Die grossen Erzählungen haben wieder Konjunktur, so Albrecht Grözinger. Könnte die Bibel zu multiperspektivischen, gar gebrochenen Narrativen inspirieren?
Im Jahre 1979 veröffentlichte der französische Philosoph Jean-François Lyotard sein Buch „La condition postmoderne“ (in erweiterter Form im Jahre 1986 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das postmoderne Wissen“ erschienen). Darin prägt Lyotard den Begriff der „grossen Erzählung“ und zielt auf die geschlossenen Weltdeutungssysteme, die das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Lyotard benennt explizit das Projekt der Aufklärung, das vor allem mit dem Namen Immanuel Kants verbunden ist. Und er nennt das spekulativ-philosophische System des deutschen Idealismus, das mit dem Namen Hegels verbunden ist, und das auf der einen Seite in einer politischen Version in den Marxismus und auf der anderen Seite in die Hermeneutik eines Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer ausmündet.
die geschlossenen Weltdeutungssysteme, die das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben
Diese begriffliche Strategie Lyotards barg eine doppelte Provokation in sich: Zum einen depotenzierte er wirkmächtige Deutungssysteme als „blosse“ Erzählungen, denen letzten Endes eine gewisse Zufälligkeit anhaftet. Und zum Anderen verband Lyotard mit dem Begriff der „grossen Erzählung“ die These von deren Ende: „Die grosse Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung von der Emanzipation.“ (Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1994, S. 112.) Allerdings – und dies wird in der Rezeption von Lyotard gerne übersehen – werden damit nicht die Inhalte obsolet, sondern nur die Form ihrer Tradierung als geschlossene Weltdeutungssysteme – als „grosse Erzählung“ eben, die als Form unwiederbringlich an ihr Ende gekommen ist.
Nun ist unverkennbar, dass gegenwärtig die „grossen Erzählungen“ mit Macht wieder Geltung beanspruchen. So bringt Wladimir Putin zur Legitimierung seines Angriffskriegs auf die Ukraine die grosse Erzählung vom russischen Imperium in Anschlag. Donald Trump konnte mit seiner grossen Erzählung eines „Make America Great Again“ die US-Präsidentschaftswahl gewinnen. Aber auch diejenigen, die sich in unseren Breiten diesen beiden grossen Erzählungen der Protagonisten der beiden einstmaligen Supermächte entgegenstellen wollen, bedienen sich einer grossen Erzählung, nämlich der Erzählung eines freien und pluralistischen Europas. Kaum eine Nachrichtensendung oder eine Talkshow, in der nicht an irgendeiner Stelle der Begriffs des „Narrativs“ auftaucht. Wer die Narrative beherrscht, beherrscht die Welt. So scheint es heute wieder – aller Rede vom „Ende der grossen Erzählungen“ zum Trotz. Sind also die grossen Erzählungen wieder unser Schicksal geworden?
… unverkennbar, dass gegenwärtig die „grossen Erzählungen“ mit Macht wieder Geltung beanspruchen.
Es ist wohl so: Wir Menschen brauchen sie – die grossen Erzählungen. Es ist kein Zufall, dass die Wiederkehr der grossen Erzählungen in eine Zeit der grossen Verunsicherungen fällt: die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, das Entstehen eines neuen weltpolitischen Machtgefüges, ökonomische Turbulenzen. Das erzeugt Verunsicherung und verlangt nach Vergewisserung. Und die grossen Erzählungen versprechen vor allem eines: Beheimatung in einer fremd und unsicher gewordenen Welt.
Beheimatung in einer fremd und unsicher gewordenen Welt
Allerdings – und da bleibt die Analyse eines Jean-François Lyotard hochaktuell – steht die Frage im Raum: Kehren mit der Wiederkehr der grossen Erzählungen auch deren Schattenseiten wieder? Taumeln wir strukturell in eine ähnliche Epoche wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die Konkurrenz der beiden Gross-Erzählungen Faschismus und leninistisch-stalinistischer Kommunismus den europäischen Kontinent beherrschte mit all den damit verbundenen humanen Katastrophen? Ich denke nicht, dass wir bereits an diesem Ort sind, wo uns die neuen Gross-Erzählungen im Zangengriff haben. Eines aber sollten wir nüchtern sehen: Sie sind wieder da – die grossen Erzählungen. Und deshalb müssen wir erneut lernen mit ihnen umzugehen. Wir brauchen eine Hermeneutik der grossen Erzählungen. Und da können wir von der postmodernen Dekonstruktion der grossen Erzählungen durchaus lernen.
… fällt auf, dass Lyotard eine geschichtsmächtige Gross-Erzählung nicht nennt – das Christentum.
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Lyotard eine geschichtsmächtige Gross-Erzählung nicht nennt – nämlich das Christentum. Wahrscheinlich hielt er es in den Hoch-Zeiten postmoderner Gestimmtheit für so obsolet, dass er eine Auseinandersetzung damit für überflüssig hielt. Diese Leerstelle möchte ich gerne ausfüllen, weil ich denke, dass diese Leerstelle zu einer Lehrstelle werden kann angesichts der Wiederkehr der grossen Erzählungen.
Das Christentum als grosse Erzählung hat ja eine klar definierte literarische Grundlage, nämlich die Bibel in ihren beiden Teilen. Wobei interessant ist, dass diese literarische Grundlage bis auf den heutigen Tag zwei Gross-Erzählungen nährt: der Tenach das Judentum, und der durch das Neue Testament erweiterte Tenach das Christentum.
Die in der enthaltene Gross-Erzählung erscheint merkwürdig gebrochen.
Blickt man nun auf die Bibel in ihren beiden Teilen, so fällt eine literarische Besonderheit ins Auge – die darin enthaltene Gross-Erzählung erscheint merkwürdig gebrochen. Viele Dinge werden dort mehrmals erzählt. So erscheint der Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer und die Errettung vor den Truppen des Pharao in mehrfacher Gestalt: von der Schilderung des Zurückgehen des Wassers als dort übliches Naturphänomen bis hin zum massiven Wunder-Eingreifen Gottes. Die Lebensgeschichte und das Geschick Jesu von Nazareth werden gar viermal erzählt. Und der Apostel Paulus muss sich in einem der Pastoralbriefe sagen lassen, dass er vielleicht doch zu kompliziert denke und schreibe.
Die Gottesgeschichte ist also eine doch recht merkwürdige grosse Erzählung. Man hat ja immer wieder versucht, etwa die vier Evangelien in ein einheitliches Super-Evangelium zu überführen ohne die Widersprüche und Spannungen, die sich aus den vier Evangelien ergeben. Es ist bezeichnend, dass sich aber solche Versuche nicht durchsetzen konnten. Offensichtlich war das theologische Gespür dafür zu gross, dass sich die Gottesgeschichte nur in verschiedenen Perspektiven erzählen lässt. Die Brüche und Spannungen in der biblischen Gross-Erzählung sind nicht Defizit, sondern Ausdruck von deren Erfahrungsgehalt.
Die Gottesgeschichte lässt sich nur in verschiedenen Perspektiven erzählen.
Für die reformatorische Theologie war es ein wichtiges Motiv der Bibelhermeneutik, dass die Kriterien der Bibellektüre aus der Schrift selbst gewonnen werden. Martin Luthers berühmte Formel „scriptura sui ipsius interpres“ (Die Schrift interpretiert sich selbst) bringt dieses hermeneutische Grundverständnis auf den Punkt.
Bereits bei den ersten Ansätzen zur historisch-kritischen Bibelerforschung kam bei den Exegeten die Frage auf: Warum machen es uns die biblischen Schriftsteller so einfach. Warum lassen sich Brüche und Übergänge zwischen verschiedenen Textquellen so leicht erkennen? Sicher wäre es falsch, auf ein literarisch-sprachliches Unvermögen der Autoren und Redaktoren zu schliessen. Wer Texte in so kunstvoller und empathischer Sprache formulieren kann, dem müsste es auch nicht schwerfallen, Übergänge zwischen Textquellen ebenso kunstvoll und empathisch zu „kaschieren“.
eine lebendige „Story“, die sich immer selbst unterbricht, sich selbst ins Wort fällt, sich immer wieder erneuert und erweitert
Aber offensichtlich wollten dies gerade die Autoren und Redaktoren der Bibel nicht. Nein – sie wollten, dass wir erkennen: Hier werden verschiedene Texte zu einem Neuen zusammengeführt. Sie wollten, dass wir erkennen, die Bibel ist ein kunstvolles Geflecht aus Zusammenfügungen verschiedener Erzähltraditionen. Die Bibel als sui ipsius interpres sagt uns: Ja – ich bin eine Gross-Erzählung. Aber ich bin keine hermetisch-geschlossene Gross-Erzählung, sondern ich bin eine lebendige „Story“, die sich immer selbst unterbricht, sich selbst ins Wort fällt, sich immer wieder erneuert und erweitert.
Ich denke diese aus der Bibellektüre gewonnene Hermeneutik kann uns im Moment der Wiederkehr der grossen Erzählungen hilfreich sein. Sie kann uns bewahren vor der abgeschlossenen Totalität, zu der alle (alle!) Gross-Erzählungen neigen. Auch das Christentum wurde und wird immer wieder als eine solche geschlossene Totalität tradiert. Aber sein Ursprungstext, die Bibel, leitet uns zu einem anderen Verständnis an.
die Europa-Saga als eine ambivalente und gebrochene Geschichte erzählen
Für unsere Europa-Saga, an der auch ich gegenwärtig weiterzuerzählen versuche, hat dies weitreichende Konsequenzen. Der Historiker Christopher Clark hat im Jahre 2017 eine sechsteilige Fernsehserie unter eben dem Titel „Europa-Saga“ präsentiert. Und er hat bereits damals diese Saga als eine ambivalente und gebrochene Geschichte erzählt. Und doch klang seine Serie damals recht optimistisch aus: Irgendwie wird es – auch angesichts der gewaltigen Herausforderungen – Europa schon schaffen.
In dieser Hinsicht bin ich heute viel weniger optimistisch. Angesichts der sich neu herausbildenden Weltordnung, deren Konturen nicht nur Gutes verheissen, stellt sich die Frage, wie eine Europa-Saga heute aussehen müsste.
Zu dieser Saga, die irgendwo vor über 2500 Jahren im östlichen Mittelmeerraum beginnt, gehört der Traum von Demokratie und Pluralismus. Und dann im Verlauf der bürgerlichen Revolutionen die Ausformulierung von Menschenrechten mit universeller Geltung. Aber zu dieser Europa-Saga gehört auch der Verrat an diesem Traum und diesen Visionen. Das „christliche Abendland“ war über Jahrhunderte hinweg gekennzeichnet durch Exklusionen: Juden und Jüdinnen, Frauen, Behinderte waren von der vollen Partizipation ausgeschlossen. Europa hat in der Neuzeit weite Teile der Erde kolonialisiert und ausgebeutet. Auch das gehört zur Europa-Saga.
Das „christliche Abendland“ war über Jahrhunderte hinweg gekennzeichnet durch Exklusionen.
Aber Europa hatte auch immer wieder die Kraft zu Selbstkritik und Korrekturen. Die Menschenrechte waren die humane und humanisierende Treibkraft. Sie waren der grosse Erzähler, der die Europa-Sage immer wieder unterbrochen, ihren Verlauf geändert, an ihr weitergeschrieben hat. Noch die – durchaus berechtigte – postkoloniale Kritik an der klassisch-geschlossenen Europa-Saga klagt diese Sprengkraft des „grossen Erzählers Menschenrechte“ ein.
Die Menschenrechte als der grosse Erzähler, der die Europa-Sage immer wieder unterbrochen, ihren Verlauf geändert, an ihr weitergeschrieben hat.
Geschult an der an einer Bibellektüre gewonnenen Hermeneutik einer offenen Gross-Erzählung kann die Europa-Saga heute keine triumphale mehr sein. Wenn sie selbst-kritisch von ihrer Herkunft, von ihren Verwerfungen und Abgründen, aber auch von ihren Träumen und Hoffnungen erzählt, dann ist das genug. Immer noch vertraue ich darauf, dass eine solch erzählte Europa-Saga im weltweiten Konzert der wohl wieder immer mächtiger werdenden Gross-Erzählungen bestehen kann.
Prof. em. Dr. Albrecht Grözinger lehrte bis 2016 Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.
Beitragsbild: Unbeschriebener Papyrus, Bild: B. Simpson Cairocamels / Wikicommons