Klerikalismus der katholischen Kirche endlich zu überwinden.
Für eine Vielzahl pastoraler Orte.
Es steht sogar noch ein weiterer Schritt an: jener zum „Sich-Aussetzen“, also dorthin zu gehen, wo man uns braucht. Denn Kirche verliert sich nicht im Außen, sondern sie findet sich dort, weil dort ihre Aufgabe, die kreative Konfrontation von Evangelium und heutiger Existenz, wartet.
Es wird in der Struktur der Kirchenbildung zu einem Wechsel von der (zumindest öffentlich und offiziell) einheitlichen ekklesialen Codierung des Glaubens zu einer Vielzahl existentiell-gläubiger Genesen pastoraler Orte kommen. Der notwendige Optionswechsel besteht darin, dies nicht zu erleiden, sondern zu gestalten, und sich an dieser Gestaltungsmöglichkeit zu freuen.
Die frühere kirchliche Gesamtkonkretion des christlichen Glaubens funktioniert weder in ihrer Totalität, denn alle wählen, noch funktioniert sie in ihrer Grundrichtung von Kirchenräumen hin auf den Einzelnen mehr. Es ist eher umgekehrt: Die individuellen und situativen Sinnzuschreibungen der Einzelnen bilden und charakterisieren kirchliche Orte.
Die Kunst bestünde nun darin, dies nicht als Defizit wahrzunehmen und mit allen zur Verfügung stehenden pädagogischen oder gar sanktionsgestützten Mitteln wieder um- und zurückzudrehen, sondern Räume zu eröffnen, wo es zu einem kontrastiven, kreativen, ergebnisoffenen Abgleichungsprozess dieser Sinnzuschreibungen kommt.
III.
Wie könnte das gelingen? Reine Raumplanung reicht nicht. Einfach nur das kirchliche Netz zu verdünnen, reicht erst recht nicht. An die „Ehrenamtlichen“, welch merkwürdiger Ausdruck für das Volk Gottes, zu appellieren, doch zu tun, was bisher der Priester tat, dabei aber weiterhin möglichst alles klerikal zu kontrollieren, reicht schon gar nicht.
Worauf also kommt es an? Zuerst darauf, ehrlich zu kommunizieren, sich darüber auszutauschen, was man nicht verlieren möchte, an Beheimatung, religiöser Tradition, an Nähe, und warum man es nicht verlieren möchten. Und es ginge darum, sich darüber auszutauschen, was jene, die noch Kirche bilden, brauchen für ihr Leben: von der Kirche, von den Priestern und allen anderen im Volk Gottes.
Wenn jene, die bei uns keinen Raum für sich und ihre Anliegen finden, so werden müssen wie jene, die noch da sind, werden sie nicht kommen.
Aber man müsste sich auch austauschen darüber, was die „Zeichen der Zeit“ vor Ort vom Glauben verlangen, welchen Herausforderungen sich die Kirche also zu stellen hat, was die konkreten Realitäten sind, an denen sich zeigt, was der Glaube bedeutet. Und man müsste darüber reden, wer dazu fähig ist, was man dazu braucht und wie man sich organisieren könnte, um es zu schaffen.
Denn wenn jene, die bei uns keinen Raum für sich und ihre Anliegen mehr finden, so werden müssen, wie jene, die noch da sind, werden sie nicht kommen. Wir brauchen also die anderen, wollen wir nicht verarmen. „‚Missionarisch‘ zu sein“, so der französische Historiker und Jesuit Michel de Certeau, „heißt für die Kirche, zu anderen Generationen, zu fremden Kulturen, zu neuen menschlichen Strebungen zu sagen: ‚Du fehlst mir‘ – nicht so, wie ein Grundbesitzer über das Feld seines Nachbarn spricht, sondern wie ein Liebender.“[1]
Räume der Ehrlichkeit und Anerkennung.
Wie müssten Räume ausschauen, in denen das Leben, so wie es ist, in aller Ehrlichkeit und Anerkennung gemeinsam, geschützt, vertrauensvoll mit dem Gott Jesu in Berührung kommen kann? In Wort, Tat und Liturgie? Wer könnte wofür die Verantwortung übernehmen? Denn so herum geht es: Erst die Aufgaben definieren und dann schauen, wie man sie in welchen Formen löst, nicht umgekehrt sich umorganisieren und dann fragen: Wie leben wir damit?
Wahrscheinlich wird es das Beste sein, Kirche zukünftig als Netzwerk pastoraler Orte zu organisieren, zu denen die Gemeinden, aber eben auch viele andere Orte wie Sozialstationen, Ordenshäuser, Schulen oder Basisgruppen gehören. Netzwerk, das heißt: Gleichrangigkeit der Vernetzungsknoten, aufgabenbezogene Vernetzungsflexibilität und weitgehende Vernetzungsautonomie. Netzwerke agieren nicht nach einer Logik der Mitgliedschaft, sondern nach einer Logik der symbolischen Zugehörigkeit und der situativen Dienstleistung.
Das alles ist, zugegeben, eine ziemliche Umstellung. Wenn man aber schon umbauen muss, dann so, dass das neue Gebäude einem mehr bietet und es einem besser gefällt als das alte. Der verständlicherweise skeptischen Basis möchte man daher zurufen:
Glauben Sie weder denen, die Ihnen die Rückkehr zur Gemeindeidylle auf verkleinerter Basis vorschlagen, noch erdulden Sie einfach einen von oben verordneten Umbau!
Nehmen Sie den Prozess der Kirchenentwicklung vor Ort in die eigene Hand und gestalten Sie Kirche vor Ort in Ihrer Kompetenz als Volk Gottes!
Blicken Sie von sich weg auf jene, die Sie bislang überhaupt nicht im Blick hatten, und auch auf das von Ihnen, das bisher keine Ort im kirchlichen Milieu hatte!
Man soll nicht bejubeln, was einem verordnet wird. Aber man kann es nutzen.
[1] Michel de Certeau, GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009, 105.
Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie in Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Photo: Rainer Bucher, Ruine Haisterbach