Joachim Kügler erklärt zum Ende der Weihnachtszeit die religionsgeschichtlichen Hintergründe eines merkwürdigen Details der Weihnachtsgeschichte und wie geschickt Lukas hier das Spiel mit alten Mustern betreibt.
Die Windel, dieses unscheinbare Stück Stoff, stellt ein nicht unwichtiges Element in der Topik der ägyptischen Königslobs dar. Im Kontext der Vorstellung vom Königtum von Mutterleib an findet sich auch die Aussage, der König habe schon „auf der Windel“ regiert, also schon als Wickelkind Leistungen gemäß der königlichen Rollenerwartung vollbracht.
… wichtiges Element in der Topik der ägyptischen Königslobs.
Selbstverständlich wurden solche Aussagen nicht über einen gerade geborenen oder gar noch ungeborenen Königssohn gemacht, sondern erst über den regierenden König. Es handelt sich also um verklärende Formulierungen des göttlich-königlichen Wesens, die den betreffenden Amtsinhaber rückblickend vom Uranfang seiner physischen Existenz in die theologisch gefüllte und für die ägyptische Religion entscheidende Rolle des Pharao einordnen.
Es ist ganz klar, dass ein solch Rückprojizieren herrscherlicher Qualität immer auch die Funktion hat, den betreffenden Herrscher zu legitimieren, indem es die göttliche Prädestination seiner Herrschaft betont und versucht, die königliche Rolle und ihren Träger miteinander zu verschmelzen. Nicht umsonst geht es im Kontext solcher Aussagen darum, dass sich der König dadurch bewährt, dass er die königliche Rollenerwartung erfüllt.
Die Benutzung des Windeltopos setzt das kulturelle Wissen voraus, dass Windeln ein Zeichen des hilflosen, auf Fürsorge angewiesenen Kindes sind. Diese Hilflosigkeitssemantik wird mit der Herrscherqualität des Kindes kontrastiert und dadurch bis zu einem gewissen Grad aufgehoben. In der Koppelung mit einem Aspekt königlicher Machtausübung wird die Windel zwar nicht selbst zu einem Herrschersymbol, trägt aber durch den entstehenden Kontrast zur Steigerung der königlichen Qualifizierung des Neugeborenen bei.
… Hilflosigkeitssemantik wird mit der Herrscherqualität des Kindes kontrastiert
Die bleibende Bedeutung entsprechender Vorstellungen bis in die neutestamentliche Zeit hinein lässt sich an einem Beispiel aus der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81-96) zeigen. Den Text des Obelisken, der in Rom beim Isistempel (Iseum Campense) errichtet wurde, entwarf ein oberägyptischer Priester für den Kaiser. In altägyptischer Manier wird der Herrscher gepriesen als „vollkommener Gott“, „Erbe des Vaters der Götter“, der „das Land füllt mit seiner Nahrung“. Wie selbstverständlich sind auch Elemente der Vorstellung vom Königtum im Ei anzutreffen: Die „beiden Herrinnen“ geben dem Pharao Domitian die Brust, als göttliche Ammen säugen sie ihn „auf seiner Windel“ und machen ihn damit schon als Kleinkind fähig zur Ausübung des Königtums.
Es ist zwar nicht anzunehmen, dass eine größere Öffentlichkeit ägyptische Königstexte lesen konnte, aber angesichts der Omnipräsenz der Herrscherverherrlichung im Alltag der Menschen muss doch vermutet werden, dass auch Einzelelemente aus dem engeren Bereich der Königstheologie in das allgemeine kulturelle Wissen eingingen und damit zu einer Herausforderung für religiöse Abweichler, wie z.B. die hellenistischen Diasporajuden, wurden.
Diese Annahme wird gestützt durch die Weisheit Salomos, einen hellenistisch-jüdischen Text, der als jüngstes Buch des griechischen Alten Testaments wohl kurz nach dem Sieg Octavians bei Actium (31 v.Chr.) in Alexandria entstanden ist. In mehreren Passagen des Buches, als dessen (fiktiver) Verfasser König Salomo zu erschließen ist (Weish 9,7f), findet sich Polemik gegen die hellenistische Königsideologie mit ihrem Drang zur religiösen Überhöhung des Herrschers. Während in der hellenistischen Umwelt die Machthaber mit dem Anspruch auftreten, Söhne (eines) Gottes zu sein, wird im Weihseitsbuch die königliche Würde und damit auch dieses besondere Prädikat „demokratisiert“ und allgemein auf den jüdischen Gesetzestreuen übertragen.
…königliche Würde „demokratisiert“
Er wird „Kind des Herrn“ (2,13) genannt; Gott ist sein Vater (2,16) und er ist „Sohn Gottes“ (2,18). Die weisen Gerechten werden nach dem Tod mit der Königswürde belohnt und erhalten von Gott das Königsdiadem unvergänglicher Schönheit (5,16). Sohn Gottes ist also gemäß der Weisheit Salomos der gerechte Weise, und zwar aufgrund seiner Gerechtigkeit und nicht dadurch, daß er etwa als König auf besondere Weise zur Welt käme. Durch diese kritische Bezugnahme auf die zeitgenössische Königsideologie konstituiert das Weisheitsbuch einen wichtigen Konnotationsraum, der für die Windeln eine weitere Bedeutungsebene erzeugt.
Dies wird in Weish 7,1-6 deutlich. Dort wird betont, daß der König ein Mensch ist wie alle anderen auch.
(1) Auch ich bin ein sterblicher Mensch wie alle anderen,
Nachkomme des ersten, aus Erde gebildeten Menschen.
Im Schoß der Mutter wurde ich zu Fleisch geformt,
(2) zu dem das Blut in zehn Monaten gerann durch den Samen des Mannes und die Lust, die im Beischlaf hinzukam.
(3) Geboren atmete auch ich die gemeinsame Luft,
ich fiel auf die Erde, die Gleiches von allen erduldet,
und Weinen war mein erster Laut wie bei allen.
(4) In Windeln und mit Sorgen wurde ich aufgezogen.
(5) Keiner der Könige hat einen anderen Anfang des Daseins.
(6) Ein Eingang aller zum Leben, gleich auch der Ausgang.
Jede Aussage dieses Abschnitts erhält durch den Hintergrund hellenistischer Herrscherideologie ein spezifisches Echo:
Auch der Herrscher ist ein sterblicher Mensch, nicht etwa ein ewig lebender König. Er stammt nicht von Göttern oder Halbgöttern ab, sondern von dem aus Erde gebildeten Adam. Er wird im Mutterleib nicht zum Herrscher, sondern einfach zu Fleisch geformt, dem Stoff, aus dem die Menschen sind. Er verdankt seine Existenz nicht göttlicher Zeugung, sondern dem Samen des Mannes, dem Blut der Frau und der Lust des Beischlafs. Kein göttlicher Hauch gibt ihm Leben, sondern er atmet die gleiche Luft wie alle – geschweige denn, daß er die Atemluft anderer wäre, was vom ägyptischen Pharao ebenso gesagt werden konnte, wie vom römischen Kaiser. Das Neugeborene fällt auf die Erde, ohne Fürsorge einer göttlichen Amme. Es weint wie alle Kinder und erteilt nicht etwa Befehle wie ein Gottkönig. Er regiert nicht auf den Windeln, sondern wird in diesen Windeln in Sorge aufgezogen.
…radikaler Absage an die im Hellenismus gängige Herrscherideologie
Nach dieser wiederholten Betonung des normal Menschlichen wird in V.5f abschließend die generelle Unterschiedslosigkeit königlicher Geburt (und königlichen Sterbens) behauptet und kategorisch festgestellt, dass das, was der fromme Salomo von sich sagt, von allen Königen gilt. Eine radikalere Absage an die im Hellenismus gängige Herrscherideologie ist wohl in kaum einem antiken Text zu finden.
Wie in den angeführten hellenistisch-ägyptischen und griechischen Beispielen ist die Windel Zeichen des neugeborenen, auf Hilfe angewiesenen Kindes. Allerdings wird ganz dezidiert darauf verzichtet, dieses Zeichen durch irgendwelche Aktivitäten zu kontrastieren, die üblicher Weise dem erwachsenen König bzw. Gott zugewiesen werden. Dadurch aber, dass die Hilflosigkeitssemantik gerade dort nicht aufgehoben wird, wo dies zeitgenössisch zu erwarten wäre, wird das Paradigma der Königseulogien durchbrochen. Als Element einer solchen Demontage der göttlichen Aura, mit denen sich die hellenistischen Könige und römischen Kaiser programmatisch umgaben, gewinnt das Bild der Windel geradezu eine entmythologisierende Dynamik.
Die Geburtserzählung im Lukasevangelium gehört zwar sicher zu den bekanntesten Texten der christlichen Tradition, allerdings enthält der Text einige Informationen, die alles andere als selbstverständlich erscheinen. Zu diesen gehört etwa die Erwähnung des Umstands, dass das Jesuskind von seiner Mutter Maria in Windeln gewickelt wird. Dies wird durch Wiederholung sogar besonders betont.
Dies lässt darauf schließen, dass dem Stück Stoff eine besondere Bedeutung zukommt. Dem entspricht, dass das gewickelte und in einer Krippe liegende Kind auch noch als Zeichen bezeichnet wird. Was das von Gott gegebene Zeichen in diesem Falle zu bedeuten hat, wird am besten von der Krippe her erklärt, da diese mit den Windeln ein recht fest gefügtes Paar von Merkmalen bildet.
Dies lässt darauf schließen, dass dem Stück Stoff eine besondere Bedeutung zukommt.
Die hellenistisch-römische Herrscherideologie wird präsent gemacht durch die Verknüpfung der Jesusgeschichte mit der Weltgeschichte (Erwähnung des Augustus und des Zensus in Lk 2,1-3). Damit ist die Kulisse einer politischen Theologie errichtet, die in der Antike unter dem Schlagwort der PAX ROMANA bekannt und mit entsprechenden Vorstellungen von der Göttlichkeit der Herrscher verbunden war.
Zusätzlich stellen „davidische“ Assoziationen eine Verbindung zur jüdischen Königstradition her: Die Hirten, ihre Herden und die Stadt Betlehem erinnern an David, das Urbild eines Hirten Israels, der aus Betlehem stammte (1Sam 16,1.4) und vom Propheten Samuel von den Herden weg zum König berufen wurde (1Sam 16,11).
Die Szenerie ist also von zwei Polen her politisch und religiös aufgeladen. In einem solchen Kontext bringt der armselige Futtertrog einerseits einen pikanten Kontrast zu den im Hellenismus ebenso wie in Teilen des Judentum gängigen Vorstellungen von der hoheitlichen Würde eines göttlichen Weltenherrschers zum Ausdruck, andererseits erzeugt er über die Verbindung zum Hirtenmilieu davidische Konnotationen, die auf Jesus als Messias hinweisen. Eine ähnlich gedoppelte Semantik ist nun auch für die Windeln Jesu anzusetzen.
… politisch und religiös aufgeladen.
Bei Lukas ist ja kaum zu vermuten, dass mit der Erwähnung des Wickelns eine Infragestellung der göttlichen Geburt des königlichen Kindes Jesus beabsichtigt wäre. Gewiss zielt die Erzählung nicht etwa auf eine Beschreibung der biologischen Entstehung Jesu, aber die Vaterschaft des Josef wird doch recht eindeutig bestritten (Lk 1,34). Zwar ist auch bei Lukas das Wickeln in Windeln ein Zeichen für die menschliche Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit des Neugeborenen, aber er geht zwischen der Ideologiekritik des Weisheitsbuches und der hellenistisch-römischen Herrscherverherrlichung seinen eigenen Weg.
Setzt er sich von der Weisheit Salomos dadurch ab, dass er die kulturell gegebene Semantik der Windel nicht zur Infragestellung des göttlichen Ursprungs des Kindes benutzt, so gerät er auch nicht auf die Bahn der gängigen Herrscherideologie. An keiner Stelle wird die Hilflosigkeitssemantik der Windeln durch irgendwelche beeindruckenden Herrscheraktivitäten aufgehoben. Die echte Menschlichkeit des Neugeborenen wird nicht durch gängige Hoheitstopoi überspielt.
…nicht einfach im Schema gängiger Herrscherkonzepte zu fassen.
Die Betonung des Umstandes, dass das Jesuskind in Windeln gewickelt wurde, ist als Element eines literarischen und theologischen Konzepts zu lesen, das sich einerseits auf politisch getönte Heilserwartungen der Zeitgenossen bezieht und Jesus als die von Gott gegebene Erfüllung solcher Erwartungen charakterisiert, zugleich aber deutlich macht, dass dieser König nicht einfach im Schema gängiger Herrscherkonzepte zu fassen ist.
Um angesichts der betonten menschlichen Niedrigkeit des Neugeborenen trotzdem dessen einzigartige königliche Qualität als Sohn Gottes deutlich werden zu lassen, bedarf es schon eines himmlischen Boten, der als autorisierter Interpret das deutet, was bei Lukas menschlicher Hermeneutik kaum mehr zugänglich ist: Gerade das hilflose und unscheinbare Wickelkind im Futtertrog – und niemand sonst – ist Retter, Messias und Herr (Lk 2,11).
Das Spiel mit den alten Mustern wird so betrieben, dass im erzeugten patchwork der entscheidende Riss entsteht, der das Neue erkennbar werden lässt.
Ganz offensichtlich bewegt sich das lukanische Christusbild jenseits von Erfüllung oder Kritik gängiger Konzepte vom Heilskönig. So werden die entsprechenden zeitgenössischen Denkmuster von Lukas zwar als traditionell vorgegebenes Beschreibungsmaterial benutzt, weil eben auch das Neue nicht ohne das Alte zu sagen ist, aber sie müssen aufgebrochen werden, wenn tatsächlich Neues zu sagen ist. Um es im Jargon der Postmoderne auszudrücken: Das Spiel mit den alten Mustern muss so betrieben werden, dass im erzeugten patchwork der entscheidende Riss entsteht, der das Neue erkennbar werden lässt.
(Joachim Kügler; Bild: „Baby-kokon11“ von I, Produnis. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Baby-kokon11.jpg#/media/File:Baby-kokon11.jpg)