Biblische Erzählungen bieten Deutungshorizonte für die aktuelle Corona-Pandemie. Konkretisiert an den 10 Plagen der Exoduserzählung. Von Regina Polak
Buschbrände in Australien, Sturmfluten im Norden Europas, Heuschreckenplage in Afrika – und jetzt die globale Corona-Pandemie: Eine Katastrophe jagt seit Jahresbeginn die andere.
Immer wieder beschleicht mich dabei die Erinnerung an die zehn Plagen der Exodus-Erzählung. Aber solche Assoziationen scheinen wenig hilfreich, weil sie rasch mit einer Strafe Gottes verbunden werden und die berechtigte Angst verstärken.
Manche „theologische“ Aktualisierungen sind verantwortungslos.
Der Schweizer Weihbischof Eleganti hatte diese Idee offenbar ebenfalls und bezeichnete Corona als „Strafe“ Gottes. Er reiht sich damit in die Reihe jener Fundamentalisten ein, die auch den Tsunami in Thailand 2004 oder den Brand der Notre Dame 2019 auf einen Gott zurückführten, der menschliche Sünden mit brutaler Gewalt beantwortet. Sie projizieren ihre eigene Rachephantasien auf Gott. Solche „theologischen“ Aktualisierungen sind verantwortungslos, brandgefährlich und abzulehnen.
Biblische Erzählungen als Quelle von Sinn und gebildeter Hoffnung
Dennoch frage ich mich, ob die Heilige Schrift nicht doch auch gerade jetzt Sinn stiften, Hoffnung schenken und den notwendigen langen Atem stärken könnte. All dies benötigen wir in Österreich, Europa und weltweit für die nächsten Monate ziemlich dringend.
Dazu sollte man die biblischen Texte weder als dogmatisches Lehrbuch noch als ethische Gebrauchsanleitung lesen, sondern als Glaubenszeugnisse, die in Erinnerung halten, wie die Gemeinden des Volkes Gottes jenen Glauben gelernt haben, aus dem auch Christinnen und Christen heute ihr Leben gestalten. Inmitten großer Katastrophen wie Flucht und Vertreibung, Unterdrückung, Verfolgung und Ausbeutung durch imperiale Großreiche wie Ägypten, Babylon oder das Imperium Romanum haben sie diesen Ereignissen religiösen Sinn abgerungen. Untrennbar damit verbunden haben sie auch ethische, rechtliche und politische Konsequenzen aus ihnen gezogen, um zukünftiges Leid zu verhindern.
Worin besteht der innere theologische Sinn dessen, was dem Volk Gottes widerfährt?
Der biblischen Geschichtsschreibung ging es demnach weniger um historische Tatsachenberichte in unserem Sinn, sondern um die Frage, worin der innere theologische Sinn dessen besteht, was dem Volk Gottes widerfährt, und was daraus zu lernen ist. Trotz allen Übels bildete sich dabei qualifizierte, erfahrene und gebildete Hoffnung. Eine solche verliert auch in Katastrophen nicht die Orientierung an Gott und weiß um die ethische, rechtliche und politische Verantwortung, die Herausforderungen der Zeit betend, denkend und handelnd zu bestehen. Diese Hoffnung ist keine billige Vertröstung, kein platter Optimismus, kein naives Versprechen auf ein irdisches Happy End. Gerechnet wird mit dem Schlimmsten. Gehofft und getan wird alles, damit die Geschichte mit Gottes Hilfe zum Guten gewendet werden kann. Die Menschen der Bibel werden aus Opfern wieder zu Handelnden der Geschichte.
Hoffnungspotentiale für die Gegenwart?
Um die Erzählung von den zehn Plagen als Hoffnungsbild erkennen zu können, muss man sie im Kontext der gesamten Exodusgeschichte und in jenem Geist lesen, in dem sie verfasst wurde: als Beschreibung einer Befreiungsgeschichte, in der das Volk Gottes erfahren hat, dass Gott sein Volk immer wieder aus Leid, Not und Tod, aus Katastrophen und Untergang gerettet hat. Deshalb möchte, kann und wird er es auch wieder tun – sofern wir dies gestatten und mithelfen. Christinnen und Christen tun dies auf der Basis ihrer zentralen Befreiungserfahrung, dem Sieg Jesu Christi über den Tod. Sie vertrauen darauf, dass man Gott beim Wort nehmen darf und bitten kann, seine Versprechen zu halten.
Zehn Plagen als eine Art Warnung und Weckruf Gottes
Die Exoduserzählung berichtet von der geglückten Flucht der Hebräer aus dem religiös-politischen System Ägypten, das in seiner beeindruckenden wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Verfasstheit dennoch auf einer unrechten und ungerechten Gesellschaftsordnung aufgebaut war. Die Hebräer, die der untersten sozialen Schicht angehören, werden die Flucht als Befreiungsgeschichte durch und mit Gott deuten.
In diesem Horizont kann man die zehn Plagen als eine Art Warnung und Weckruf Gottes für den Pharao wahrnehmen, der sich weigert, seinen ausgebeuteten Sklaven Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und Freiheit zu schenken. Sie stellen eine Chance auf Umkehr dar. Dies lässt sie aus einer tieferen spirituellen Perspektive zum Hoffnungszeichen werden. Eine solche Sicht mindert weder die Dramatik und das Übel der Ereignisse noch beschönigt sie diese. Beim jüdischen Pesachfest mindern die Plagen, die die Ägypter erlitten, die Freude an der Befreiung und für jede Plage wird etwas Rotwein ausgeschüttet. Auch ohne Strafen wäre die Befreiung genug gewesen, wird gebetet. Eine freudige Sicht auf die Plagen oder eine Interpretation, die diese gutheißt, wären also zynisch und eine unzulässige spirituelle Überhöhung.
Aus praktisch-theologischer Sicht lassen sich aber durchaus spirituelle und praktische Potentiale erkennen. Indem Gott selbst die Verantwortung für diese Plagen übernimmt, muss sein Volk nicht zur Gewalt gegen die Ägypter greifen und schuldig werden. Vielmehr kann es selbst innerlich geläutert werden. Die Plagen müssen dann nicht als Strafen wahrgenommen werden, sondern können zu Selbstreflexion, Selbstkritik und Fragen anregen, welches Verhalten das Entstehen dieser Katastrophen begünstigt hat. Die Plagen fallen auch im Buch Exodus nicht einfach vom Himmel, sondern lassen sich nach heutigen bibelwissenschaftlichen Kenntnissen als bereits damals vorfindbare Verstöße und Verletzungen der Schöpfungsordnung Gottes erkennen, insbes. als Folgen der Gewalt gegen Natur, Tiere und Menschen.
Erkenntnis der Verletzungen der Schöpfungsordnung Gottes
In den biblischen Texten gibt es daher Tun-Ergehen-Zusammenhang: menschliches Fehlverhalten und Sünde haben negative Konsequenzen, für einen selbst und über Generationen hinweg. Diesen Zusammenhang darf man heute freilich nicht individualistisch verengt lesen. Vielmehr muss man von der biblisch bezeugten guten Ordnung der Schöpfung ausgehen, die den Menschen zu bewahren, zu pflegen und zu fördern aufgegeben ist. Die Heilige Schrift bezeugt, dass es dazu Ethik, Recht und einen treuen Glauben braucht. Die damit verbundenen Regeln müssen in jeder Generation neu bedacht, interpretiert, gelernt und errungen werden. So ist diese gute Ordnung immer wieder verletzt worden.
Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist in gewisser Weise systemisch und transgenerational zu verstehen.
Bis heute: Die globale Ungleichheit der Welt, die Klimakatastrophe, die sozial ungleich verteilten Auswirkungen der Corona-Epidemie machen aus biblischer Sicht die zeitgenössischen Verletzungen der Schöpfungsordnung sichtbar. So sind Home-Office-Workerinnen wie ich besser geschützt als die Regalschlichterin im Supermarkt; britische Bürgerinnen und Bürger büßen für das seit Jahrzehnte neoliberal geschwächte Gesundheitssystem Großbritanniens; wie sich Corona in den armen Ländern der Erde auswirken wird, mag ich mir nicht vorstellen – mir genügt das Wissen um die Situation in den Flüchtlingslagern in Griechenland. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist in gewisser Weise systemisch und transgenerational zu verstehen. Der globale Süden wird auch im Zeichen von Corona die Folgen der neoliberalen Ökonomie des Nordens zahlen.
Die Bibel erzählt, dass Gott diese Schuldzusammenhänge beenden möchte. Dazu müssen sie aber zuallererst einmal sichtbar, erfahrbar und benennbar werden – nicht in einem moralischen Sinn, sondern weil sie erst dann verändert werden können, wenn sie wahrgenommen und anerkannt werden. Ob diese schmerzvollen Erkenntnisprozesse in der Zeit nach Corona stattfinden, liegt an der freien Entscheidung jedes und jeder Einzelnen, nicht zuletzt der politisch Verantwortlichen.
Corona als Aufgabe
Die Schöpfungsordnung Gottes verpflichtet dazu, für gerechte Verhältnisse für jeden einzelnen Menschen, die menschliche Gemeinschaft sowie die Natur zu sorgen. Wird diese Verantwortung ignoriert, hat das fatale Auswirkungen auf die Menschen selbst.
In der rabbinischen Auslegung dieser Erzählung wird darauf hingewiesen, dass die zehn Plagen auf die Umkehr des Pharaos zielen, aber auch auf die Befreiung der ägyptischen Bevölkerung. Der Pharao wird erst am Ende kapitulieren und von seinem Volk isoliert sein. Seine Soldaten werden den Preis für diese Ignoranz und Härte zahlen.
Die Plage der Corona-Epidemie macht auch das Unrecht, die Ungleichheit und die Schwachstellen unserer Welt- und Gesellschaftsordnung erkennbar.
Die Welt des Alten Orients kann man nun nur sehr begrenzt mit der heute globalisierten Welt vergleichen. Doch lässt die Plage der Corona-Epidemie auch das Unrecht, die Ungleichheit und die Schwachstellen unserer Welt- und Gesellschaftsordnung erkennbar werden: die Abhängigkeiten bei der Güterproduktion, die Verletzbarkeit des ökonomischen Systems, die Ungleichheit bei den Möglichkeiten zur Bekämpfung der Pandemie. Diese Seuche ist kein biologisches Ereignis, sondern macht wie einst die Pest, die Cholera oder die Syphilis die Unrechtsordnung der Welt sichtbar. Sie lässt die fragile Verbundenheit der Menschen erkennen und vergrößert wie im Brennglas gesellschaftliche und kulturelle Wertvorstellungen und Normen: die sozial hohe Wertigkeit und Selbstverständlichkeit internationaler Flugreisen; den Anspruch auf immerwährende Verfügbarkeit von Gütern; die Schwierigkeit des Verzichtens.
Post-Corona: Zeit der Entscheidung
Viel Leid, Schmerz, Krankheit und Tod stehen der Welt ins Haus und die politischen Folgen der drohenden ökonomischen Katastrophe bereiten zurecht große Angst. Doch eine Sicht auf die zehn Plagen als gewaltiger Anstoß zum Innehalten und zur Umkehr ermöglicht vielleicht doch Hoffnungsperspektiven. Die explorierende Solidarität, neu entstehende Hilfsbereitschaft und Nachbarschaftshilfe, sogar die politischen Maßnahmen einer rechten und wirtschaftsliberalen Regierung sind Belege für diese Sicht. In den sozialen Medien trifft man auf die Sehnsucht nach Veränderung der Lebensweise und die Hoffnung, dass „danach“ eine Reform des Wirtschaftssystems und der Kampf gegen die Klimakatastrophe entschieden aufgenommen wird. Freilich gibt es auch beunruhigende Zeichen: die Isolierungen und Abschottungen sind Nährfutter für Nationalismen; das „Übersehen“, „Vergessen“ und „Ausblenden“ der verletzbarsten Menschen: Geflüchtete, Obdachlose, Migranten.
Aber aus der Heiligen Schrift kann man auch lernen, dass schwere Zeiten immer auch Zeiten ethischer Entscheidung sind. Menschen stehen vor der Wahl, wie sie mit den Folgen der Plagen umgehen. Der christliche Glaube bietet unzählige spirituelle, ethische und politische Orientierungshilfen für solche Zeiten. Nützen wir sie. Nützen wir auch die Kraft der Bilder des Exodus, die einen Weg in die Freiheit der Geschöpfe Gottes zeigen. Nehmen wir die Lernaufgaben wahr, vor die die Menschheit durch Corona gestellt wird. Vielleicht nicht heute, wenn es allem voran darum geht, die Seuche einzudämmen. Aber „danach“, wenn wir die Ereignisse reflektieren und Konsequenzen ziehen. Darauf kann man sich heute schon vorbereiten.
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Autorin: Regina Polak ist Assoziierte Professorin und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; seit Jän 2020 Personal Representative of the OSCE Chairperson-in-Office on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions
Bild: Image bei Emma Grau from pixaby.com