Die strukturelle Veränderung von Kommunikation, Öffentlichkeit, Beteiligungsmöglichkeiten und Subjekt-Sein betrifft auch die Theologie und die Vollzüge von Kirche. Sind wir darauf vorbereitet? Von Konrad Hilpert.
Ein Thema, das mich schon seit geraumer Zeit offen wie untergründig beschäftigt und, wie ich zugebe, auch beunruhigt, ist die digitale Transformation und die Rolle, die dabei die sozialen Netzwerke spielen. Sie sind ja zum festen Bestandteil unserer Lebenswelt geworden, und gerade in der Corona-Krise haben sie bewiesen, wie unverzichtbar sie für die Aufrechterhaltung von Kontakten und den Austausch von Nachrichten, Wissen und Bildern sind. Allerdings hat ihre Etablierung auch vieles verändert und ganz neue Probleme geschaffen: im Nahbereich der Kommunikation ebenso wie im gesellschaftlichen und politischen Prozess.
Stalking, Mobbing und sexuelle Belästigung verschiedenster Art sind Erfahrungen, die heute bereits Grundschüler und Grundschülerinnen machen; Hass- und Drohmails sind Phänomene, mit denen heute jeder Amtsträger, jede Amtsträgerin, jede Lehrperson und Bürgerinnen, die sich für das Gemeinwohl engagieren, rechnen müssen. Was an Gewalttätigkeit in den Netzwerken von Kindesmissbrauch und Pornografie gefunden wird, schockiert auch erfahrene Ermittler und traumatisiert Angestellte von Internetfirmen, die professionell mit dem Screening von Netzinhalten beschäftigt sind.
Es gibt unzweifelhafte Belege dafür, dass autoritäre Regierungen und ihre Dienste versuchen, in liberalen Gesellschaften Falschmeldungen zu verbreiten, Meinungen zu beeinflussen und Polarisierungen zu vertiefen. Einzelne Politiker kündigen internationale Verträge per Twitter und umgehen kritischen Widerspruch und mühsame Meinungsbildung durch online der Weltöffentlichkeit bekanntgegebene einseitige Erklärungen. Neue, bisher völlig unbekannte Player steigen wie aus dem Nichts auf und werden durch Hunderttausende von Followern plötzlich zu Faktoren der Politik. Unzufriedenheit und Protest werden weltweit organisiert und können sich innerhalb kürzester Zeit massive Aufmerksamkeit für plakative Botschaften verschaffen.
Für die Firmen und Plattformen, die Suchmaschinen und Netzwerke anbieten, sind die riesigen Mengen der Daten ihrer User bzw. Kundinnen eine wertvolle Reserve, die sich kommerziell für Werbung, passgenaue Angebote und auch Einflussnahme auf Konsumverhalten, Meinungen und die Art, wie im Alltag gelebt wird, nutzen lässt. Sogenannte Algorithmen entfalten längst ein Eigenleben, das der Fassungskraft, dem Handlungsverständnis und dem Freiheitsbewusstsein des Durchschnittsbürgers, der Durchschnittsbürgerin haushoch überlegen ist. Welchen Möglichkeiten der „Ausforschung“ und Kontrolle damit ein Weg geöffnet ist, lässt sich leicht ausmalen. Den meisten scheint das allerdings ziemlich egal zu sein.
Ermöglicht und begünstigt werden diese und weitere Veränderungen durch die Schnelligkeit, mit der Informationen, Meinungen und Kommentare weitergegeben werden können – an beliebig viele Menschen und örtlich wie zeitlich so gut wie grenzenlos verfügbar. Jeder und jede hat so die Möglichkeit, Öffentlichkeit zu schaffen oder Teil von ihr zu werden. Und das sofort und ohne von anderen beobachtet zu werden oder mit Widerspruch rechnen und sich auf ihn einlassen zu müssen. Komplexe Sachverhalte können maximal vereinfacht, mit starken Emotionen „aufgeladen“ und mit einprägsamen Bildern versehen und schlagwortartig zugespitzt werden. Soziale Medien sind zwar nicht der Grund, aber vorzügliches Instrument und Echoraum, in welchem Einzelne, Gruppen, Organisationen und durch Unzufriedenheit geeinte Strömungen Meinungen anbieten, einfache Lösungen als plausibel und sofort vollziehbar erscheinen lassen. Intensive Debatten und prozedurale Willensbildung werden als umständliche und gestrige Umwege diskreditiert.
Der Staat reagiert auf die Herausforderungen mit einem Rechtsrahmen, der aus einer Zeit stammt, als unter dem Stichwort „Medien“ Zeitung, Rundfunk, Fernsehen und Film firmierten. So drehen sich die rechtlichen und politischen Debatten um die neuen Herausforderungen zum großen Teil einseitig um den Schutz von Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. In Wirklichkeit verschieben sich einerseits die Strukturen der Öffentlichkeit und die Macht- und Einflussbereiche der demokratischen Institutionen, wie andererseits die Sphäre der Privatheit und Individualität tendenziell unter Druck geraten.
Die strukturelle Veränderung von Kommunikation, Öffentlichkeit, Beteiligungsmöglichkeiten und Subjekt-Sein betrifft auch die Theologie und die Vollzüge von Kirche. Sind wir darauf vorbereitet? Was bedeutet Verantwortung im Umgang mit den sozialen Medien und im Netz? Gibt es zwischen Datenschutz und Garantie der Pressefreiheit nicht noch weitere Standards und Regelsysteme? Welchen Beitrag können familiäre Erziehung, Schule, Jugendorganisationen und Zivilgesellschaft leisten oder fällt diesen immer nur die Aufgabe zu, die zusätzlichen Risiken und Belastungen „aufzufangen“ und „abzufedern“? Braucht es nicht auch Schutz vor Ausbeutung, Herabsetzung, Verächtlichkeit, Entwürdigung, und zwar generell und nicht nur personbezogen? Welche Rolle müsste die Möglichkeit des Vergessens und des Neuanfangen-Könnens in einer menschengerechten medialen Ordnung spielen? Welche Reflexionsimpulse für die Debatte über die sozialen Medien könnten oder müssten von der Theologischen Ethik ausgehen?
Es ist mir klar, dass dies ein Fragenkomplex ist, der nicht von wenigen Einzelnen aufgeschnürt und abgearbeitet werden kann. Vielmehr geht es um Probleme, die das ganze Fach und alle, die es betreiben, angehen. Da braucht es gemeinsame Anstrengung. Jedenfalls würde es der Theologischen Ethik und der Theologie im Gesamten nicht gut tun, wenn sie diese Herausforderung auf Dauer umgehen würde.
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Konrad Hilpert war von 1990 bis 2001 Professor für Praktische Theologie und Sozialethik am Institut für Katholische Theologie der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, ab 2001 bis 2013 hatte er den Lehrstuhl für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne.
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