Stefan Walser fragt, was eigentlich mit denen ist, denen Religion und Glaube egal sind. Und inwiefern berührt dieses Phänomen die Religiösen?
Religiöse Indifferenz ist ein Phänomen oder besser Nicht-Phänomen, das beschreibt, dass Menschen keinen Bezug zu Religion und Glaube haben oder dass ihnen ein Bezug jedenfalls nicht wichtig ist. Sie verbinden damit letztlich nichts. Nichts Positives und auch nichts Negatives. Einfach gar nichts. Ein Blick in die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) zeigt, dass die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft dabei nicht unbedingt eine Wasserscheide markiert. Es gibt religionslose Religiöse und religiös indifferente Kirchenmitglieder. 13% der Katholik*innen sagen zum Beispiel: „Der Glaube sagt mir nichts; ich brauche keine Religion“. Ebenso viele: „Mir selbst sind religiöse Fragen bedeutungslos und egal.“ Weiteren 26% ist der Glaube „eher egal“. Was ich als „religiöse Indifferenz“ bezeichne, kommt also hier vor. Freilich sind die Zahlen unter den Konfessionslosen höher: 44% der Konfessionslosen geben auf Nachfrage hin an, dass religiöse Fragen für sie „bedeutungslos und egal“ seien, weiteren 34% sind sie „eher egal“.
Nichts Positives und auch nichts Negatives.
Die verdeckten Implikationen und falschen Imperative der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass Kirchlichkeit und Glaube – oder breiter: Religionszugehörigkeit und Religiosität – doch zusammengehören, wurden bereits direkt nach Veröffentlichung der KMU 6 kontrovers diskutiert.
Mir geht es hier um eine noch allgemeinere Vermessung des (a-)religiösen Feldes – und ich verstehe „Feld“ hier im Sinne der religionssoziologischer Feldtheorie Pierre Bourdieus (1930–2002), wobei ich zudem auf Überlegungen des Ethnologen Johannes Quack (*1959) zurückgreife.[i] Dabei will ich versuchen, das interessante, weil eigentlich unsichtbare Grenzphänomen „religiöse Indifferenz“ ein wenig in den Blick zu bekommen.
das interessante, weil eigentlich unsichtbare Grenzphänomen „religiöse Indifferenz“
Mit Bourdieu kann man die Idee von einem „religiösen Feld“ entwickeln, das durch das Kapital von „Heilsgütern“ strukturiert und gesteuert wird. Es ist ein Feld, das von konkurrierenden Akteur*innen belebt wird und dessen Grenzen umkämpft sind. Glaubende versuchen dieses Feld zu beleben. Atheist*innen stellen sich bewusst nicht auf dieses Feld, konkurrieren aber mit den religiösen Playern, wollen vielleicht andere vom Feld locken oder gar das ganze Feld verschieben und beziehen sich damit negativ auf das religiöse Feld.
Den Indifferenten ist es sogar egal, dass es ihnen egal ist. Den Religiösen ist es nicht egal, dass es den anderen egal ist.
Nun gibt es aber offenbar Menschen, denen Religion unwichtig und egal ist. Und mehr noch: Es ist ihnen sogar egal, dass es ihnen egal ist. Sie interessieren sich nicht für dieses Feld. Sie spielen nicht mit. Soweit so gut. Oder schlecht? Genau hier fängt der Konflikt der Interpretationen an. Denn es gibt andere Menschen, Religiöse oder auch dezidiert Nicht-Religiöse, die sich in Sachen Religion ihr Urteil gebildet und ihre Haltung entwickelt haben, und denen es nicht egal ist, dass es anderen egal ist. Insofern stehen religiös Indifferente paradoxerweise doch in Bezug zum religiösen Feld – und zwar allein deshalb, weil ihre Position vom religiösen Feld her betrachtet und vermessen wird als dessen „Niemandsland“. Religiös Indifferente beziehen sich nicht auf das religiöse Feld, aber sie werden darauf bezogen, weil Menschen es irgendwie überraschend, lobenswert, schrecklich, unmöglich usw. finden, dass jemand sich nicht für Religion interessiert. Religiös Indifferente würden sich selbst ja nie als „religiös indifferent“ bezeichnen, sondern sie werden so bezeichnet von Leuten, die etwas mit Religion am Hut haben. Aber auch das ist ein Feldbezug, bei dem sogenannte „Feldeffekte“ entstehen. Drei dieser Effekte möchte ich kurz aufzeigen:
- Steve Bruce (*1954), ein religionskritischer britischer Soziologe, sieht im Phänomen einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber Religion die Bestätigung seiner Säkularisierungsthese und deren absolutes Endstadium, nämlich „tabula rasa“: „Soweit ich mir einen Endpunkt vorstellen kann, wäre es keine bewusste Religionsfeindlichkeit; man muss sich zu sehr um Religion kümmern, um religionsfeindlich zu sein. Es wäre eine weitverbreitete Gleichgültigkeit.“[ii] Religiöse Indifferenz wird hier als die maximale Gegenposition zu Religion konstruiert und auf das Konto von sogar noch radikalisiertem Atheismus verbucht. Bruce wirkt fast ein bisschen neidisch auf jene, die sich anders als er mit Religion gar nicht mehr beschäftigen müssen.
- Auf der anderen Seite wird religiöse Indifferenz aus religiöser Sicht bisweilen positiv gewertet. Denn „gleichgültig“ ist schon einmal nicht „dagegen“. Manche Glaubenden wittern im Phänomen der Indifferenz religiöse Morgenluft und sehen diese Gruppe als potentiell offen, als Glaubende auf „Stand-by“. Wenn eine Generation heranreift, die religiös völlig „unbeleckt“ ist und keine positiven aber auch keine negativen Erfahrungen mehr mit Kirche gemacht hat, dann ergeben sich neue Chancen. Und wenn dann das richtige kirchliche Angebot gemacht wird, dann kriegen wir sie… Indifferenz wird hier auf das Konto „potentiell religiös Suchende“ eingebucht. Wir merken: Die Indifferenten können als „massa incognita“ ganz unterschiedlich aufs religiöse Feld bezogen bzw. aufs eigene Feld herübergezogen werden.
- Aber noch eine dritte Feldzuschreibung findet sich gegenüber „den Indifferenten“, wobei sich Religiöse und Atheist*innen plötzlich einig sind: Weitet man das Feld der Indifferenz nämlich über die Religion auf Fragen der Ethik und Lebenseinstellungen aus, trifft man auf die kulturpessimistische Unterstellung, dass die Menschheit heutzutage ja überhaupt gleichgültig geworden sei. In den 80er Jahren findet man eine regelrechtes „Indifferenz-Bashing“, etwa wenn eine Haltung des Indifferentismus (man bemerke den „-ismus“) als „gelangweilter, nicht denkender, ‚bewußtloserʻ […] Nihilismus“[iii] getadelt wird. Ähnliche Urteile findet man auch von Vertreter*innen des atheistischen Humanismus, denen ein interessiertes und engagiertes Nachdenken über Sinn und Wert des Lebens überaus wichtig erscheint. Johannes Quack macht die rasante Beobachtung, dass Papst Benedikt und die Giordano-Bruno-Stiftung sich überaus einig seien in der Furcht vor gesellschaftlicher Indifferenz. Geht die Indifferenz also über das Religiöse hinaus, schließen sich die Reihen wieder.
Wer sich nicht positioniert, wird positioniert.
Diese sehr unterschiedlichen Lesarten des Phänomens religiöser Indifferenz zeigen: Wer sich nicht positioniert, wird positioniert. Religiös Indifferente werden zu Pionier*innen einer religionslosen Welt, zu potentiell Glaubenden oder zu Exempeln grassierender Gleichgültigkeit stilisiert. Das im direkten Zugriff unsichtbare Phänomen religiöser Indifferenz und vor allem die dabei leitenden Vorannahmen und sublimen Wertungen weiter auszuloten, wird meines Erachtens ein spannendes theologisches und religionssoziologisches „Feld“. Mein Interesse an Desinteresse ist jedenfalls nicht zuletzt durch die Ergebnisse der KMU 6 geweckt.
JProf. Dr. Stefan Walser hat den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und christliche Identitäten an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn inne.
Beitragsbild: Peter Conrad, unsplash.com
[i] Vgl. Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000; Pierre Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: Ders., Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, Berlin 2011, 30–90; Johannes Quack, Was ist „Nichtreligion“? Feldtheoretische Überlegungen zu einem relationalen Verständnis eines eigenständigen Forschungsgebietes, in: Antes, Peter / Führding, Steffen (Hg.), Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive, Göttingen 2013, 87–107; Ders., / Cora Schuh, Conceptualising Religious Indifference in Relation to Religion and Nonreligion, in: Dies., (Hg.), Religious indifference, Cham 2017, 1–23.
[ii] Steve Bruce, God is dead. Secularization in the West, Malden, MA 2008, 42. Übers. S.W.
[iii] Heinz Robert Schlette, Vom religiösen Indifferentismus zum Agnostizismus, in: Concilium 19/5 (1983), 370–377, hier 372.