Was lässt sich heute von Martin Luther lernen? Henning Klingen traf Jan-Heiner Tück und Christian Danz. Die beiden Theologen organisieren die heute in Wien beginnende Tagung „Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen“. Sie sprechen über Luther, die Bedingungen glückender Ökumene, reiben sich am Kirchenbild und Tück wundert sich über lobende Worte gegenüber „Dominus Iesus“ aus dem Mund seines evangelischen Kollegen.
Klingen: Martin Luther ist heute kein Zeitgenosse mehr. Warum lohnt es dennoch, sich mit dem Reformator zu beschäftigen?
Danz: Es stimmt natürlich, dass Luther eine historische Gestalt ist, zugleich aber markiert Luther die Geburtsstunde der protestantischen Konfession. Daher kommt die Befassung mit Luther einer Art protestantischer Selbstvergewisserung gleich: Wer sind wir? Ausgehend von Wittenberg bildeten sich zwei Konfessionskirchen, die plötzlich nebeneinander standen und auch religionspolitisch zu dramatischen Einschnitten in Europa führten. Bis heute gibt es da bleibende markante Unterschiede, etwa in der Frage der Bedeutung religiöser Individualität, des Kirchenverständnisses…
Die Befassung mit Luther bedeutet immer ein Stück weit Vergewisserung der eigenen religiösen Identität
Klingen: Damit wären wir bereits bei der Kirchen- und Theologiewerdung – lassen Sie uns aber noch einen Moment bei der Figur Luthers selbst bleiben. Gibt es da tatsächlich noch Neues zu entdecken?
Danz: Das „Neue“ liegt weniger in bislang unbekannten historischen Fakten, als vielmehr in einem reflektiert-kritischen Zugang: Wenn ich sage, dass die Befassung mit Luther immer ein Stück weit Vergewisserung der eigenen religiösen Identität bedeutet, so bedeutet das auch, dass ein historischer Blick auf Luther stets von Erwartungshaltungen, Vorbehalten etc. der Gegenwart geprägt und bestimmt ist. Wenn Sie etwa einen katholischen Luther-Forscher wie Otto-Hermann Pesch nehmen, haben Sie eine ganz andere Perspektive auf Luther: da läuft die Darstellung eher auf eine Abschwächung der konfessionellen Differenzen hinaus. Anders gesagt: Die jeweilige theologische Brille entscheidet, wie Luther als Gestalt erscheint.
Klingen: Ist Luther ein Verbindungselement oder ein Markstein der Trennung in der Ökumene?
Danz: Das wirft uns auf die Frage zurück, was denn Ökumene überhaupt meint. Da gibt es große prinzipielle Auffassungsunterschiede zwischen Katholiken und Protestanten. Ich etwa würde fragen, warum es überhaupt einer Kircheneinheit bedarf. Genügt es nicht, sich in seinen Differenzen gegenseitig anzuerkennen? Gewiss, man hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark auf die Konsens-Ökumene gesetzt und auf eine Vereinigung unter der Ägide Roms hingewirkt. Das war meines Erachtens ein falscher Weg. Aus der Reformation ist eine eigenständige Kirche und eigenständige Theologie hervorgegangen, die stark – viel stärker als die katholische Kirche – durch die Aufklärung hindurchgegangen ist. Diese Differenzen müssen wir heute anerkennen.
Aus katholischer Perspektive galt Luther über Jahrhunderte als der Erzketzer schlechthin,
Klingen: Wie stellt sich der Blick auf Luther dagegen aus katholischer Perspektive dar?
Tück: Aus katholischer Perspektive galt Luther über Jahrhunderte als der Erzketzer schlechthin, der im 16. Jh. die abendländische Kirchenspaltung verursacht hat. Erst mit der ökumenischen Öffnung im 20. Jahrhundert und den Studien von J. Lortz, E. Iserloh, O. H. Pesch hat sich auch katholischerseits ein differenzierteres Luther-Bild eingestellt. Dennoch möchte ich aus katholischer Sicht rückfragen, ob es in der protestantischen Darstellung nicht häufig zu einer Stilisierung Luthers zum Katalysator der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte gekommen ist. Gerade die Kontroverse Luthers mit Erasmus von Rotterdam hat gezeigt, dass Luthers Freiheitsverständnis weit entfernt ist von der modernen Betonung der Autonomie des Subjekts. Für Luther war die Freiheit durch die Sünde total korrumpiert, ja in einem drastischen Bild hat er den Menschen mit einem Lasttier verglichen, auf dem entweder Gott oder der Teufel reitet. Auch die oft zitierte Wendung beim Reichstag zu Worms, „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ beruft sich nicht auf das autonome, sondern auf das durch das Wort Gottes gebundene Gewissen. Erst die sogenannten Täufer und Freikirchen – die entlaufenen Kinder der Reformation – haben einen Modernisierungsschub eingeleitet, indem sie die Religions- und Gewissensfreiheit als Menschenrecht in der amerikanischen Verfassung von 1776 verankerten.
Es gibt bleibende Differenzen, die man auch in der Ökumene nicht vorschnell einebnen sollte.
Klingen: Welche weiteren Differenzen machen Sie aus in der konfessionellen Deutung Luthers?
Tück: Es gibt tatsächlich bleibende Differenzen, die man auch in der Ökumene nicht vorschnell einebnen sollte und die einen direkten Rückgriff auf Luther heute eher schwierig machen. Da ist etwa die Lehre vom totalen Verlust der menschlichen Freiheit infolge der Sünde. Luther sah mit dem Sündenfall Adams die Gottebenbildlichkeit des Menschen geradezu zur Satansmaske verkehrt. Die in den Exklusivpartikeln der reformatorischen Theologie angezeigten Differenzen („sola scriptura“, „sola gratia“, „sola fide“) sind weiterhin interpretationsbedürftig. Ein schwieriges Erbe sind die Invektiven gegen Juden und Türken, fremd geworden ist uns auch sein realistisches Verständnis vom Teufel, schließlich ist sein Selbstverständnis als „deutscher Prophet“, der im eschatologischen Kampf zwischen Gott und Antichrist (Papst) agiert, schwierig.
Danz: Da stimme ich zu. Wir haben sehr unterschiedliche Perspektiven auf Luther und die Reformation. Für uns bleibt Luther natürlich der Ausgangspunkt. Aber wir sehen auch: sein realistisches Bild vom Teufel, sein Gottesbild, sein Bibelverständnis – das alles ist heute im Protestantismus so nicht mehr argumentierbar. Nehmen wir das Bibelverständnis: Im frühen Protestantismus stellte sie die einzige gültige Norm theologischer Aussagen dar. Das ist dann allerdings in der Aufklärung völlig zerbrochen. Die Bibel wird plötzlich zu einem historisch zu lesenden Dokument, das eben nicht vom Himmel gefallen ist – damit jedoch fallen die Voraussetzungen der ganzen altprotestantischen Theologie weg. Woran ich aber festhalten möchte, ist das bereits von Luther vertretene prinzipielle Recht religiöser Individualität und die Betonung der Gewissensfreiheit.
Tück: Ich würde allerdings davor warnen, den Diskurs über die Errungenschaften der Moderne auf die deutsche Perspektive zu verengen. Es gibt mehrere Pfade, die zur Ausbildung der modernen Freiheitsrechte geführt haben – etwa die italienische Renaissance, den Humanismus oder die neuzeitliche Philosophie (Descartes), um von der französischen Revolution 1789 zu schweigen. Die Vorgeschichte der modernen Freiheitsrechte ist komplex. Man sollte sie nicht nur auf Luther engführen…
Eine gemeinsame Aufgabe, die Botschaft auch in ihrer gesellschaftskritischen Kraft wiederzuentdecken
Klingen: Wenden wir den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft. Was kann man diesbezüglich heute noch von Luther – theologisch – lernen?
Tück: Es gibt durchaus Zukunftspotenziale in der Theologie Luthers – man denke etwa an die Botschaft von der Rechtfertigung oder an die Kreuzestheologie und die Soteriologie. Man kann vielleicht etwas provokant sagen, dass so wie den Katholiken die Lehre vom Ablass faktisch weithin fremd geworden ist, vielen Protestanten heute die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus dem Glauben fremd geworden ist. Daher sehe ich es als eine gemeinsame Aufgabe an, diese Botschaft auch in ihrer gesellschaftskritischen Kraft wiederzuentdecken: Wir leben schließlich in einer von gnadenlosen Leistungsimperativen dominierten Gesellschaft. In diesem Reizklima des Rechthaben-Müssens könnte es eine entlastende Funktion haben, an einen Gott zu erinnern, der den Menschen anerkennt – ganz unabhängig davon, was er leistet, wie er vor anderen dasteht. Für die katholische Theologie ist außerdem Luthers Kreuzestheologie ein gutes Korrektiv, nicht nur die Abgründigkeit der Gottverlassenheit tiefer zu bedenken, sondern auch die rettende und erlösende Kraft von Golgotha neu zu verdeutlichen …
Luthers Kirchenverständnis: „zukunftsweisend“ oder „doch etwas wenig“?
Danz: …nicht zu vergessen Luthers Kirchenverständnis, das ich für zukunftsweisend halte. So unterscheidet Luther zwischen einer sichtbaren und einer verborgenen Kirche. Die Institution, ohne die es auch bei Luther nicht geht, ist die reale Kirche. Diese ist aber nicht heilsrelevant, sondern hat einen rein pragmatischen Status als Verwalterin der Sakramente und zur Gewährleistung der Verkündigung. Sie ist Menschenwerk. Die „wahre“ Kirche ist hingegen verborgen. Sie kennt nur Gott. Damit wird das Kirchenverständnis sehr elastisch und zeitgemäßer.
Tück: Anders als in Zeiten der Gegenreformation, wo die hierarchische Sichtbarkeit der katholischen Kirche gegenüber der verborgenen Kirche der Reformatoren überbetont wurde, hat das Zweite Vatikanische Konzil meines Erachtens genau diesen Punkt aufgegriffen und Kirche neu als Mysterium beschrieben. Ein Mysterium, in dem Göttliches und Menschliches zusammengehen, so wie in der Christologie Göttliches und Menschliches zusammengehen. Die sichtbare Kirche ist für Katholiken immer auch Sakrament und damit Mittlerin zur Unmittelbarkeit mit Gott, sie rein pragmatisch als Apparatur zu begreifen – das wäre aus katholischer Perspektive doch etwas wenig…
Kein Weg führt an einer ökumenischen Anerkennung bleibender Differenzen vorbei.
Klingen: Das führt uns gleich zur Frage, was diese herausgearbeiteten Motive und auch die bleibenden Differenzen denn für die Ökumene bedeuten?
Tück: In der Tat scheint mir dieser Punkt noch klärungsbedürftig zu sein, welche Art von Einheit wir eigentlich anstreben. Wir sind uns einig darin, dass beide Seiten die Einheit fördern wollen – aber welche Form der Einheit, ist weiterhin unklar…
Danz: Ich denke – um an den Anfang zurückzukehren –, dass kein Weg an einer ökumenischen Anerkennung bleibender Differenzen vorbeiführt. Wir haben zwei unterschiedlich gewachsene Konfessionen, unterschiedliche Strukturen und Theologien. Das muss anerkannt werden. Nehmen Sie die Erklärung „Dominus Iesus“ von Kardinal Joseph Ratzinger aus dem Jahr 2000. Darin heißt es, dass die aus der Reformation hervorgangenen Kirchen keine „Kirchen im eigentlichen Sinn“ sind. Da hatte Ratzinger absolut Recht! Die protestantischen Kirchen verstehen sich nicht als Kirchen im Sinne des katholischen Verständnisses! Man sieht also: Es geht nicht ohne Anerkennung dieser wichtigen Differenz. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern das muss sich auch in der Praxis niederschlagen. Es kann doch nicht sein, dass ein Katholik nicht zu einem evangelischen Abendmahl gehen kann!
Eucharistie sollte weniger als Motor der Einheit missbraucht werden.
Tück: Ich bin da eher vorsichtig (so sehr mich das Lob von „Dominus Iesus“ aus dem Mund eines evangelischen Theologen wundert!). Kirchengemeinschaft ist die Voraussetzung dafür, dass man die Einheit im Sakrament feiern kann. Die Eucharistie sollte meines Erachtens weniger als Motor oder Katalysator der Einheit missbraucht werden, sondern vielmehr sichtbarer Ausdruck gefundener Einheit sein. Solange es die Differenzen im Ämter- und Kirchenverständnis gibt, kann es auch keine Einheit im Sakrament geben. Das ist die katholische Position – und ist es nicht ehrlicher, angesichts der anhaltenden Differenzen auf Eucharistiegemeinschaft zu verzichten, als Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zu praktizieren, wenn das Einverständnis in diesen Fragen noch fehlt?
In einer Zeit des verwischenden konfessionellen Bewusstseins liegt der Ausweg nicht in einem Zusammenrücken, sondern darin, Unterschiede wieder eindeutig zu benennen.
Klingen: Im Vorfeld des kommenden „Lutherjahres“ 2017 wurde viel über die Frage diskutiert, ob man dieses als Jubiläums- oder als Gedenkjahr begehen sollte. Wie stehen Sie jeweils zu dieser Frage?
Danz: Jubiläen und Gedenkjahre sind stets Ereignisse, die der Vergewisserung der eigenen Identität dienen. In dem Sinne ist es ein Feierjahr, da wir unsere religiöse Freiheit auf Luther zurückführen. Der Reformation gedenken heißt daher, der religiösen Freiheit zu gedenken, diese zu feiern. Daher ist es meines Erachtens auch Unsinn, wenn man das Feierjahr zu einem „Christusfest“ stilisiert. Wie ich es überhaupt unsinnig finde, die ökumenische Dimension allzu stark zu machen. In einer Zeit des verwischenden konfessionellen Bewusstseins und des schwindenden religiösen Wissens überhaupt liegt der Ausweg nicht in einem Zusammenrücken, sondern darin, Unterschiede wieder eindeutig zu benennen.
Tück: Das Gedenken scheint mir der passendere Zugang zu sein, denn gerade im Blick auf Luther muss man ja auch die Hypotheken bedenken, das schwierige Erbe Luthers – etwa das schon angesprochene Verhältnis zu den Juden und Muslimen. Gedenken sollte daher auch heißen, Selbstkritik zu üben, gerade auch für Katholiken, die die Reformimpulse Luthers lange abgewehrt haben. Ich bin mit dem Kollegen Danz ganz einverstanden, die Differenzen nicht vorschnell zu harmonisieren, kann aber dem Ansinnen etwas abgewinnen, noch engagierter konfessionsverbindende Allianzen zu schmieden, um so das Christentum in einer globalisierten Moderne mit ihrer wachsenden Gruppe der Konfessionslosen zu stärken. Die Zeit des konfessionellen Säbelrasselns ist vorbei. Daher sollte das Gemeinsame über das Trennende gestellt werden, ohne die Unterschiede zu nivellieren.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Katholischen Presseagentur Kathpress. Die Erstveröffentlichung des Gesprächs erfolgte im Kathpress-„Info-Dienst“ vom 30. September 2016.
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Jan Heiner Tück ist Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Christian Danz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Henning Klingen ist Redakteur der Katholischen Presseagentur Kathpress (Wien) und Chefredakteur der Zeitschrift „miteinander“ des Canisiuswerkes. Darüber hinaus arbeitet er als freier Autor für verschiedene deutschsprachige Zeitschriften und für den „Deutschlandfunk“.
Bild: Evangelischer Pressedienst Österreich (epd)