Ist unsere Welt zu schnell für Gott? In „Die Unruhe der Welt“ von Ralf Konersmann findet Michael Schüßler überraschende und überraschend theologische Antworten.
Immer mehr, immer weiter, immer schneller: Wir sind es gewohnt, die Veränderungen unserer Lebenswelt als Beschleunigung zu interpretieren. Die eingängigen Analysen des Soziologen Hartmut Rosa haben dazu beigetragen, in der Nervosität unserer Gegenwart vor allem eine unausweichliche Überforderung zu sehen. Doch das ist überhaupt nicht selbstverständlich.
In der brillianten Studie „Die Unruhe der Welt“ des Kieler Kulturphilosophen Ralf Konersmann erscheint Beschleunigung als Aspekt einer grundsätzlicheren „Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen“ (S. 19). Wie kommt es zu dem untergründigen Konsens, dass sich die Welt auf jeden Fall grundständig ändern müsse – auch bei jenen, die wollen, dass alles so bleibt? „Mir geht es nicht darum, vor der ‚blinden Wut des Machens‘ zu warnen und ein weiteres Mal für ‚Entschleunigung‘ oder ‚Langsamkeit‘ zu werben; … ich trete einen Schritt zurück, um die Unruhe und ihre Fraglosigkeit zunächst einmal zu verstehen. … Die primäre … Aufgabe heutiger Aufklärung besteht … in der Verdeutlichung dessen, woran selbst die Ungläubigen glauben.“ (S. 19) Konersmann geht dabei nicht nur im metaphorischen Sinne zurück bis Adam und Eva. Er entdeckt eine erste Herkunft unserer Unruhe-Kultur im biblischen Schöpfungsmythos.
Kain ist die Protogestalt all derer, die ihre Lebenszeit als eine Zeit der Rastlosigkeit erfahren
Alles beginnt mit dem Paradies als Ort harmonischer Ruhe und stabiler Symmetrien: Gott und Mensch, Adam und Eva leben in perfekten Resonanzen. Erst mit dem verbotenen Apfel kippt die Zeitlosigkeit und Harmonie der paradiesischen Ganzheitsszene in ihr Gegenteil: in die Mühsal des Kindergebärens, die beschwerliche Arbeit und den Tod: „Im Schweiße deines Angesichts …“ (Gen 3,19).
Das ist aber nur der erste Akt im Drama der Unruhe. Die ersten Menschenkinder, Kain und Abel, erwartet der zweite Akt. Kain erschlägt Abel aus Neid um die Gunst Gottes. Der verschärfte Urteilspruch lautet nun: „Ruhelos und rastlos wirst du auf Erden sein.“ (Gen 4,12). Biblisch kommt die rastlose Unruhe als Strafe Gottes in die Welt. Kain muss jetzt auch noch seine nachparadiesische Heimat verlassen: „Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Lande Nod nieder“ (Gen 4,16). Nod bedeutet „Unrast“, oder eben Unruhe. Die Welt des Kain, sie ist unsere Welt: „Kain ist die Protogestalt all derer, die ihre Lebenszeit als eine Zeit der Rastlosigkeit erfahren, ja als Entfesselung des Wandels überhaupt. In der theologischen Lesart ist diese … prinzipielle Beunruhigung das Zeichen der Gefallenheit, die fortwährend den Zustand disqualifiziert, den … Kain einst herbeigeführt hat.“ (S. 118) Das scheint bis heute wirkmächtig: Das Zeitliche bleibt das Defizitäre. Es fehlt ihm die paradiesische Stabilität und die Ruhe des Ewigen. Und man kann sich schon mal den Verdacht notieren, ob sich in den pastoralen Entschleunigungsoasen und im Verlangen nach einer antwortenden Welt letztlich die anonym gewordene Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies spiegelt.
Kain hätte die Langeweile und Perspektivlosigkeit der paradiesischen Ewigkeit nicht ausgehalten.
Die Moderne verkehrt diese Deutung der Unruhe als Verhängnis dann ins völlige Gegenteil. Spannend dabei: Das Aufklärungspathos eines Friedrich Schiller verabschiedet den Mythos nicht, sondern weist ihm einen neuen Platz in der nun entscheidenden Geschichte des Menschen zu. Die Verstoßung des Kain in die Unruhe der Zeit ist nicht mehr Strafe, sondern „die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschheitsgeschichte.“ (Schiller, zitiert nach Konersmann, S. 158.). Warum? Weil sie dem Menschen all die Möglichkeiten zur Weltentdeckung und Zukunftsgestaltung eröffnet hat. Radikal damit auch die Umwertung des Paradieses. Der umtriebige Kain hätte die Langeweile und Perspektivlosigkeit der paradiesischen Ewigkeit wohl gar nicht ausgehalten.
Erst der Abfall von der ewigen Harmonie des Paradieses ermöglicht nach und nach, was die Moderne ausmacht: Dynamik, Entwicklung, Fortschritt. Kain wird zu einem Helden der Aufklärung, der ohne die Sicherheiten des Paradieses zurechtkommen muss. Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bei Kant ist jedenfalls auch der Ausgang aus der trägen Tristesse des Paradieses.
Die Stoa akzeptiert die Unruhe als Geschäftsgrundlage des Lebens.
Konersmann erzählt die Normalisierung der Unruhe aber nicht einfach als monokausale Säkularisierung des biblischen Mythos. In der Philosophie der Antike findet er eine alternative Bearbeitung des Unruhe-Themas. Die von Seneca in „De tranquillitate animi“ entwickelte Kunst der Lebensführung hält den Dual Ruhe/Unruhe nicht für Alternativen. Sie sucht den gediegenen Mittelweg und orientiert sich an erfüllter Ruhe und gemäßigter Unruhe. Die Stoa versteht sich nicht von einem verlorenen Ursprung her, wie der alttestamentliche Mythos. Sie akzeptiert die Unruhe als Geschäftsgrundlage des Lebens. Ruhe wird möglich, indem man einen guten Umgang mit der Unruhe findet: Das ist die Muße.
Das klingt ganz nach moderner Psychologie, weil auch sie an der Lebenskunst des Einzelnen ansetzt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. In der Antike war jede Ethik in eine „tiefe Kosmosfrömmigkeit“ eingebettet, „um die Geordnetheit der Welt auch im Kleinsten und Privatesten zu erweisen“ (S. 192). Es ging nie allein um die Person oder die Sache, sondern immer zugleich um die Einbindung in die Ganzheit des Kosmos. Und die stand für die antike Philosophie wie für die biblische Erzählwelt außer Frage.
Antike und biblische Mythen sind in verflüssigter Form äußerst virulent.
Genau diese Ganzheit steht uns heute nicht mehr zur Verfügung. Kein Projekt kann aktuell die Diversität und Konflikthaftigkeit von Menschen, Kulturen und Gesellschaften mehr unter einen Hut bringen. Doch die großen Erzählungen der antiken und biblischen Mythen sind nicht zerstört, sondern in verflüssigter Form äußerst virulent. „Der Mythos will Bilder geben, die allgemein überzeugen, und genau diese Wirkung scheint den Zusammensturz der großen Erzählungen überstanden zu haben. Kleinformatig und ungemein beweglich vagabundieren die freien Erzählbruchstücke durch die Öffentlichkeit, weitergetragen und globalisiert durch die Traumfabriken, durch die Medien, die Werbung, die Programme der Parteien und, selbstverständlich, durch die Verlautbarungen der Wissenschaft.“ (S. 313).
„Man muß das Paradies immer wieder neu beginnen.“ (Gide)
Ihr Sinn und die Kraft ihrer Selbstevidenz können von Ereigniskontext zu Ereigniskontext neu instrumentalisiert werden. Für die mythischen und religiösen Bestände gilt, „dass in den Öffentlichkeiten pluralistischer Gesellschaften weniger gegen sie als um sie gekämpft wird“ (S. 313). Was sich beobachten lässt ist also nicht die säkularisierende Abschaffung, sondern die postsäkulare Verflüssigung des Mythos. Vielleicht ist es dann das verborgen wirkende, paradiesische Ideal, das mit seiner utopischen Makellosigkeit jeder Generation ihre eigene Unzulänglichkeit aufzeigt, die es dann schleunigst zu kompensieren gilt. Die Unruhe korrumpiert alle auch noch so gut gemeinten „Zustände“ als vorläufig. Was bleibt, das ist der negative Konsens der Unruhe – dass die Dinge sich in jedem Fall ändern müssten. Damit hat sich das Verhältnis von Ruhe und Unruhe insgesamt verändert. „Die Neuzeit vergleichgültigt dieses Geborgenheitsversprechen der Tiefe, an das der klassische Ruhebegriff gebunden war, und verwirft es als illusionär.“ (S. 321). Das heißt, dass in unserer Kultur niemand mehr einfach Zugang zu einer verlorenen Ruhe des Paradieses haben kann, die man einfach nur erkennen und erinnern müsste. Den entscheidenden Satz für die Gegenwart findet Konersmann in einer Zeile des französischen Dichters André Gide (1869-1951). In seinem „Traktat vom Narziss“ aus dem Jahr 1891 läuft alles auf den Satz hinaus: „Man muß das Paradies immer wieder neu beginnen.“ (S. 59).
Größere Nähe zu den Franziskanern als zu den Revolutionären.
Permanenter Aufschub, das wäre auch eine Definition für die Bewegung der Dekonstruktion. Es geht hier nicht um das tatkräftige Umsetzen einer Utopie in die Praxis, sondern um eine Demutsformel. „Die(se) Unruhe … unterläuft die Ermächtigungsphantasien der idealistischen Ästhetiken und Subjektphilosophien, den prometheischen Eifer des Könnens und des Schaffens, und proklamiert stattdessen eine Haltung der Bescheidenheit“ (S. 60). Insofern, meint Konermann, entsteht beim modernen „Inquieteur“ eine größere Nähe zu den Franziskanern als zu den Revolutionären. „Statt, wie die Anhänger der politischen Geschichte, auf das Ereignis des totalen Umsturzes und der Erlösung hinzuarbeiten, ist er bereit und entschlossen, Tag für Tag von neuem zu beginnen“ (S. 64).
Ein selbst beunruhigter Gott
Auch wenn Konersmann am Ende vielleicht zu sehr seinen kulturellen Ausgleichsmetaphern traut, es gelingt ihm ein auch theologisch differenzierter Blick auf sein Thema. Meister Eckhart erscheint zunächst als Lehrer kontemplativer Ruhe-Utopien: „Fragte man mich, ich sollte erschöpfend Auskunft darüber geben, worauf der Schöpfer abgezielt habe, damit, daß er alle Kreaturen erschuf, so würde ich sagen: <auf> Ruhe [ruowe]“ (Eckhart, zitiert nach Konersmann, S. 125). Der gleiche Eckhart wertet aber die geschäftige Marta gegenüber Maria zu Füßen des Meisters auf (Lk 10, 38-42). Er meint, Marta wollte Maria zur Mitarbeit bewegen, weil sie „fürchtete, daß sie in diesem Wohlgefühl stecken bliebe und nicht weiter käme“ (Eckhart, zitiert nach Konersmann, S. 270). Nach Eckhart gilt es also auch im tätigen Glauben weiterzukommen. Das Übergewicht der „vita contemplativa“ wird in Frage gestellt, um der Nachfolge Jesu auch im unruhig gewordenen Alltagsleben Realisierungschancen zu erhalten. In einer Fußnote überlegt Konersmann weiter, „ob nicht der irdischen Unruhe eine überirdische zur Seite gestellt werden müsse: die Gottesunruhe“ (Anmerkungsteil, S. 354). In Psalm 121 heißt es „der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“. Hat Gott also nicht nur mit der Ruhe als Ziel zu tun, sondern findet er sich mit der Inkarnation auch mitten in der Unruhe der Welt? „Diesem nunmehr selbst beunruhigten Gott ist die Rolle eines Beschützers der Menschen zugedacht, die er einst selbst in die Unruhe gestoßen hat“ (S. 123f).
„Die Unruhe der Welt“ ist nicht nur eine kluge Kulturgeschichte. Es ist zugleich eines der theologiegenerativeren Bücher des vergangenen Jahres. Wer jetzt gerade Rosas neue Resonanz-Soziologie auf dem Tisch liegen hat, sollte sich Konersmann daneben stellen.
Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, Frankfurt/M. 2015.
Bild: Verlagshomepage S. Fischer