Die unterschiedlichen Reaktionen in Deutschland auf den Terror der Hamas gegen Israel betrachtet Dagmar Mensink.
Der terroristische Großangriff der Hamas am 7. Oktober mit seiner eklatant neuen Dimension barbarischer Gewalt stellt in seiner Verbindung mit der Gefahr durch die Hisbollah im Libanon und durch den Iran eine massive Bedrohung von Israels Existenz dar. Die Antwort der deutschen Politik war prompt und eindeutig: die volle Solidarität mit Israel, die Bejahung von seinem Selbstverteidigungsrecht und die Verurteilung der medial und auf Demonstrationen gefeierten Terrortaten aufs Schärfste. Hamas und das palästinensische Netzwerk Samidoun sind künftig in Deutschland verboten.
Aber…aber…aber
Die Reaktion der Bevölkerung auf das Massaker fiel dagegen, höflich gesagt, verhalten aus. Es gab keine Massen auf den Straßen für Israel. Es gab kein „Wir sind Israel“. Bei der großen Solidaritätsdemo in Berlin zählten die Veranstalter 25.000 Menschen (die Polizei spricht von rund 10.000), da versammeln sich in manchem Fußballstadion am Wochenende mehr. Statt Zeichen uneingeschränkter Solidarität mit den Opfern des Terrors gab es viel (leises) „ja, aber“: Ja, der Terror ist schrecklich, aber die Opfer im Gazastreifen… aber die Politik der israelischen Regierung…. Aber die Besatzung…. Aber die provokanten Aktionen der Siedlerbewegung……
Der Terror der Hamas gerät aus dem Blick.
Um nicht missverstanden zu werden: Solidarität mit Israel heißt nicht, die Problematik der gegenwärtigen Netajahu-Regierung oder die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen zu leugnen. Nur darf bei allem menschlichen Mitgefühl mit den Opfern im Gaza-Streifen nie vergessen werden, wer für die gegenwärtige Eskalation des Konflikts verantwortlich ist und was der Auslöser war: der Terror gegen Israel. Genau der aber gerät mit jedem Tag mehr aus dem Blick. Die Hamas könnte sofort die humanitäre Lage in Gaza verbessern, wenn sie die Geiseln freiließe und den Raketenbeschuss einstellte.
Eine Mehrheit zieht
es vor, nicht
Partei zu ergreifen.
Die Diskrepanz zwischen der offiziellen und der öffentlichen Reaktion in Deutschland bestätigt sich in Umfragen. Offensichtlich teilt die Bevölkerung die Emphase der politisch Verantwortlichen von der „Sicherheit Israels als deutsche Staatsraison“ mehrheitlich nicht. Die am Donnerstag veröffentlichte Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigt, dass nur eine Minderheit von 34 Prozent aus der besonderen Beziehung Deutschlands zu Israel eine besondere Verantwortung für sein Schicksal folgert. Das sind mehr als 2006, ist aber immer noch eine vergleichsweise kleine Zahl. Nur 31 Prozent der Befragten unterstützt die Aussage des Bundeskanzlers, der Platz Deutschlands sei an der Seite Israels (in Ostdeutschland sind es nur 18 Prozent). 43 Prozent sind der Auffassung, Deutschland solle sich aus dem Konflikt weitgehend heraushalten. Und nur 41 Prozent befürworten Solidaritätsbekundungen für Israel; eine Mehrheit zieht es vor, nicht Partei zu ergreifen.
Die unfassbare
Dimension des Grauens
Man mag für die laue Antwort auf den menschenverachtenden Hamas-Terror und die Not der Geiseln anführen, dass die demoskopischen Ergebnisse nicht überraschend sind. Dass einer krisenerschöpften Gesellschaft die Empathie ausgeht. Dass das Sprechen über Israel in Deutschland schwierig ist und sehr viel mehr mit der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ und dem eigenen Selbstverständnis zu tun hat als mit den sehr komplexen Verhältnissen im Land, welches einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2022 zufolge nur sieben Prozent der Deutschen überhaupt je besucht haben.
Doch ist all dies wirklich eine hinreichende Begründung für das geringe Mitgefühl, ja die Kälte gegenüber Israel in der deutschen Öffentlichkeit nach dem 7. Oktober? Unfassbar ist doch die Dimension des Grauens, die Vergewaltigungen, die Zerstückelungen, Verbrennungen und Verschleppungen von insgesamt mehr als 1200 Menschen, die noch dazu gefilmt wurden, oft auf den Handys ihrer Opfer, und über Social media in alle Welt gingen. Warum gab es da kein gemeinsames Trauern? Jetzt liefern die Bilder getöteter Frauen und Kinder in Gaza den angeblichen Beleg für ein kindermordendes Israel und einen Westen, der in Solidarität mit Israel seine eigenen Werte verrät. Wenn in Berlin ein Rabbiner an der Rewe-Kasse angesprochen wird „Sie gehören doch auch zu diesen Kindermördern“, dann weiß man: die Propaganda der Hamas verfängt auch in Deutschland.
Jüdische Gemeinden
leisten Unglaubliches.
Wir haben in den letzten Wochen erlebt, dass Israelflaggen verbrannt, Häuser mit Davidsternen beschmiert wurden und Juden und Jüdinnen nach dem 7. Oktober (noch mehr) Angst haben, ihr Judesein offen zu zeigen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, einen Bus zu benutzen oder zur Synagoge zu gehen. Dabei leisten die Jüdischen Gemeinden Unglaubliches. So unterstützt die Jüdische Gemeinde Frankfurt derzeit etwa 40 Familien, die aus Israel geflüchtet sind, bietet eine Kinderbetreuung an und schafft Möglichkeiten für Homeoffice der Eltern. Die jüdische Schule hat eine eigene Klasse für israelische Kinder eingerichtet. Zugleich häufen sich auch in Frankfurt die Berichte, dass Häuser jüdischer Bürger:innen und israelische Restaurants mit Hakenkreuzen beschmiert werden. Der unverhohlene Antisemitismus in Deutschland ist bedrückend und für das „Nie wieder!“ ein Armutszeugnis. Judenhass in all seinen Formen – Israelhass eingeschlossen – muss noch viel härter bekämpft werden!
Grundvertrauen
verloren
Der Pianist Igor Levit hat seine Verstörung über die Reaktion der Deutschen ins Wort gebracht:
„Die jetzt fehlende Empathie hat bei mir dazu geführt, dass ich mein Grundvertrauen in das, was Gesellschaft in Deutschland ist, verloren habe. Das ist der eigentliche Bruch, den ich empfinde.“
85 Jahre nach der Reichspogromnacht steht die Vertrauensfrage im Raum. Auch im jüdisch-christlichen Dialog. Denn die Kirchen machen in puncto Ambivalenz keine Ausnahme. Die erste Reaktion des Papstes, „er sei traurig über die Gewalt und bete für alle Toten und Verletzten dieser neuen Welle der Gewalt“ ließ sowohl die Dimension des Massakers als auch die Differenzierung zwischen Tätern und Opfern des 7. Oktober außer Acht. Es hat gedauert, bis dem noch eine Verurteilung des Terrors durch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin folgte sowie die Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts von Israel. Auch die offizielle Erklärung des ÖRK ringt sichtlich. DBK und EKD waren an ihrer Spitze sofort ganz klar – aber wo waren nach dem 7. Oktober in Deutschland landesweit offene Kirchen, Solidaritätsgottesdienste für die Opfer, bundesweite Mahnwachen vor den Synagogen?
Antisemitismus
als Sünde wider
Gott und die Menschen.
Die Zurückhaltung ist umso befremdlicher, als eine belastbare Solidarität mit Israel, mit Juden und Jüdinnen in Israel und in der Diaspora eigentlich zur DNA jedes Christenmenschen gehören müsste. Denn in der katholischen wie der evangelischen Theologie gilt das Judentum als Wurzel des Christentums und Antisemitismus wird klar als Sünde wider Gott und die Menschen verurteilt. Man mag auch hier Erklärungen für die fehlende Eindeutigkeit parat haben wie etwa die besondere Beziehung zu den christlichen palästinensischen Gemeinden im Heiligen Land.
Es gibt das Judentum
nicht ohne den
Staat Israel.
Vielleicht gibt es in der katholischen Kirche noch einen tieferen Grund: dass Israel ein blinder Fleck in den religiösen Beziehungen zum Judentum ist. Obwohl sich bereits die Geschichte der so genannten „Judenerklärung“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, die schließlich in den wegweisenden Abschnitt 4 der Erklärung von „Nostra Aetate“ zum Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen mündete, wie ein Polit-Krimi liest, unterscheidet der Vatikan (wie auch die Deutsche Bischofskonferenz) bis heute streng zwischen den religiösen Beziehungen zum Judentum und den politischen zum Staat Israel. Diese Trennung „übersieht“ aber, dass es das Judentum nie ohne das Land Israel gibt. Und das Land Israel ist nach der Schoah untrennbar mit dem Staat Israel verbunden, als „sichere Heimstatt“ (potenziell) aller Juden und Jüdinnen. Wenn Israel bedroht ist, ist deshalb auch aus religiösen Gründen die klare Solidarität der Kirche gefordert. Erst auf dieser Basis folgen die politischen Debatten. Eine pauschale Kritik an Israel ohne nähere Differenzierungen ist immer ein versteckter Antisemitismus.
Der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK hat mit seiner Erklärung „Solidarität mit den Opfern und Frieden für den Nahen Osten!“ zusammen mit der „AG jüdisch & christlich“ beim DEKT und dem DKR diese Solidarität unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Die beiden Theologischen Fakultätentage in Deutschland sowie die Konferenz der Institute für Evangelische Theologie haben sich ihr vorbehaltlos angeschlossen, auch die Arbeitsgemeinschaft Dogmatik und Fundamentaltheologie unterstützt sie. Nach den gegenwärtigen Erfahrungen wird das Thema Israel und Kirche aber in neuer Weise auf der Tagesordnung der Theologie und des jüdisch-christlichen Dialogs stehen müssen.
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Dagmar Mensink, Theologin, koordiniert in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz religionspolitische Grundsatzfragen. Ehrenamtlich ist sie die katholische Leiterin des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim ZdK und Mitglied der Unterkommission der DBK für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Porträtfoto: privat
Foto: Frankfurter Opernplatz 17.11.2023, Wolfgang Beck