Führt Gott uns in Versuchung? Dafür braucht es keinen Gott. Das schaffen wir ganz alleine. Das übersieht die Debatte über die Versuchung durch Gott fast vollständig, meint Hans-Joachim Sander. Aber: Nur Gott ist fähig, die Versuchung zu begrenzen und unschädlich zu machen, in die er hineinführt, weil er nun einmal Gott ist.
Gott führt in Versuchung. Was soll er denn sonst tun? Täte er es nicht, wäre er nicht Gott. Und wie soll Gott nicht Gott sein? Das ist für Gott nicht zu schaffen, schließlich kann gerade Gott sich nicht selbst verleugnen. Er kann sich durchaus entäußern, aber auch das kann er nicht so, dass nichts von Gott übrig bliebe.
Zugleich ist es natürlich richtig, dass Gott nicht Gott wäre, würde er Menschen seiner Versuchung aktiv unterwerfen. Gerade dann würde er sich ja gerade selbst verleugnen. Gott könnte nicht mehr Gott sein, der – um scholastische Distinktionsharmonien zu bemühen – wenigstens für uns Menschen wahr und gut, schön und verehrungswürdig, schöpferisch und erlösend zu sein hat. Anders kommen wir auf Dauer nicht mit Gott zurecht, als dass bei ihm Liebe und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gnade agieren.
Ein Dilemma ist an der Übersetzungsfrage der Vater-Unser-Bitte aufgebrochen.
Die zweite Ansicht ist heutzutage fast eine Selbstverständlichkeit, die erste nicht. Es klingt sogar anstößig, von „Gott, der Versuchung“ zu sprechen – geradezu blasphemisch. Nur Religionskritiker(inne)n und Gottesleugner(inne)n sieht man das nach, nicht aber Theolog(inn)en mit einer positiven Absicht, Gottes Präsenz zu belegen. Denn wenn das stimmen würde, dass es zu Gott unvermeidlich gehört, in Versuchung zu führen, dann gerät man ebenso unausweichlich in das eben genannte Dilemma.
Es ist derzeit – mal wieder – an der Übersetzungsfrage der berühmt-berüchtigten Vater-Unser-Bitte aufgebrochen, die von Gott einfordert, doch nicht in Versuchung zu führen. Selbst vom Papst wird berichtet, sich an dieser Formulierung zu stoßen, während eine exegetische Minderheit an der traditionellen Übersetzung festhalten will. Aber bevor ich in die Untiefen eines weiteren Minoritätenstreites mit dem Papst versinke, gestehe ich sprachliche Nicht-Expertise. Es sollen berufenere Menschen aushandeln, wie das nun adäquat ins Deutsche zu bringen ist, was Jesus zu beten gelehrt hat. Die französischen Bischöfe wollen es künftig jedenfalls anders halten. Statt des herkömmlichen: „Ne nous soumets pas à la tentation“, soll es auf Französisch künftig heißen: „Et ne nous laisse pas entrer en tentation“. Es ist ein Wechsel vom aktiven zum passiven Modus, worin eine wichtige Einsicht liegt.
Mit Gottes Allmacht rauscht die Versuchung mit Lichtgeschwindigkeit heran.
Ich beschränke mich auf die damit angetastete Sachfrage, die hinter der Übersetzungsangelegenheit steckt, und hier muss ich leider darauf bestehen, dass Gott um Gottes willen in Versuchung führen muss. Schließlich ist das erste Merkmal Gottes seine Allmacht. Das ist nicht Gottes erste Eigenschaft – das wäre seine Allgüte, oder um es zeitgenössisch treffender zu sagen: sein universaler Heilswille. Aber gerade für diese Eigenschaft benötigt er Macht, sonst kann er gar nicht alle so in den Blick nehmen, dass aus dem göttlichen Heil eine Menschheitsressource wird. Wer allen Gutes tun will, braucht eine Macht, das auch tun zu können. Und damit rauscht die Versuchung mit Lichtgeschwindigkeit heran.
Ehe man sich versieht, ist man ihr unterworfen. Macht ist sehr kreativ, aber eben zugleich überaus selbstgerecht; anders gibt es sie nicht unter Menschen. In beider Hinsicht ist sie aktiv. Wer von Gott spricht, kommt um seine Macht nicht herum, die aber zugleich zu allen möglichen Selbstgerechtigkeiten einlädt. Das sind nicht Gottes Selbstgerechtigkeiten. Es sind die Selbstgerechtigkeiten jener, die sich Gottes um ihrer Heilserwartungen willen bedienen, in denen zugleich Unheilsehnsüchte über andere lauern.
Gerade wer Gott Gott sein lassen will, wird von dieser Versuchung heimgesucht.
Das steckt im Vater-Unser, gerade weil es jenseits des altrömischen pater familias gelesen werden muss, in dem buchstäblich patriarchale Gewalt verherrlicht wird. Wer zu Gott betet und ihn dabei sogar „Papi (Abba)“ nennen darf, will bevorzugt werden wie ein kleines Kind. Die Versuchung dabei ist allerdings keine kindliche Unschuld, sondern durchaus so etwas wie die kindliche Zurechtweisung an andere, sich gefälligst nach der eigenen göttlich validierten Anerkennung einzureihen.
Gerade wer Gott Gott sein lassen will, was ein Gebet wie der Vater-Unser nun einmal tut, wird von dieser Versuchung heimgesucht. Gott versucht daher um Gottes willen – obwohl er es nicht selbst tut. Es ist lediglich passives Resultat der Macht, die eingeräumt wird – und sogar werden muss –, wenn die Rede auf ihn kommt. Vor der Idee, dass er selbst versucht, muss man sich vielmehr um Gottes willen hüten. Und hier steht ein Ausrufezeichen hinter: „um Gottes willen!“
Wer einen Papi-heimeligen Gott bitten darf, nicht versucht zu werden, erzeugt die Versuchung, der nicht zu erliegen Menschen unmöglich ist.
Das verschärft aber das Dilemma. Wer einen lieben, gütigen, Papi-heimeligen Gott bitten darf, nicht versucht zu werden, erzeugt die Versuchung, der nicht zu erliegen Menschen unmöglich ist. Aber genau hier liegt auch die Lösung – in der Versuchung selbst, also in der Macht, die die Anrufung Gottes heraufbeschwört. Sie erzwingt eine Entsouveränisierung. Diese Lösung ist aber komplex. Aus Dilemmata kommt man grundsätzlich nur heraus, wenn man ihre Zweiwertigkeit auf mindestens eine Dreiwertigkeit hin aufbricht.
Es geht also nicht bloß um Gott und Mensch, um Versuchung und Beistand. Es geht um mehr, um eine andere, höhere Form von Komplexität als bloß die Idee, dass Gott Menschen in der Versuchung stärkt. Das ist geradezu banal angesichts des Problems, vor dem man wirklich steht. Natürlich stärkt Gott Menschen in der Versuchung – täte er es nicht, wäre er eben nicht Gott, sondern so etwas wie das, was die Tradition sich Teufel zu nennen angewöhnt hat. Es ist daher nötig, das Dilemma mindestens auf die Komplexität eines Trialemmas oder auf ein Tetralemmas zu bringen. Es gibt mindestens eine dritte unausweichliche Größe darin: die eigene Nichtigkeit sowohl in der Versuchung wie in der Erlösung daraus. Und auch noch die Nichtigkeit dieser besonderen Nichtigkeit, um es nun auch im Tetralemma zu fassen.
Für Versuchung ist kein Gott nötig. Das schaffen wir ganz alleine.
Das eigentliche Problem der Debatte ist daher die binäre, also moderne Codierung, dass Gott da irgendwo sitzen und sich fragen würde, wie er ausgerechnet mich, den xy-Menschen, mal so richtig in Versuchung führen kann. Wenn ich schon sonst nichts Besonderes bin, dann verheißt mir wenigstens die göttliche Versuchung einen Distinktionsgewinn. Gott versucht mich! Wie bedeutsam muss ich sein! Das ist aber gar nichts Außergewöhnliches, sondern etwas sehr Alltägliches. Dafür braucht es auch gar keinen Gott. Das schaffen das Geld und der Reichtum daran, das Internet und die Pornographie darin, die Waffen und die Lust darauf schon ganz allein und zunehmend auf hohem Niveau. Für Versuchung ist kein Gott nötig. Das schaffen wir ganz alleine.
Nur Gott ist fähig, die Versuchung zu begrenzen und unschädlich zu machen, in die er hineinführt, weil er nun einmal Gott ist.
Das übersieht die Debatte über die Versuchung durch Gott fast vollständig. Das Außergewöhnliche der Vater-Unser-Bitte steckt nicht in der Versuchung, sondern am Adressaten der Bitte. Niemand, wer es mit Gott zu tun bekommt oder sich an ihn richtet, ist fähig, selbst die Versuchung zu bewältigen, welche die damit beschworene Macht aufbringt. Nur Gott ist fähig, die Versuchung zu begrenzen und unschädlich zu machen, in die er hineinführt, weil er nun einmal Gott ist. Niemand sonst ist dazu fähig.
Wer sich an Gott richtet, braucht Gott, um nicht in den Abgrund zu stürzen, den man sich damit selbst baut. Die Bitte um Beistand in dieser Macht vertraut sich keiner göttlich auszeichnenden Aktivität, wohl aber einem passivum divinum an, also einer Aktivität Gottes, die als solche zu benennen Menschen nicht möglich ist. Wir erfahren sie passiv auf jeweils uns selbst individuell bestimmende Weise. In der Versuchung der Macht sind dagegen alle Menschen gleich und stehen ratlos untereinander in ihr herum. Sie sehen Dilemmata, wo es gar nicht auf sie ankommt. Wer das einsieht, wird von dieser Bitte befreit.
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Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
Bild: Fotografie aus dem Gotteslob