Reiseveranstalter versprechen „Reisen ins Paradies“. Die Bibel redet nur selten, aber an zentralen Stellen vom Paradies. Auch die schönste Urlaubsreise führt nicht wirklich zu ihm zurück. Aber „wie im Paradies“ ist drin, immerhin. Von Rainer Bucher.
I.
Das Paradies ist eine Realität unseres Lebens: freilich eine flüchtige, eine verlorene, eine fast immer irgendwie vergangene Realität. Aus dem Paradies ist man vertrieben, aber man kommt von ihm nicht los. Menschliches Leben mit der Vorstellung des Paradieses im quälend-lockenden Hintergrund ist „Leben im Exil“: Alle eschatologisch grundierten Religionen sagen das.
Es gibt kein Paradies ohne Reise.
Es ist ein merkwürdiges Exil, in dem wir da sind. Manchmal kommt man für Augenblicke zurück, fühlt man sich zumindest „wie im Paradies“ – und wird doch gleich wieder vertrieben. Es gibt kein Paradies ohne Reise: kurz hinein und für lange wieder hinaus. Man glaubt das Paradies zu kennen, ist aber praktisch nie in ihm und daher ständig zu ihm unterwegs: in Gedanken, Worten und Werken. Man kann sich jedenfalls an das Paradies erinnern – als eine Zeit, als das Leben noch mit sich selbst in Einklang schien, eine Zeit, in der eine Zustimmung zur eigenen Existenz möglich schien, die so fundamental ist, dass sie sich spürt, aber gar nicht weiß. Zu wissen ist bekanntlich der erste Schritt zur Vertreibung aus dem Paradies. Das sagt schon die Bibel.
II.
Sonst sagt sie erstaunlich wenig über das Paradies, das aber an prominenter Stelle: Sie beginnt mit ihm und endet mit ihm. Sie erzählt die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies, vor allem aber jene der noch andauernden Rückkehr. „Es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit“ (Offb 22,5), so lautet der letzte Satz der Bibel, vor der Beteuerung des apokalyptischen Autors, dies alles wahrhaft gehört und gesehen zu haben.
Begonnen aber hatte alles mit der Erschaffung der Welt, inklusive des noch einmal eigens und speziell für den Menschen angelegten Gartens „im Osten“, dem Paradies. Hier ist Wasser, hier wachsen allerlei Bäume, „verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten“, viel mehr wird gar nicht gesagt. Außer, dass in „der Mitte des Gartens“ neben dem später bekanntlich fatalen „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ auch der „Baum des Lebens“ (Gen 1,9) stand. Dessen Früchte garantierten, was seitdem verloren ist: Unsterblichkeit.
Was das Paradies sein könnte: ein Ort, wo Gegensätze keine Bedrohung mehr sind, wo nichts zu fürchten, aber alles zu erhoffen ist, ein Ort ohne Sorge und grenzenloser Freude aneinander.
Dann folgt aber, was seither das Gefühl verbreitet, um irgendwas betrogen worden zu sein: die Vertreibung aus dem Paradies. Wenn das Erste Testament danach, selten genug, vom Paradies spricht, dann tut es dies in Bildern von bleibender Faszination. Jesajas große Imagination eines zukünftigen allgemeinen Schöpfungsfriedens – „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein“ (Jes 11, 6-9) – kann heute noch berauschen. Denn da wird klar, was das Paradies sein könnte: ein Ort, wo Gegensätze keine Bedrohung mehr sind, ein Ort, wo nichts zu fürchten, aber alles zu erhoffen ist, ein Ort ohne Sorge und grenzenloser Freude aneinander.
Auch im Neuen Testament ist nur sehr selten vom Paradies die Rede, eigentlich redet Jesus aber von nichts anderem. Seine ganze Botschaft und Person ist die Verkündigung des nahen Gottesreiches. Die Bilder, die Jesus davon zeichnet, sind freilich ambivalent. Jesu Andeutungen, worauf es hinauslaufen wird, haben Gerichtscharakter (Mt 25), ebenso oft aber, wenn nicht öfter, sprechen sie von paradiesischen Freuden, etwa wenn Jesus immer wieder von einem kommenden „himmlischen Gastmahl“ redet. Die Apokalypse schließlich sagt es endgültig: Gott „wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)
Für den Menschen ist das Paradies leider untrennbar mit einem recht unangenehmen Thema verbunden: dem Tod.
Es gibt ein Paradies, sagt die Bibel, aber nicht mehr, nicht jetzt und noch nicht. Und, so sagt die Bibel: Es ist ein Reservat Gottes: Er hat es geschaffen und nur er kann es wieder schaffen, bis dorthin bleibt dem Menschen die Sehnsucht. Freilich, und das ist das Dritte, was die Bibel zum Paradies sagt: Für den Menschen ist das Paradies leider untrennbar mit einem recht unangenehmen Thema verbunden: dem Tod. Die Vertreibung aus dem Paradies ist Vertreibung weg vom „Baum des Lebens“ (Gen 3,22) und das einzige Mal, wo Jesus ausdrücklich das Wort „Paradies“ in den Mund gelegt wird, das ist am Kreuz. (Lk 23,43)
III.
Heutige „Reisen ins Paradies“ erscheinen dagegen beruhigend harmlos. Wenn sich das Vokabular der Reiseveranstalter auch nach wie vor des einschlägigen religiösen Paradiesesvokabulars bedient: Studien zur Reisemotivation zeigen, dass heute vergleichsweise unspektakuläre Gründe wie „‚abschalten, ausspannen‘ und ‚aus dem Alltag herauskommen, Tapetenwechsel'“ an der Spitze der Reisegründe stehen. Das aber scheinen dann doch wieder allzu harmlose Auskünfte.
Erlebnisse sind eine flüchtige und fragile Angelegenheit mit hohem Enttäuschungsrisiko.
Es gab und gibt viele Gründe zum Reisen und die meisten Reisen werden auch heute immer noch unfreiwillig angetreten. Reist man aber tatsächlich aus eigenen Stücken, dann gehören Reisen zu jenem großen Projekt der systematischen Manipulation der Außenwelt zur Steuerung der Innenwelt. Erlebnisse aber sind eine flüchtige und fragile Angelegenheit mit hohem Enttäuschungsrisiko. Niemand nämlich kann garantieren, dass sich die gewünschte innere Wirkung, sei es Entspannung, Ekstase oder Glücksgefühle, auch wirklich einstellt. „Erlebnisse lassen sich nicht bereits durch Situationswahl programmieren“, so Gerhard Schulze, „die Situation liefert lediglich Material für subjektbestimmte, reflexive und willkürliche Konstruktionen“[1]. Erlebnisrationalität ist immer zweischneidig: Nichts ist unsicherer als ein gewünschtes Erlebnis, denn nichts ist unsicherer als unser inneres Erleben.
Was nun aber als Erlebnis der Innenwelt gesucht wird, das kann recht eindeutig an den jeweiligen Reisezielen und Reisestilen abgelesen werden. Denn jeder reist in sein Paradies, und da Menschen sich einigermaßen unterscheiden und das seit einiger Zeit auch zeigen dürfen, unterscheiden sich unsere Reise-Paradiese doch ganz erheblich; so sehr, dass was dem einen Paradies, dem anderen Hölle, mindestens aber Fegfeuer ist. Wer seine favorisierten Reiseziele verrät, verrät sehr viel.
Die Urlaubsreise ist eine Reise in unsere seelischen Ideallandschaften.
Schließlich ist die Urlaubsreise eine Reise in unsere seelischen Ideallandschaften. Jeder und jede braucht also nur seine Reisen der letzten Jahre durchzugehen, um ein kleines, aber durchaus aussagekräftiges Bild seiner selbst zu erhalten. Freilich: So unterschiedlich zwischen Bergalm und Mallorcastrand, Studienreise „auf den Spuren des Heiligen Paulus“ und Nepaltrip, Bayrischer Wald-Ferienwohnung und „garantiert unberührter“ pazifischer Badebucht die gesuchte Außenwelt zur Manipulation der Innenwelt auch ist: Es gibt offenbar Grundmuster, wie und wo nach dem kleinen paradiesischen Erlebnis gesucht wird.
Im Paradies ist Leben ohne jene zwei Plagen möglich, die außerhalb des Paradieses menschliches Leben ständig belästigen: die Sorge und die Langweile.
Zu einem dieser Muster weist die Paradiesesmetapher selbst den Weg. Im Paradies ist Leben ohne jene zwei Plagen möglich, die außerhalb des Paradieses menschliches Leben praktisch ständig belästigen: die Sorge und die Langweile. Die „Paradieseslandschaften“ der Werbeprospekte versprechen beides fern zu halten. Weil sie Paradieseslandschaften sind, versprechen sie es zudem ohne jene Hilfsmittel zu tun, mit denen wir im Alltag versuchen, der Sorge und der Langweile zu entkommen: Arbeit und Technik. Urlaubsreisen, das sind sehr oft Reisen in ein „sorgenfreies Leben“ in der „Natur“, was konkret einfach eine Landschaft meint, welche die zivilisatorisch-technischen Instrumentarien der Moderne, aber auch die Mühen der „Servicearbeit“ versteckt bzw. auslagert, wo alles also irgendwie „einfach und natürlich“ zu sein scheint.
Die „Urlaubsreise ins Paradies“ ist eine Reise in die Annehmlichkeiten des modernen Lebens ohne modernes Leben, vor allem ohne seine komplexen (Hilfs-)Mittel. Was natürlich umgekehrt, weil es die Paradiesesvorstellungen ja schon lange vor dem modernen Leben gegeben hat, heißt: Die moderne Zivilisation kann als Versuch begriffen werden, die Lebensbedingungen des Paradieses mit Hilfe von Technik und differenzierter Arbeitsorganisation wenigstens annähernd zu erreichen. Wer ins Urlaubsparadies fährt, sucht Sorglosigkeit und selbstgewählte Spannung, und er sucht das alles an Orten, welche die zivilisatorisch-technischen Krücken Arbeit und Technik vergessen lassen, weil sie sie verschleiern.
Reisen, das ist die Hoffnung auf Befreiung von der alltäglichen Sozialkontrolle.
Auf ein zweites Grundmuster des Reisens, das über alle Differenzen der Reiseziele und Reisestile hinweg zu gelten scheint, hat Hans Magnus Enzensberger bereits 1958 hingewiesen: Reisen, das ist die Hoffnung auf Befreiung von der alltäglichen Sozialkontrolle. Touristen, so Enzensberger, flöhen vor der Disziplinierung des Alltags in der modernen Industriegesellschaft, ein Fluchtversuch, der allerdings scheitern müsse, insofern sich der Tourismus selbst als Industrie etabliert und deren Elemente Normung, Montage und Serienfertigung übernommen habe. Als Alternative zum enormen Disziplinierungsdruck einer hochdifferenzierten Industrie- und Leistungsgesellschaft verspricht die Reise ins Paradies Zeitsouveränität, mag diese dann auch gleich wieder an Veranstalter, Hoteliers und Fremdenführer abgegeben werden: aber dann eben freiwillig, gesucht und gewählt, wie man sich zumindest einredet.
Wir kommen mit dem Reisen zwar nicht ins Paradies zurück, aber vielleicht bis an den unstillbaren Grund der Sehnsucht nach ihm. Mehr ist vor dem Tod nicht drin.
IV.
Das Paradiesesgärtlein lockt. Ob es gefunden wird, ist damit natürlich noch nicht gesagt. Offenkundig ist die Suche nicht ganz erfolglos, sonst würde sie nicht immer wieder gewagt. „Wie im Paradies“, das zumindest gibt’s.
Aus der Bibel kann man wissen: Die Sehnsucht nach dem Paradies ist etwas Göttliches, und ihr nachzuspüren auch. Es auf Reisen zu tun, ist etwas sehr Schönes. Wir kommen damit zwar nicht wirklich ins Paradies zurück, aber vielleicht bis an den unstillbaren Grund dieser Sehnsucht. Mehr ist vor dem Tod nicht drin.
[1] Gerhard Schulze, Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M, 1992, 60.
Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
(Beitragsbild: https://pixabay.com/de/malediven-lagune-blau-paradies-1044368/)