Die Ereignisse im Bistum Chur nimmt Sabine Demel zum Anlass, aus kirchenrechtlicher Sicht nachzufragen: Wie ist die Diskrepanz zwischen der Rede von der Synodalität in der Kirche und der Realität in der Kirche vor Ort, wie sie seit längerem exemplarisch im Bistum Chur zu Tage tritt, zu erklären?
Synodalität als neues Zauberwort
Seit Jahren spricht Papst Franziskus von einer „synodalen Kirche“, 2018 hat die Internationale Theologische Kommission ein Dokument „Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche“ herausgegeben, seit 2019 läuft in Deutschland der „Synodale Weg“ und für 2022 ist eine Bischofsynode zum Thema: „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Partizipation und Mission“ geplant. Synodalität als sich gemeinsam auf den Weg machen, gemeinsam für die Sendung der Kirche unterwegs sein, gemeinsam den Weg der Wahrheitssuche gehen, kurz: als gemeinsam Kirche sein ist zurzeit in der Katholischen Kirche eine beliebte und viel benutzte Vokabel. Sie ist zwar nirgends genau definiert, aber in ihr schwingen Dezentralisation, Subsidiarität, Beteiligung, Mitgestaltung und Mitentscheidung sowie zahlreiche andere positive Assoziationen der Volk-Gottes- und Communio-Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils mit.
Wie passt das mit dem zusammen, was im Bistum Chur läuft?
Register der bischöflichen Macht
Wie passt das mit dem zusammen, was im Bistum Chur läuft? Und zwar seit Jahrzehnten läuft? Da werden zum wiederholten Mal Diözesanbischöfe eingesetzt, die keinen Draht zum dortigen Volk Gottes haben und auch über die Jahre ihrer Amtszeit keinen Draht dazu entwickeln! Da lässt die Kirchenleitung Laien wieder und wieder spüren, dass all ihr Engagement unerwünscht ist und daher wirkungslos bleibt! Da werden alle Register der bischöflichen Macht gezogen, um die Ohnmacht der Laien in der Kirche zu demonstrieren! Da werden geweihte Amtsträger mundtot gemacht und entfernt, wenn sie nicht über das Volk Gottes herrschen, sondern mit diesem zusammenwirken wollen! Da werden alle Bemühungen, den Glaubenssinn der Gläubigen zur Geltung zu bringen, als Demokratisierungs- und Parlamentarisierungsversuche der Kirche abgewürgt! Da werden konzertierte Hilferufe der Gläubigen als Aktionen von pressure groups abgetan!
Fehlende repräsentative Beteiligung des Gottesvolkes an der Auswahl des Vorstehers, dessen Leitung es anvertraut wird
Rechtliche Ohnmacht der Gemeinschaft
Wie ist diese Diskrepanz zwischen der Rede von der Synodalität in der Kirche und der Realität in der Kirche vor Ort, wie sie seit längerem exemplarisch im Bistum Chur zu Tage tritt, zu erklären? Hier spielen zweifelsohne mehrere Faktoren eine Rolle. Aus kirchenrechtlicher Perspektive sind hier vor allem zu nennen: die fehlende repräsentative Beteiligung des Gottesvolkes an der Auswahl des Vorstehers, dessen Leitung es anvertraut wird; die einseitig klerikerfixierte Ausgestaltung des kirchlichen Lebens, so dass die anderen Gläubigen vielfach nur dann bestimmte Dienste und Ämter wahrnehmen können, wenn Kleriker fehlen, auch wenn das weder von der Theologie der heiligen Vollmacht noch von den kirchenrechtlichen Vorgaben her geboten ist; keinerlei Mitentscheidungsrechte von delegierten Vertreter*innen der Gemeinschaft bei zentralen Entscheidungen ihrer Kirchenleitung, keinerlei rechtlich verankerte Rechenschaftspflicht des Vorstehers gegenüber der Gemeinschaft.
Vielmehr ist der Einsatz für eine Freiheitsordnung im Geiste Christi fast gänzlich vom guten Willen der jeweiligen kirchlichen Autorität abhängig.
Keine rechtliche Klagemöglichkeit auf Partizipation
Der entscheidende Knackpunkt ist allerdings ein grundlegendes Defizit im Rechtssystem der katholischen Kirche: Die Berufung und damit auch das Recht und die Pflicht jedes einzelnen Gläubigen, sich kraft der Tauf-Begabung in der Kirche für den Aufbau und die Entfaltung einer Friedens- und Freiheitsordnung im christlichen Geist einzusetzen, ist strukturell nicht abgesichert. Vielmehr ist dieser Einsatz für eine Freiheitsordnung im Geiste Christi fast gänzlich vom guten Willen der jeweiligen kirchlichen Autorität abhängig; ob die Gläubigen einzeln oder in Gemeinschaft ihre Berufung kraft der Taufe aktiv leben können oder nicht, bestimmen mehr oder weniger ausschließlich der jeweilige Papst und die jeweiligen Bischöfe und Pfarrer. Haben sie so etwas wie ein kommuniales oder synodales Gewissen, das die Eigenverantwortung aller Gläubigen der Gemeinschaft respektiert, dann haben die Gläubigen mit ihrem Hirten, dem sie anvertraut sind, Glück. Ist ein solches kommuniales oder synodales Gewissen bei der betreffenden kirchlichen Autorität des Pfarrers, Bischofs oder Papstes eher unterentwickelt, dann haben die Gläubigen Pech. Denn sie können das ihnen in der Taufe begründete Recht, die Freiheit der Kinder Gottes zu beanspruchen und sich für eine Gemeinschaftsordnung im Sinne der christlichen Freiheit einzusetzen, nicht einklagen. Dafür fehlen bis heute in der katholischen Kirche kirchliche Gerichte vor Ort, an die sich die Gläubigen bei einer Verletzung ihrer Rechte durch die jeweilige kirchliche Autorität wenden könnten
Theologische und rechtliche Fahrlässigkeit
Dieses strukturelle Defizit bedeutet konkret: Die derzeitige rechtliche Ausgestaltung der katholischen Kirche bietet nur adäquate rechtliche Mittel der Korrekturmöglichkeit für die Hand des geweihten Amtsträgers, nicht aber für die Hand der/des Einzelne(n) und die Gemeinschaft. Diese Einseitigkeit ist nicht nur rechtlich, sondern auch theologisch grob fahrlässig. Denn wenn es der gleiche Geist ist, der in den einzelnen Gläubigen und in den Vertretern des geweihten Amtes wirkt, dann ist dieses Wirken des Heiligen Geistes nicht nur auf die einseitige, sondern auf die gegenseitige Korrekturmöglichkeit zwischen geweihtem Amt und Gemeinschaft angelegt und angewiesen.
„Es gibt Taten, die Gott will, auch bevor das Startzeichen von der kirchlichen Autorität gegeben ist“ (Rahner)
Das Wirken des Geistes am Weiheamt vorbei
Daraus folgt: Wenn ein Bischof und seine Bistumsleitung nur ihr eigenes Tun und Entscheiden für Geist-gewirkt erklären, das Wirken des Geistes in allen anderen Gliedern aber in Abrede stellen, sind sie nicht Geist-fördernd, sondern Geist-hemmend tätig, ja im Extremfall sogar Geist-auslöschend. In solchen Situationen kann es daher vorkommen, dass der Geist an der Zustimmung des geweihten Amtes vorbeiwirkt. In diesem Sinne hat der allseits anerkannte Theologe Karl Rahner schon 1954 an die Verantwortung der Gläubigen appelliert und zugleich die Bischöfe und alle geweihten Amtsträger ermahnt: „Die Gläubigen dürfen nicht meinen, sie hätten bestimmt nichts zu tun, bevor von oben ein Befehl heruntergereicht wird. Es gibt Taten, die Gott will, auch bevor das Startzeichen von der kirchlichen Autorität gegeben ist, und in Richtungen, die nicht schon vom Papst und den Bischöfen positiv gebilligt und festgelegt worden sind. Jeder [und jede] in der Kirche muss seinem [und ihrem] Geist folgen dürfen, solange es nicht feststeht, dass er [oder sie] einem Ungeist nachgibt.“ In der Kirche kann und darf es nicht so etwas wie ein „Verbot aller Eigenregung [geben], bis deren Rechtmäßigkeit formell nachgewiesen ist, wobei der [oder die] einzelne Gläubige die Beweislast hätte.“ In der Kirche muss es vielmehr umgekehrt sein: Geduld, Toleranz und Gewähren-Lassen des/der anderen, und zwar solange, bis das Verkehrte seines/ihres Handelns sicher nachgewiesen ist. Diese Geduld, diese Toleranz und das Gewähren-Lassen des und der anderen folgen „aus dem Wesen der Kirche als einer Gemeinschaft, in der alle kraft der Taufe mit dem Heiligen Geist begabt sind“[1]
„Das persönliche Gesetz geht über das öffentliche Gesetz“ (Papst Urban II.)
Der Gerechtigkeit Gottes und seines Geistes folgen
Deshalb haben alle Gläubigen kraft ihrer Geistbegabung in der Taufe mehr denn je nicht nur das Recht, sondern insbesondere auch die Pflicht, (Rechts-)Vorschriften und Anordnungen nicht einfach passiv hinzunehmen, sondern diese kritisch unter dem Aspekt der Gerechtigkeit Gottes und seines Geistes, der in allen Getauften wirkt, zu prüfen. Denn das öffentliche Recht bedarf der ständigen Kritik des persönlichen Rechtes und des Gesetzes des Geistes. Das hat bereits Papst Urban II. im 12. Jahrhundert festgehalten, indem er erklärt hat:
„Das persönliche Gesetz geht über das öffentliche Gesetz. … Der Geist Gottes ist es, der als Gesetz gilt, und wer sich vom Geist Gottes leiten lässt, wird vom Gesetz Gottes geleitet. …“[2]
Im Bewusstsein der eigenen Verantwortung
Dementsprechend ist auch im geltenden kirchlichen Gesetzbuch von 1983 nicht nur von der Pflicht zum christlichen Gehorsam die Rede, sondern davon, diesen christlichen Gehorsam „im Bewusstsein der eigenen Verantwortung“ zu leisten (c.212 §1 CIC). Damit ist der christliche Gehorsam kein blinder Gehorsam, sondern ein reifer bzw. mündiger und vernünftiger Gehorsam, der in Freiheit angenommen und verantwortet wird. Reife, Mündigkeit und Vernünftigkeit verlangen ein erhebliches Maß an Urteilsvermögen wie auch an Christ*innenmut. Denn die Wahrnehmung der Verantwortung, d.h. die gewissenhafte Prüfung ohne subjektive Überheblichkeit und voreilige Besserwisserei, muss unter Umständen nicht zu dem gewünschten Gehorsam, sondern im Gegenteil zu einem Ungehorsam und Widerstand führen.
Synodalität ist … ein lebenserhaltendes Instrumentarium für die Kirche und ihre Treue zu Leben und Wirken Gottes in Jesus Christus durch den Heiligen Geist
Mit Synodalität klerikal-bischöfliches Machtgebaren überwinden
Den Gläubigen in Chur ist von Herzen zu wünschen, auch weiterhin offen für das Wirken des Geistes zu bleiben und sich so von ihm befähigen zu lassen, die Gerechtigkeit Gottes zu erkennen und ihr im Bewusstsein der eigenen Verantwortung zu folgen – mit Christ*innenmut, mit Ausdauer, mit kreativen, dialogischen und vernetzten Aktionen und mit gegenseitiger solidarischer Rückenstärkung in Gemeinschaft! Denn irgendwann wird sich auch die kirchliche Autorität vor dem Wirken des Geistes nicht mehr wegducken können, wird den geistgewirkten Widerstand der Gemeinschaft nicht mehr ignorieren können, wird sich nicht mehr hinter dem bischöflichen Machtregister verstecken können! So gesehen ist Synodalität als sich unter der Führung des Heiligen Geistes gemeinsam auf den Weg machen und gemeinsam auf dem Weg bleiben – wenn es sein muss, auch an der bischöflichen Autorität vorbei – ein lebenserhaltendes Instrumentarium für die Kirche und ihre Treue zu Leben und Wirken Gottes in Jesus Christus durch den Heiligen Geist, das alle Formen von klerikalen, insbesondere bischöflichen Machtgebaren überwinden hilft.
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Autorin: Prof. Dr. Sabine Demel (geb. 1962) ist Professorin für Kirchenrecht an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg sowie im Ehrenamt Vorsitzende des Vereins DONUM VITAE zur Förderung des Schutzes des menschlichen Lebens in Bayern e.V. und Mitglied der Herbert Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche
Beitragsbild: Rechte bei Eugen Koller, Eva-Maria Faber und Hella Sodies
[1] Vgl. Rahner, K., Das Charismatische in der Kirche, in: Ders., Das Dynamische in der Kirche, Freiburg i.Br. 1958, 38-73, 51f i.V.m. 62.
[2] Mansi 20, 714; durch Zitation weitertradiert durch das Decretum Gratiani in c.2, C.XIX, q.2.
Vgl. auch den Beitrag von Eugen Koller, Eva-Maria Faber und Hella Sodies vom 2.7.2020:
Und den Beitrag von Charles Martig vom 6.7.2020:
Bistum Chur – autoritäre Macht und instrumentelle Kommunikation prägen die Schweizer Diözese