Die Enthüllungen zum Missbrauch nehmen kein Ende. Da sind nicht nur Einzeltaten, sondern ein ganzes System des Versagens, bis hin zum organisierten Frauenhandel mitten im Herzen der Institution. Ob „Kinderschutzkonferenz“ in Rom, „synodaler Weg“ in Deutschland oder ein verurteilter Kardinal, der nicht zurücktreten darf – die Kirchenleitung fährt auf Sicht. Unsere Analyse muss noch entschiedener werden, sagt Daniel Bogner.
Wie dunkel ist der Ort, an den der Missbrauch die Kirche geführt hat? Die Enthüllungen, Geständnisse und Reportagen über das Unsägliche reißen nicht ab. Auch Bischöfe sprechen nun von den „systemischen Voraussetzungen“ des Missbrauchs. Eine Arte-Reportage („Gottes missbrauchte Dienerinnen“) zeigt, wie fließend der Übergang von der spirituellen Leadership des geistlichen Mannes zum sexuellen Missbrauch ist.
Strukturen des Bösen
Es gibt offenbar Strukturen des Bösen in der Kirche und kraft der Kirche. Da sind die Brüder Marie-Dominique und Thomas Philippe aus dem Norden Frankreichs. Eine klassisch gut-katholische Herkunft. Aber was gestern noch als christliche Vorbildfamilie galt (von zwölf Kindern wählen sieben einen geistlichen Beruf), offenbart sich heute als ein System religiöser Überidentifikation. Beide Brüder machen Karriere in der Kirche: Sie treten bei den Dominikanern ein, der eine wird Theologieprofessor im schweizerischen Fribourg und Spiritus rector der von einigen seiner Studierenden ins Leben gerufenen Johannesgemeinschaft. Der andere ist geistlicher Begleiter der von Jean Vanier gegründeten internationalen Arche-Gemeinschaft, in der Behinderte und Nicht-Behinderte miteinander leben.
Beide werden später des Missbrauchs bezichtigt. Als eine der missbrauchten Frauen das Ordensleben aufgeben möchte, führt Marie-Dominique sie seinem Bruder Thomas in der Arche zu, der sich dann seinerseits jahrelang an ihr vergeht. Es ist ein Geschehen, das sprachlos macht, gerade weil es sich nicht an den Rändern der Kirche abspielt, sondern in der Mitte eines europäischen Katholizismus, den man für geistlich wach und sozial sensibel glaubte.
„Das moralische Erblinden geschieht beiläufig, en passant.“
So wie die Stellungnahmen und Beiträge von Doris Wagner (Reisinger) leistet die Arte-Dokumentation eine unverzichtbare Aufklärungsarbeit, die ins Innerste führt. Es wird ein kirchliches Leben sichtbar, in dem es keine „roten Linien“ gibt, das auf ungerührte, fühllose, beinahe triviale Weise den moralischen Ruin praktiziert, diesen gar spirituell-theologisch untermauert. Marie-Dominique Philippe von der Johannesgemeinschaft entwickelt das spirituelle Elaborat von der „amour d’amitié“ (Freundschaftsliebe), mit der die körperlich-erotische Übergriffigkeit als Teil der geistlichen Begleitung und einer göttlichen Pädagogik behauptet wird.
Und dann das: Ordensoberinnen bedienen Priester mit jungen Schwestern, deren Familien im Gegenzug für sexuelle Dienstleitungen finanziell unterstützt werden – in vielen Ländern Afrikas ein wichtiger Faktor des Lebensunterhalts, um als Familienmitglied für das Ordensleben überhaupt entbehrlich zu sein. Kirchlich getragene Zuhälterei, inklusive des Zwangs zur Abtreibung. Alles im Zentrum der Katholischen Kirche. Praktiziert, geduldet, zugelassen, beschwiegen von den treuesten ihrer Amtsträger und Leitungsverantwortlichen. Es fehlen einem die Worte.
Wir alle sind beteiligt
Wo stehen wir nach alldem? Können wir das eigentlich präzise ermessen? Wir, die wir doch alle irgendwie involviert sind in ein kirchliches System, das solches zulässt.
Natürlich sind damit in erster Linie die Kirchenführer angesprochen. Sie tragen die formelle und institutionelle Verantwortung. Sie sind es, die zunächst „liefern“ müssen. Aber in jedem sozialen System – und das gilt auch für die Kirche – sind Leitungsstil und Legitimität des Leitungspersonals auch abhängig vom Verhalten der sozialen Basis, in diesem Fall dem Kirchenvolk. Viel zu lange war dieses nur die „treue Herde“, schweigsamer Sozialkörper, der die geistlichen Instruktionen des Klerus aufnahm und verarbeitete. Es bewegte sich auch deshalb nichts, weil die Ungeduldigen längst ausgezogen waren und anderswo ihre Energie und ihren Mut einsetzten – und weil die Verbleibenden nicht auf Krawall gebürstet, sondern beharrlich, gutmütig und immer noch mit einem Funken Resthoffnung unterwegs waren. Doch wie es scheint, hat auch das sich geändert.
Und schließlich die Theologie. Auch sie ist mitschuldig geworden, indem sie sich – aus verständlichen Gründen – lieber auf alle möglichen intellektuellen Einladungen zu echtem Austausch einließ, anstatt sich dem Augiasstall auf der eigenen Scholle zu widmen. Wer aber jetzt noch sagt: „Kirche – ach je, damit bin ich fertig, es gibt Interessanteres“, der macht sich zum Komplizen der aktuellen Verhältnisse. Kirche braucht Theologie, mehr denn je. Wir alle sind mitverantwortlich für die heutige Lage und das, was nun wird.
„Hier kannst du das tun!“ – die offenen Gelegenheitsfenster der Kirche
Ein ganzes Ensemble an Konstellationen und Kontexten scheint es zu geben, das Missbrauch zulässt. So wird eine Gelegenheitsstruktur für Missbrauch bereit gehalten. Den individuell anfälligen Täterprofilen wird eine Einladung suggeriert: „Hier kannst Du das tun!“ Auf nachhaltigen Widerstand aus der Organisation musste man bis vor kurzem vergeblich warten. Wer auf Empörung und das unzweideutige Zurechtrücken der moralischen Orientierung durch entschiedenen Protest hoffte, wurde fast immer enttäuscht. Was für eine Diskrepanz: Die Kirche soll die Botschaft des Lebens verkünden. Für viele aber wurde sie zum Ort der Erfahrung des Todes: Zerstörung personaler Integrität, Verletzung der menschlichen Würde, Tod der eigenen Seele.
Kann die Kirche ihre Glaubwürdigkeit wiedergewinnen – und damit die einzige Ressource, mit der sie ihrer Berufung zur missionarischen Existenz nachkommen kann? Sie muss in erster Linie ehrlich zu sich selbst sein und in der Analyse konsequent.
Der toxische Kern der Kirche
Es tut weh, aber man muss feststellen: Es gibt so etwas wie das dunkle Herz der Kirche – ein Netz aufeinander bezogener Haltungen und Prägungen, ein Habitus der Organisation. Dieses Konglomerat aus Lehre und Praxis entfaltet in der Summe eine vergiftende und in bestimmten Lagen tödliche Wirkung. Dieser dunkle Kern speist sich aus unterschiedlichen Elementen und Faktoren, die immer wieder ineinander greifen.
a. Die sakralisierte Hülle. Auf Ämterrollen und Strukturen, in welche solche Ämterrollen eingebettet sind, hat sich im Laufe der Kirchengeschichte eine Patina abgesetzt, so dass Gefäß und Hülle der Kirche ihrerseits für sakrosankt und verehrungswürdig angesehen werden. Weniger die mit solchen Gefäßen mögliche Praxis – das konkrete Kirchenhandeln – sondern die Hülle der Kirche selbst gilt als Repräsentanz des göttlichen Wortes in Zeit und Geschichte. Die im liturgischen Ritual mögliche und übliche symbolische Verstärkung solcher Sakralisierung eines Rollenkostüms trägt einen eigenen Teil zu diesem Phänomen bei.
b. Eine Haltung der Ehrfurcht. Sakralisierte Formen und Strukturen heischen Respekt. Sie bestärken das Ehrfurchtsgefühl vieler Gläubiger gegenüber Amt und Amtsträger. Dass es reale Differenzen gibt zwischen den „zwei Körpern des Königs“ (Ernst Kantorowicz), verschwimmt immer mehr und es entsteht eine Untertanenmentalität gegenüber der Amtsgewalt, die ja „in repraesentatione Christi“ handelt und von dessen ureigener „sacra potestas“ Gebrauch macht. Wie sollte man widersprechen? Wer wollte hier Kontrolle, gar Teilhabe einfordern? Auf der anderen Seite: die Amtsträger. Manche von ihnen gewöhnen sich schnell und gern an den Rückenwind, den der „Weihebonus“ mit sich bringt. Auf den kann man zurückgreifen, wenn die Bordmittel des Menschlichen nicht auszureichen scheinen.
c. Der gefährliche Machtbegriff. Sakralisierungsmomente haben nicht nur für eine gegen Kritik dick gepanzerte Institution gesorgt, sondern auch für den nahezu vollständigen Ausfall verbindlicher Kontrolle. Eine Institution kritisieren und deren Handeln korrigieren, wo sie doch geheiligt glänzt – ein Paradox! Und umgekehrt gilt: Weshalb sollte man die Herrschaft einer Institution dividieren, deren Macht doch eine nur „geliehene“ ist, über die man nur treuhänderisch verfügt und die aus einer einzigen Quelle (der in Anspruch genommenen sogenannten „Amtsgewalt Christi“) ausfließt? Neoplatonisches Einheitsdenken und spätantikes Hofzeremoniell haben ihr übriges dazu getan, um eine echte Gewaltenteilung, von der sogar reformbereite Bischöfe heute sprechen, zu verweigern. Die Kirche muss, wenn sie es ernst meint mit der Umkehr, nicht nur bei den Denkerinnen und Denkern der (Gewissens-) Freiheit in die Schule gehen, sondern ebenso intensiv bei denen der politischen Freiheit (zuallererst bei Montesquieu, dem Denker der Gewaltenteilung).
d. Loyalität im klerikalen Sozialverband. Ungeteilte Herrschaft, bewehrt mit der Aura des Sakralen und getragen von einem Kirchenvolk ohne wirklichen Teilhabestatus – das bisher Gesehene ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite besteht aus den konkreten Personen und Personalverbänden, die dieses System tragen und die daran „glauben“ müssen. Durch die Tradition der Kirche hat sich ein geschlechterspezifischer Filter als dominantes Selektionskriterium für diesen Sozialverband etabliert. So entstand ein geschlechtshomogener Klerus, der zugleich und oft ununterscheidbar auch ein religiöses männerbündisches System war, mit Erkennungs- und Identifikationsritualen sowie Abschottungsmechanismen nach außen hin. Als ein solcher, mit religiöser Entschiedenheitsaura verfugter Loyalitätsverband bietet der klerikale Stand ein Schutz- und Erfüllungsversprechen für defizitäre psychosexuelle Prägungen und Wünsche. Und er transportiert – explizit und implizit – eine konstitutive Abwertung des anderen Geschlechts, die sich in Lehre und Kirchenpraxis vielfach niederschlägt.
e. Die Legitimitätsspirale der longue durée. Zu diesen Elementen kommt nun ein Faktor hinzu, der nicht spezifisch für die Kirche ist, aber bei ihr in besonderer Weise ins Gewicht fällt: Überall, wo über lange Zeiträume hinweg Dinge wachsen und sich etablieren, entwickelt sich eine Selbstbestätigungslogik von „Tradition“ und langer Dauer. Verhaltensweisen, habituelle Rollenmuster und institutionelle Arrangements in der Kirche ächzen zum Teil unter einer vielfachen Jahrhundertlast. Diese Last entwickelt eine scheinbar legitimationsverströmende Atmosphäre. Das offene Gespräch über den Zugang zum Weiheamt, zur atavistischen Kirchenverfassung oder zur Vielfalt sexueller Identitäten wirkte in dieser Atmosphäre lange Zeit wie ein Tabubruch – gebrochen wird das stille Einverständnis darüber, dass es doch gut ist so, wie es ist. Das Beschweigen der Neuerungsimpulse und das Aussitzen der längst vorgebrachten humanwissenschaftlichen Kenntnisstände ist der Kirche deshalb zur zweiten Natur geworden, nicht die interessierte Neugier und das kreative Ausprobieren.
f. Eine Logik, die fortwährend Opfer gebiert. Diese, hier nur provisorisch beschriebenen Elemente greifen immer wieder ineinander, ohne feste Reihenfolge und mit Auswirkungen, die über das Beschriebene hinausgehen. Sie bilden den gefährlichen Kern der Kirchenkrise. Diese Kirche fühlt sich für viele Menschen vergiftet an. Und ihre Krise manifestiert sich auf zahlreichen Feldern. Welches Thema aus der innerkirchlichen Reformdebatte man sich auch herausgreift (Geschlechterverhältnis, Laienbeteiligung, Gemeindezusammenlegung, Priester-Burnout) – man wird früher oder später auf diese Elemente stoßen. Der Missbrauch ist dasjenige Feld mit den sichtbarsten und den wohl am tiefsten verletzten Opfern. Solange die Kettenreaktionen, die dieser Glutkern immer wieder hervorbringt, nicht gestoppt werden, produziert Kirche fortlaufend Opfer, auf unterschiedlichen Feldern.
Keines der Elemente, die hier genannt sind, führt – für sich allein genommen – in direkter Weise zu missbräuchlichem Verhalten. Aber im Zusammenspiel gedeiht eine kirchliche Binnenkultur, die man als Gelegenheitsstruktur für Missbrauch bezeichnen muss: Ein mit „Heiligkeit“ überlasteter Handlungsraum führt zu Überforderung der per Existenzentscheidung wechselseitig verpflichteten Akteure, deren Versagen systemisch nicht vorgesehen ist und deshalb vertuscht werden muss. Menschen mit einer bestimmten Grundveranlagung sind für solche „Gelegenheiten“ anfällig: Jene, die eine Tendenz zur Pädophilie besitzen, aber auch solche, denen von Natur aus eine angemessene Distanz gegenüber anderen schwerfällt und die zur Grenzüberschreitung neigen. Sie können nun leicht zu Tätern werden. Zugleich sind sie dann selbst Opfer dieses toxischen Kerns der Kirche.
Der Opfer-Terminus an dieser Stelle irritiert. Er soll sagen: Kirche bietet eine Kultur, die das Täter-Werden begünstigt und keine Grenzen zieht, die dafür sorgen, dass bestimmte Veranlagungen nicht zur Anwendung gelangen können. Darauf aber sind wir alle – bei der Abgründigkeit der Veranlagungen, die in uns schlummern – angewiesen: dass in Staat und Gesellschaft Mechanismen der formalen Kontrolle und der informellen Sozialkontrolle herrschen, die uns helfen, nicht zu Täterinnen und Tätern zu werden. Genau hier versagt eine Organisation, die ein gestörtes Verhältnis zu transparenter Kommunikation, öffentlicher Kritik, demokratischer Rechenschaftspflichtigkeit und Geschlechterdiversität hat. In keiner Weise ist damit das Handeln solcher Täter entschuldigt. Aber es beleuchtet von einer weiteren Seite her, wie problematisch die „systemischen Faktoren“ der Kirche wirken – in alle Richtungen.
Nächste Schritte
An vielen Orten der Erde blickt die Katholische Kirche gegenwärtig auf die Realität des Missbrauchs, den sie in ihrem Innern entdeckt. Die deutschen Bischöfe reagieren darauf, indem sie einen „synodalen Weg“ anstoßen, dessen Glaubwürdigkeit sich an seiner Verbindlichkeit bemessen wird. Im Bistum Lyon ringen sie darum, wie ein authentischer Neuanfang gelingen kann, wenn der verurteilte Erzbischof sein Amt nicht abgeben darf als Zeichen, seine Verantwortlichkeit zu bezeugen. In den USA kämpft die Bischofskonferenz mit dem Papst um das von ihr vorgelegte Maßnahmenpaket gegen sexuellen Missbrauch. Afrikanische Bischöfe wiederum bitten die Kirchen Europas um Hilfe, weil sie sich mit der Aufarbeitung der Skandale überfordert sehen. Man könnte die Liste fortsetzen. Sie zeigt eine Kirche in Unruhe und ohne gemeinsame Neuorientierung. Sie wird diese Orientierung nicht finden, wenn sie den dunklen, toxischen Kern im eigenen Innern nicht in den Blick nimmt.
Viele der Spuren, die hier nur kurz erwähnt wurden, müssen dringend vertieft werden. Allen voran: Was bedeutet ‚Gewaltenteilung’ in einem Glauben, der davon ausgeht, die in Christus anbrechende Gottesherrschaft und die Heilswirksamkeit des Glaubens über ein sakramentales Rollenmuster (das geweihte Amt) darstellen zu können? Und ebenso: Wäre es nicht angemessen, den grundsätzlichen Abstand des Repräsentierenden (kirchliche Ämter, Verfahren und Strukturen) zum Repräsentierten (Gott) sichtbarer, spürbarer zum Ausdruck zu bringen – nicht nur in Spiritualität und religiöser Sprache, sondern auch in der für alle fühlbaren Organisationsgestalt der Kirche? Wie kann eine solche ontologische Depotenzierung des Priesteramtes und der Kirchenstruktur gelingen und sozial umgesetzt werden, ohne den spezifisch katholischen Zungenschlag dabei zu verlieren?
„Der christliche Glaube wird nicht verschwinden. Diese Kirche vielleicht schon“
Ich bin überzeugt: Der christliche Glaube wird aus unserer Welt nicht verschwinden. Seine Botschaft ist so stark und wertvoll, dass sie Menschen bewegen wird, auch wenn die Kirche noch so widrige Bedingungen dafür bietet. Es kann aber gut sein, dass die Begegnung zwischen dem Wort Gottes und den Menschen immer weniger durch diese Kirche, sondern immer öfter außerhalb ihrer Kirchhöfe stattfindet. Alternative Orte sind längst entstanden und werden weiter entstehen, an denen Menschen die befreiende Kraft der biblischen Botschaft erfahren und leben. Für die Kirchenverantwortlichen lautet die Frage: Kann die Kirche in Kontinuität mit ihrer historischen Gestalt auch ein (vielleicht gar ein besonderer) Ort von Gottesbegegnung bleiben oder erneut werden, indem sie sich dem im Missbrauch offenbar werdenden Erneuerungsbedarf aktiv stellt?
Mittendrin, nicht oben drüber. Die falsche Selbstwahrnehmung der Kirche
Die Ansprache des Papstes zum Abschluss des Antimissbrauchgipfels in Rom wurde heftig kritisiert. Andere wiederum konnten die Kritik nicht nachvollziehen: Der Papst habe doch nur benannt, in welchem Kontext das Geschehen in der Kirche zu sehen sei. Das ist richtig. Dennoch trifft die Kritik zu. Denn es ist nicht der Redeinhalt, der falsch war, sondern die Redeweise. Die Kirche spricht hier, wie man es immer gewohnt war, von einem Standpunkt außerhalb einzelner gesellschaftlicher Orte. Sie nimmt in Anspruch, mit objektivem Maßstab und aus der „Draufsicht“ die gesellschaftliche Wirklichkeit beurteilen zu können. Sie wähnt sich universal, und merkt nicht, wie sehr sie immer schon nur ein partikularer Akteur unter anderen war. Ihren übergeordneten moralischen Anspruch nimmt man ihr nicht länger ab, wo sie ihre Werte selbst massiv verletzt, wo dafür systemische Ursachen ausgemacht werden können und es berechtigte Zweifel gibt, ob sie diese Ursachen nachhaltig bearbeiten möchte.
Viel ehrlicher wäre es in dieser Lage, nicht zuerst über die anderen zu sprechen, sondern über sich selbst. Die Aufgabe ist groß genug. Ob sie gelingt – wer weiß. „Diese Wirtschaft tötet“, so hat der Papst in seiner Globalisierungskritik formuliert. Diese Kirche tötet auch, muss man heute hinzufügen.
Dieser Beitrag erscheint zeitgleich in italienischer Sprache auf der website www.settimananews.it. Eine englische Fassung steht auf feinschwarz.net zur Verfügung. Eine gekürzte französische Version findet sich bei ESPRIT.
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Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg/Schweiz und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz. Im Juni erscheint im Verlag Herder sein Buch Ihr macht uns die Kirche kaputt…doch wir lassen das nicht zu!
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Bild: Sybille Hardt – pixelio.de