Heute am 3.11.2020 wählt die USA ihren nächsten Präsidenten. Der USA-Kenner Andreas G. Weiß analysiert die Lage in den USA unmittelbar vor den Wahlen. In einem Mix aus politischen, sozialen und gesellschaftlichen Horrorszenarien sowie quasi-erlösenden Zukunftshoffnungen stellen sich zwei Erlöserfiguren der Wahl.
Der Showdown naht. Wie alle 4 Jahre wandelt sich auch der diesjährige Novemberbeginn in den Vereinigten Staaten zu einem wahren Kampfplatz projizierter Hoffnungen und Befürchtungen. Reale Prognosen mischen sich mit Untergangsbotschaften, utopischen Versprechungen und autosuggestiven Aufrufen zu noch mehr Vertrauen in Amerikas Ausnahmerolle in der Geschichte. Auch Tage vor der diesjährigen US-Wahl zeigen sich Schattierungen aller möglichen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Horrorszenarien sowie quasi-erlösender Zukunftshoffnungen: Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl zwischen Amtsinhaber Donald Trump und seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden wird nicht mit apokalyptischen Bildern, unerfüllten Sehnsüchten und den schrecklichsten Erwartungen für die anstehende Amtszeit gespart. US-Bürger*innen stehen scheinbar vor einer Schicksalswahl: Noch einmal vier Jahre mit Donald Trump als ihrem „Man in Charge“ oder spricht man nach der Wahl des politischen Quereinsteigers 2016 doch wieder einem alteingesessenen Vertreter des (jedoch bei vielen verhassten) „Establishments“ die Unterstützung aus?
Zwei politische Erlöserfiguren im Kampf um den Einzug ins Weiße Haus.
Die Stoßrichtung der Wahlkampfslogans, die bevorstehende Wahl wäre DIE entscheidende Weichenstellung für Gelingen oder Misslingen der amerikanischen Berufung, gehört mittlerweile zwar schon zum Standardrepertoire republikanischer und demokratischer Parteistrateg*innen, doch sind die Vorzeichen im Jahr 2020 verschoben: Die USA sind krisengebeutelt wie schon lange nicht mehr. Mit Covid-19 ist nicht nur eine gesundheitspolitische, sondern zugleich eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe in „God’s Own Country“ ausgebrochen, an der fast alle Bevölkerungsschichten mehr oder weniger leiden. Es gibt nur wenige Bevölkerungsgruppen, die nach wie vor über einen festen Arbeitsplatz, sichere Gesundheitsvorsorge, Freiheit von Mietsorgen oder ein stabiles Einkommen verfügen oder von den Auswirkungen der Pandemie völlig verschont geblieben sind. Beinahe selbstverständlich, dass sich in den vergangenen Monaten des Wahlkampfes fast alle Themen rund um Schuld an der Krise, Erfolg und Misserfolg deren Bewältigung gedreht haben. Trump versucht, sich nach wie vor als Krisenmanager zu inszenieren, der „Millionen von Menschenleben gerettet“ hat. Biden hingegen wird nicht müde, seinen Finger in die gesellschaftlichen Wunden aus den vergangenen Monaten zu legen, um sich dann als politische Lösungsalternative in der Krise, Unsicherheit und Pandemie darzustellen. Man könnte fast meinen: Zwei politische Erlöserfiguren im Kampf um den Einzug ins Weiße Haus.
Jene republikanische Fassade, die seit dem Zweiten Weltkrieg die USA als christliches Vorzeigeland und freiheitliche Weltmacht interpretierte, hat Risse bekommen.
Doch so einfach, wie sich das europäischen Beobachter*innen gerne bietet, ist die Lage in den USA nicht: Nicht nur das gesellschaftspolitische und wirtschaftliche System der USA hat in den letzten Monaten und Jahren enormen Schaden genommen, sondern auch das sonst so selbstbewusste, patriotische Nationalgefühl (Stichwort: zivil-religiöses Erwählungsbewusstsein) scheint angekratzt. Die Abkehr Trumps von großen internationalen Verträgen (z.B. Pariser Klimaabkommen, Austritt aus der WHO), das Aufkündigen jahrzehntelanger Abmachungen (etwa die Israel-Alleingänge Trumps) sowie die Wirtschaftskriege nach allen Richtungen des Globus fanden nicht nur Unterstützer innerhalb der republikanischen Partei. Dazu kommen immer wieder laute Stimmen, Trump würde sich zu sehr in die Nähe von Putins Russland begeben bzw. kommunistischen Führern mehr vertrauen als den eigenen Bündnispartnern. Jene republikanische Fassade, die seit dem Zweiten Weltkrieg die USA als christliches Vorzeigeland und freiheitliche Weltmacht interpretierte, hat Risse bekommen. „America First“, der Slogan Trumps aus seiner Vereidigungsrede 2017, entspricht in weiten Konsequenzen weder dem klassischen „American Dream“ noch dem internationalen Sendungsauftrag, den zahlreiche konservative Politiker*innen nach wie vor für die USA beanspruchen.
Aus Bidens katholischer Gesinnung wurde beides: Eine Zielfläche für republikanische Strategien, zugleich ein Signal an jene Menschen, die für moderne Lebensformen einstehen wollen.
Auf der anderen Seite ist Joe Biden zwar auf den ersten, europäischen Blick eine stabile und berechenbare Alternative, doch haften ihm auch nicht wenige politische Vorurteile an: Neben seinem fortgeschrittenen Alter, das ihn immer wieder zum Ziel republikanischen Spotts macht, gibt es dafür aber auch politische bzw. religionspolitische Gründe. Als jahrzehntelanger „Berufspolitiker“ ist Biden Teil jenes Systems, das Trump seit seinem Einstieg in die republikanischen Vorwahlen 2015 immer wieder angeprangert hat. Als bekennender Katholik, der in seiner politischen Agenda jedoch für eine liberale Abtreibungspolitik („pro choice“) eintritt, wird er von weiten Teilen der US-Religionslandschaft als Sinnbild einer „verweichlicht-liberalen“ Gesinnung gesehen. Dass ein bekennender Katholik ins „Oval Office“ einziehen könnte, der jedoch in der politischen Wirklichkeit eine andere Linie als das offizielle Lehramt der Kirche vertritt, gilt für nicht wenige Kreise als religionspolitische Doppelmoral schlechthin und damit als Anzeichen zweifelhafter Integrität. Dass sich die Frage nach der Katholizität Bidens zu einem Politikum ersten Ranges entwickeln würde, war spätestens seit den beiden virtuellen Nominierungsparteitagen im August abzusehen: Während die demokratische Partei den Vorreiter der US-amerikanischen LBGTI-Theologie, den jesuitischen Fr. James Martin, zu Wort kommen ließ, traten auf dem republikanischen Pendant Kardinal Timothy Dolan von New York sowie die Ordensschwester Sr. Dede Byrne auf und machten sich für einen umfassenden Lebensschutz stark. So wurde aus Bidens katholischer Gesinnung beides: Eine Zielfläche für republikanische Strategien, zugleich wurde sie zu einem Signal an jene Menschen stilisiert, die für moderne Lebensformen einstehen wollen.
Entscheidende Wahl: Alles kann geschehen – jede Stimme zählt.
Dass diese Wahl – ebenso wie die vergangenen – eine sehr knappe Geschichte werden könnte, darauf weisen zahlreiche der Meinungsumfragen hin. Nach dem von vielen unvorhergesehenen Triumph Donald Trumps 2016 üben sich die Statistiker in nobler Zurückhaltung. Ihre Prognosen sehen zwar Biden in entscheidenden Staaten in Führung, doch die Fehlerquote der Umfragen, sowie die Unvorhersehbarkeit der tatsächlichen Wahlentscheidungen sollten heuer möglichst berücksichtigt werden. Während sich die beiden Kandidaten gegenseitig als Gefahr und fast apokalyptische Endzeitfigur in der Geschichte der USA hochstilisieren, finden sich die Bürger*innen vor einer entscheidenden Wahl: Alles kann geschehen – jede Stimme zählt.
Auf weite Strecken ist es eine Entscheidung für eine familiäre Tradition.
Es wäre aber falsch, den kommenden Wahltermin schlichtweg als eine Entscheidung über die beiden Personen abzutun. Hinzu kommen nämlich auch systemische Entwicklungen, die jede Wahl in den USA zu etwas Besonderem machen: Neben dem Anstieg säkularisierter Bevölkerungsteile gehört hierzu vor allem die Polarisierung der Politlandschaft: Aus dem Zweiparteiensystem, das sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte, wurden Generationen von kollektiven Identitäten hervorgebracht – die Wahl einer Partei ist für viele Wähler*innen keine Entscheidung, die im vierjährigen Abstand immer wieder von Neuem getroffen wird, sondern auf weite Strecken ist es eine Entscheidung für eine familiäre Tradition. Wer seit Jahrzehnten republikanisch oder demokratisch gewählt hat, wird sich eine andere Entscheidung genauer überlegen.
Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten nicht erst seit Donald Trump „gespalten“ sind
Geprägte Identitäten sind nachhaltige Einflussfaktoren. Bei Weitem der größte Teil der Wähler*innen weiß bereits vor Bekanntgabe der Namen der jeweiligen Kandidaten, welcher Partei sie ihre Stimme geben werden. Nicht selten hörte man im Jahr 2016 deshalb die Äußerung: „Lieber einen schlechten Republikaner als eine gute Demokratin!“ (was für die Gegenseite wohl in vielen Fällen ähnlich gelten würde) Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten nicht erst seit Donald Trump „gespalten“ sind, sondern die Polarisierung jenseits der politischen Trennlinien schon seit Jahrzehnten zugenommen hat. Zwar macht dieses Phänomen Bewegungen wie „Republicans for Biden“ (in der sich traditionelle, republikanische Politvertreter für eine Wahl des Demokraten Biden stark machen) umso bemerkenswerter, ob diese jedoch die breite Masse erreichen, muss offenbleiben.
Es dürfte ziemlich schnell klar sein, dass sich die wahlkampftechnisch hochstilisierten Hoffnungsbilder nur schwer in die Realität umwandeln lassen.
Und nach der Wahl? Es dürfte ziemlich schnell klar sein, dass sich die wahlkampftechnisch hochstilisierten Hoffnungsbilder nur schwer in die Realität umwandeln lassen. Eine Präsidentschaftswahl ist kein geschichtlicher Nullpunkt, an dem der neu Gewählte in einem bedingungslosen Raum seine Wahlversprechen einlösen könnte: Wird Joe Biden die Wahl für sich entscheiden, dann werden ihn die politischen Entscheidungen vergangener Jahre sowie die Befürchtungen zahlreicher Bevölkerungsteile weiterhin begleiten. Ein „Zurück“ in die Zeit „vor Trump“ gibt es nicht – die scheinbar selbstverständliche Welt der parteipolitischen Sicherheiten wurde mit dem Phänomen Trump, seiner Art von Politik und Kommunikation dauerhaft verändert. Biden könnte auch nicht ungehindert seine propagierte Covid-Strategie umsetzen, da er dafür nicht zuletzt die Unterstützung der Bundesstaaten (auch der republikanischen) bräuchte. So wie Trumps Präsidentschaft von Beginn an als Negativfolie zu Barack Obamas Politik angesetzt wurde, wird auch ein potentieller US-Präsident Biden vom „Schatten Trumps“ verfolgt werden: Und damit sind nicht nur die drei von Trump eingesetzten Höchstrichter*innen gemeint, sondern zahleiche Entscheidungen, Brüche, Bündnisse („Deals“) usw., die in den letzten vier Jahren aus der Taufe gehoben wurden.
Bereits während der letzten Jahre hat sich die „Grand Old Party“ (GOP) zu einem zerrissenen Überbleibsel der einstmals großen und selbstsicheren Partei entwickel.
Für Trump auf der anderen Seite würden die kommenden vier Jahre noch einmal turbulenter werden: Glaubt man den Prognosen der Meinungsforscher*innen, könnte die demokratische Partei die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses erlangen. Was Trump dann droht, konnte man in der zweiten Amtszeit Barack Obamas (2012-2016) miterleben, nämlich eine dauerhafte Polit-Schlacht mit den Repräsentant*innen im Senat und Kongress, die viele der präsidialen Beschlüsse und Vorhaben torpedieren bzw. blockieren könnten. Zudem müsste sich auch die republikanische Partei während möglicher weiterer vier Jahre mit Trump an der Spitze ernsthaft die Frage stellen, wie man nach dem Abgang dieses politischen „Elefanten im republikanischen Porzellanladen“ agieren sollte. Bereits während der letzten Jahre hat sich die „Grand Old Party“ (GOP) zu einem zerrissenen Überbleibsel der einstmals großen und selbstsicheren Partei entwickelt: Beim Nominierungsparteitag 2020 erhielten natürlich nur explizite Verfechter der Trump-Linie eine Stimme, ebenso Vertreter*innen der Trump-Familie. Diese Symbolik, nur mehr auf den Namen Trump bzw. seinen Clan reduziert zu werden, setzt erheblichen Teilen der Konservativen stark zu – verständlich könnte man meinen, schließlich möchte man auch in Zukunft nicht einfach zu einer Kaderschmiede politischer Kopien à la Donald Trump verkommen, sondern als ernstzunehmende konservative Stimme in der Gesellschaft der USA gelten.
In Krisenzeiten spielen messianisch codierte Hoffnungsbotschaften auch im 21. Jahrhundert eine entscheidende Rolle.
Was der US-Wahlkampf 2020 jedoch deutlich gezeigt hat: In Krisenzeiten spielen messianisch codierte Hoffnungsbotschaften auch im 21. Jahrhundert eine entscheidende Rolle. Sie gehören nicht einfach zu einem religiösen Überbleibsel längst vergangener Tage, sondern sie sind weiterhin wirksam. In ihnen spiegeln sich politische Hoffnungen, reale Ängste und existentielle Unsicherheiten ebenso wie strategisch einsetzbare Polit-Kalküle. Besonders im Zeichen der Covid-19-Krise sind somit die Wähler*innen noch einmal mehr gefordert, zwischen realistischen Zukunftsperspektiven und leeren Versprechungen zu wählen bzw. ihre Stimme als wertvolles Gewicht in der Frage nach Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit zu sehen. Die Welt blickt dieser Tage gespannt nach „God’s Own Country“ – an Überraschungen und Schockmomente ist man wohl gegenwärtig etwas gewöhnt. Dennoch sollte man sich nichts vormachen, dass die projizierten Erlösungswünsche und herbeigesehnten Hoffnungsbilder nicht selten bereits im Vorhinein zum Scheitern verurteilt sind.
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Autor: Andreas G. Weiß ist Theologe, Autor und Bildungsreferent im Katholischen Bildungswerk Salzburg
Publikation: Trump – Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, 2019
Beitragsbild: Pixabay