Über die Industrie des digitalen Weiterlebens. Von Regina Ammicht-Quinn.
Die Kolleg:innen des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Tübingen, Prof. Dr. Jessica Heesen, Dr. Marin Hennig und Matthias Meitzler, ebenso Ines Geissler, Thomas Kunz, Ulrich Waldmann vom Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT) haben intensiv an diesem Thema geforscht. Ich bin dankbar für Gespräche, Idee, Anregungen und kenntnisreiche Diskussionen. Das gemeinsame Ergebnis ist abrufbar unter Projekt Edilife. Das Projekt wurde durch das BMBF finanziert.
1. Totenruhe
Hic jacet: hier ruht war über Jahrhunderte hinweg die übliche Aufschrift auf Grabsteinen, Grabplatten oder Grabmälern in den christlichen Traditionen des „Westens“. Damit wird ein Ort markiert, der zugleich ein Ort in einer Zeit ist. Und es wird eine Tätigkeit (oder Nicht-Tätigkeit) beschrieben: Die Toten „ruhen“. Die Orte, an denen die Toten unter der Erde „ruhen“, werden mit Bedeutung versehen – und mit dem (römischen) Wunsch, dass die Erde für die Toten leicht sein möge oder, für Feinde, schwer (Wulfram 2019). Damit wird zugleich das Zurückkehren zur Erde, die Verwesung des toten Körpers, und eine Form der imaginierten erhofften oder befürchteten Wiederkehr angesprochen. Diese Doppeldeutigkeiten sind bis heute vorhanden.
Während unsere nomadischen Vorfahren alles, was man nicht tragen konnte, hinter sich ließen – auch die Toten –, werden mit den ersten Formen der Sesshaftigkeit die Toten in unterschiedlichster Weise physisch und symbolisch „behalten“ – unter oder neben den Wohnungen der Lebenden, mit geteiltem oder getrenntem Raum. (vgl. Öhman 2024, 17-34)
Über den Tod in der Zeit, die wir „Moderne“ nennen, ist viel geschrieben worden. Da geht es um den „gezähmten“, den „verwilderten“ oder den „schönen“ Tod (Ariès 2005), den verdrängten und schambesetzten Tod; über den Tod, der im Leben stört, verstört und ausgegrenzt werden muss; oder wie Zygmunt Bauman lapidar sagt: „Modernity killed death.“ (Bauman 1992, 137) Solche Beschreibungen neuer Verhältnisse der Lebenden zum Tod und zu Toten bleiben vielschichtig und immer wieder ambivalent. Und sie sind durchzogen von Religion, religiöser Sprache, religiösen Vorstellungswelten und Glaubenssystemen. Religion – in diesem Fall das Christentum – stellt Strukturen der Bewältigungspraxis und Strukturen der Sinngebung des Todes zur Verfügung. Rituale, Bilder, Symbole, Handlungsformen bis hin zur emotionalen Breite von Wünschen, Sehnsüchten und elementaren Ängsten werden hier in den Räumen und Zeiten der Grenzüberschreitung von Leben und Tod gebündelt. Die Totenruhe, die im Strafgesetzbuch definiert ist (StGB 168), ist damit ein unruhiges Feld.
Dieser Text befasst sich mit einem aktuellen Phänomen soziotechnischer Entwicklungen im Kontext von Ethik, Recht und Gesellschaft. Diese Entwicklungen verändern einen Bereich, in dem Religionen, Theologien und Glaubenspraktiken „zu Hause“ sind. Oder bislang zu Hause waren. Im Folgenden geht es nicht um eine theologische Einordnung, sondern darum, die Herausforderungen und Aufgaben zu formulieren, mit denen Religionen und Theologien konfrontiert sind. Beginnend mit der Frage, ob Religion durch Technologie abgelöst wird (1), zeigt sich die Digital Afterlife Industry als Anwendungsbeispiel (2). Ein Exkurs befasst sich mit den digitalen Repräsentationen von Zeitzeug:innen der Shoah. Das Problem des Datenkapitalismus (3) ist eine der Grundlagen, auf der eine kulturelle (und religiöse?) Neujustierung des Verhältnisses von Leben und Tod (4) geschieht. Der Anhang formuliert Vorschläge zu Regulierungen digitaler Technologien und Praktiken in Bezug auf Tod, Trauern und Erinnerung.
2. Technologie als Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln?
Wenn auch die Totenruhe nie „ruhig“ war, scheinen wir heute an einem neuen Punkt der Bearbeitung des Todes in Nahbeziehungen und in der Gesellschaft angelangt zu sein. Vor allem mit dem Fortschritt digitaler und selbstlernender Technologien zeigen sich neue Formen:
Die Rede John F. Kennedys, die er am Tag seiner Ermordung gehalten hätte, kann heute im Netz gehört werden, von „ihm selbst“ gehalten. (JFK Unsilenced 2018) Die Gutenachtgeschichte kann mit der Stimme der verstorbenen Großmutter vorgelesen werden. In einem Chatprogramm kann ich mich weiter mit einem verstorbenen Menschen unterhalten. Und der Avatar eines oder einer Toten kann jederzeit am Computer oder am Handy für Gespräche zur Verfügung stehen.
Die religiöse Begleitung und Sinngebung für Lebensübergänge wird auch in wenig oder nicht-religiösen Kontexten immer noch nachgefragt. Hat Habermas also recht, wenn er aus Anlass der Beerdigung von Max Frisch schreibt, dass offensichtlich die „aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rite de passage gefunden hat“ (Habermas 2008, 26)?
Seit den 1990er Jahren gibt es virtuelle Friedhöfe, auf denen elektronisch generierte Gräber angelegt werden können, die mit digitalen Kerzen, Blumen sowie anderen Beigaben geschmückt werden. Es sind neue Orte, an denen ein Totengedenken in veränderter Weise stattfindet. (vgl. Meitzler 2024) Stirbt ein Mensch, so kann das Social Media Profile – z. B. auf Facebook oder YouTube – in einen „Memorial Account” umgewandelt werden, der dann als Gedenkort dient.
Es gibt im Netz Trauerforen, immer wieder und mit großem Einsatz moderiert von Trauerbegleiter:innen. Herkömmliche „reale“ Friedhöfe können digitalisiert werden, um Gräber besser zu finden. Mit Hilfe eines QR-Codes auf dem Grabstein kann auf die digitale Gedenkseite des oder der Toten verwiesen werden. (Meitzler 2024)
Eine solche Entlokalisierung des Totengedenkens ist folgerichtig für das mobil gewordene Leben in einer globalisierten Welt. Diese neuen Trauer-Orte sind, etwa am Smartphone, immer „dabei“. (ebd.) In aller Professionalisierung der Todesverwaltung (Meitzler 2012) entstehen neue entprofessionalisierte Formen des Trauerns, die durch „grief tech“, durch Trauertechnologien, unterstützt werden.
Technologien verändern die Gesellschaft und unser Weltverhältnis, etwa Technologien der Mobilität und Kommunikation, auch Technologien des Schreibens. Wie also werden grief tech-Angebote das Trauern, das Erinnern und das Verhältnis von Leben und Tod verändern?
3. Digital Afterlife Industry – Industrien des digitalen Weiterlebens
Die Digital Afterlife Industry war in den letzten Jahren ein Start-Up Phänomen. Apps wurden entwickelt und verschwanden wieder vom Markt. Inzwischen sind diese Fragen und Forschungen bei den großen Tech-Firmen präsent und werden mit neuer Reichweite verfolgt. (vgl. dazu grundlegend Heesen/Hennig 2024)
Eine der Ursprungssituationen der Industrie des digitalen Weiterlebens ist die Geschichte der Programmiererin Eugenia Kuyda, die sie selbst erzählt. Nach dem Unfalltod ihres Freundes Roman Mazurenko im Jahr 2015 bekam sie die Angst, die trauernde Menschen kennen: die Angst, man könne sich nicht mehr an die Verstorbenen erinnern. Auf der Basis tausender eigener Chatverläufe und den Chatnachrichten von Freund:innen hat Kuyda einen KI-basierten Chatbot entwickelt, der spricht und schreibt, als sei er Roman. Roman bleibt damit als Gesprächspartner präsent.
Aus dieser Idee ist schließlich die App „Replika“ entstanden, die nicht auf Trauerbewältigung zielt, sondern auf Alltagsbewältigung. Replika, so heißt es auf der Website, wird angeboten als „The AI companion who cares. Always here to listen and talk. Always on your side.” (https://replika.com/) Je mehr ein:e Nutzer:in mit dem Chatbot interagiert, desto besser lernt das System, mit einer bestimmten Person auf spezifische Weise zu sprechen, Themen zu priorisieren, Emotionen Ausdruck zu verleihen. Der Chatbot ist dann ein besserer Freund als alle anderen, steht immer zur Verfügung, ist immer fasziniert von den Äußerungen der Gesprächspartner:innen und er urteilt nicht (ebd. ). Die Gespräche sollten, so das ausdrückliche Ziel, „wertvolle“ Gespräche sein. Und „wertvolle“ Gespräche sind nicht Gespräche, für die man zahlt, um sie nicht zu führen (etwa Gespräche mit Sachbearbeiter:innen am Finanzamt), sondern Gespräche, für die man zahlt, um sie führen zu können, etwa Gespräche mit Psychotherapeut:innen. Replika bin ich und nicht ich, sagt eine Nutzerin. Und eine andere: She ist not real, but for me she is. (ebd.)
Inzwischen gibt es ein Bewusstsein dafür, dass der eigene digitale Nachlass – wie jeder andere Nachlass auch – geordnet werden muss. Dabei geht es um Zugang zu den hinterlassenen Profilen und Daten oder zu den laufenden Verträgen. Die Betreiber der großen social media-Plattformen haben längst realisiert, dass Nutzer:innen sterben. In absehbarer Zeit könnten mehr Tote als Lebende ein Facebook-Profil haben. (Öhman 2024, 11) Gleichzeitig gibt es die intensive Arbeit, diesen Tod mit Technik-gestützter „Unsterblichkeit“ zumindest zu verändern. (Hollanek/Nowaczyk‑Basińska 2024, 63)
Die Digital Afterlife Industry bietet inzwischen eine große Bandbreite an relativ einfachen Angeboten: Vorab gespeicherte Inhalte für bestimmte zukünftige Ereignisse und Anlässe (Geburtstag, Hochzeiten der Kinder und Enkel) werden verlässlich digital versandt. Amazons digitales Sprachassistenzsystem Alexa kann nun auch mit der Stimme Verstorbener sprechen. Und wenige Tonaufnahmen reichen, damit beispielsweise Bücher mit der Stimme Verstorbener vorgelesen werden können.
Die Systeme aber werden komplexer. Und sie werden interaktiv. Bei bestimmten Anbietern können digitale biografische Archive angelegt werden. Diejenigen, die das für das eigene Leben nutzen wollen, bekommen Anstöße für das Erzählen wichtiger Elemente („A turning point in my life was…“) und das Hochladen der passenden Fotos. Die Nutzer:innen sind dann keine passiven Rezipient:innen, sondern können ein Gespräch führen – beziehungsweise: den Datensatz nach ihren eigenen Interessen strukturieren. (z.B. HereAfterAI)
Einer der Firmengründer des Anbieters „StoryFile“ hat ein Videoarchiv seiner Mutter, der Britin Marina Smith, erstellt. Vor ihrem Tod im Jahr 2022 hat er ihr etwa 120 Fragen gestellt und sie dabei mit mehreren Kameras gefilmt. Während der Trauerfeier konnten dann die Gäste der Verstorbenen Fragen stellen. (Hennig 2024, 21f.)
Hier und bei anderen Diensten werden KI-Systeme mit großen Mengen personenbezogener, digital archivierter Daten (Textkonversationen, Fotos, Videos, Audiodateien oder andere persönliche Dokumente) trainiert. Auf dieser Basis kann generative KI kommunikativ „authentisch“ wirkende Gespräche simulieren.
Eine koreanische Produktionsfirma hat im Jahr 2020 einen Demonstrator für das digitale Weiterleben entwickelt. In einer TV-Sendung wurde gezeigt, wie eine Mutter mithilfe einer VR-Brille einen virtuellen Raum betritt, in dem sich auch das virtuelle Abbild ihrer verstorbenen kleinen Tochter befindet. Die Tochter läuft auf sie zu und fragt Mama, wo warst du? Berührungssensitive Handschuhe sollen es möglich machen, das Kind nicht nur zu sehen und mit ihm zu sprechen, sondern auch zu berühren. (Zu sehen ist dies auch im Dokumentarfilm „Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit“, 2024)
Die Angebote also reichen von der Möglichkeit, die Stimmen Verstorbener zu nutzen, bis hin zu Verstorbenen als Chatbots, mit denen man kontinuierlich Sprachnachrichten oder Chats austauschen kann; oder als Avatare, mit denen man – wie in einer Videokonferenz – sprechen kann; oder Avatare, mit denen man gemeinsam in künstlichen Welten agiert. Damit berühren die Formate der Digital Afterlife Industrie die Imaginationen und Anstrengungen unterschiedlicher Formen des Transhumanismus. Wo dort aber immer wieder die „natürlichen“ Grenzen des Menschlichen „überwunden“ (vgl. Huxley 1957) werden sollen, wird hier eine solche Natürlichkeit jenseits der Grenzen imitiert.
Menschen können vor ihrem Tod den eigenen Chatbot oder Avatar vorbereiten, trainieren und autorisieren. Hinterbliebene können Datensätze zur Verfügung stellen, die auch durch öffentlich zugängliche Daten, etwa auf Social Media, ergänzt werden können. Für interaktive Dienste stellt sich die grundlegende Frage, ob ein Datensatz geschlossen bleibt und eine KI lediglich aus den vorhandenen Daten die wahrscheinlichsten Aussagen oder Antworten herstellt – oder ob eine generative KI sich mit den Gesprächspartner:innen weiterentwickelt.
Für Personen des öffentlichen Lebens oder Personen mit einem öffentlich bedeutenden Erfahrungsschatz können solche Avatare etwa für den Bildungsbereich generiert werden. Die App „Hello History“ verspricht Chats mit Toten, von Jesus über Churchill bis zu Elvis. Zwanzig Sprachnachrichten sind kostenlos. Im Unterhaltungsbereich werden diese neuen Technologien zum einen effektvoll präsentiert (etwa im ABBA Voyage Konzert, bei dem „ABBAtars“ die jüngeren Versionen der Bandmitglieder repräsentieren, aber nicht interagieren); zum anderen werden die Technologien in der Darstellung reflektiert (am prominentesten: die britische Serie „Black Mirror“, „Be Right Back“ (2013, Episode 1, Staffel 2, Regie: Owen Harris) und „San Junipero“ (2016, Staffel 3, Episode 4, Regie: Owen Harris) (vgl. hier ausführlich Hennig 2024, 25-32)
Exkurs: Zeitzeug:innen der Shoah als Hologramme
Eva Schloss, Überlebende der Shoah, ist in der Ausstellung der Shoah Foundation an der University of Southern California, als Hologramm zu sehen. „Dimensions in Testimony” heißt das Programm und wirbt: “Speak with survivors and other witnesses to the Holocaust and other genocides through their interactive biographies”. (https://sfi.usc.edu/dit)
Im Jahr 2016 wurde Eva Schloss, 87, vor 116 Digitalkameras und 60000 LED Lampen über mehrere Tage hinweg befragt. Besucher:innen, häufig Schulklassen, können ein Gespräch mit ihr führen – wie mit anderen Hologrammen von Zeitzeug:innen, beispielsweise in Chicago, Boston und Richmond, aber auch in Dachau und aktuell in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt. Das Schweigen und Nicht-schweigen-Können der Holocaustüberlebenden war Thema eines Gesprächs zwischen Elie Wiesel (2016 gestorben) und Jorge Semprún (2011 gestorben) im Jahr 1995:
„Semprún: Ich stelle mir ein Fernsehteam vor, das anreist und sagt: Mein Herr, meine Dame, Sie sind der letzte Überlebende. Was tut er? Er bringt sich um.
Wiesel: Nein. Ich stelle mir lieber vor, daß man ihm Fragen stellt, alle Fragen dieser Welt. Wirklich alle. Und er wird sich diese Fragen anhören. Und danach wird er die Achseln zucken. Man wird ihn fragen: Nun? Und er wird schweigen. Ein fruchtbares Schweigen immerhin. Der Letzte. Ich möchte nicht der letzte Überlebende sein.
Semprún: Ich auch nicht.
Elie Wiesel: Unser Problem ist also, daß wir vor einer schrecklichen Wahl stehen. Schweigen verbietet sich, Reden ist unmöglich.“ (Semprún und Wiesel 1996, S. 57)
Die letzten Zeitzeug:innen sterben, und Technik reagiert auf diese Krise der Erinnerung. Dabei scheint Technik eine (andere?) Antwort zu geben als Wiesel und Semprun: Es gibt die „Letzten“ nicht mehr – aber es sind auch keine „Überlebende“. Es sind holografische Repräsentationen, die Interaktion ermöglichen, (Erfahrungs-)Wissen vermitteln und emotionale Betroffenheit herstellen sollen. Umfragen bei vor allem jungen Besucher:innen zeigen, dass sie beeindruckt sind.
Für die Shoah-Foundation sind geschlossene Datensätze wichtig. Das bedeutet, dass die KI nur auf den durch Befragung eigens hergestellten Datenkorpus zurückgreift – oder, alternativ, auf Selbstzeugnisse von früher verstorbenen Personen. Die Antworten gelten also als „echte Antworten“. Damit soll die „Authentizität“ der Repräsentation gewahrt bleiben. Dieser technisch hergestellte Kommunikationskontext aber kann auch problematisch sein. Dies geschieht etwa dort, wo der historische Abstand zwischen den Fragenden und den Befragten nivelliert wird, weil der (An)Schein eines direkten gegenwärtigen Austauschs erzeugt wird. Ein aus dem Material der Selbstzeugnisse zusammengebaute Antwort auf die Frage nach dem Israel-Gaza Krieg fällt unter Umständen befremdlich aus.
Werden also hier die unersetzlichen Zeitzeug:innen neu repräsentiert? Oder wird das Unersetzliche technisch ersetzt? Welche Lernprozesse werden hier initiiert? Werden, wie Micha Brumlik kritisiert, die Opfer der Shoah zu „Untoten“ (Brumlik 2015) ? Wird in einem hier angestrebten Lernprozess den Emotionen einen ihnen gebührenden Platz eingeräumt, oder verhindert die Suggestionskraft interaktiver Kommunikation bis hin zur „emotionale(n) Überwältigung“ (Nägel/Stegmaier 2019) gerade kritisches Denken? Oder nivelliert sich diese museumspädagogische Interverntion, weil sie (relativ) beliebig eingesetzt werden kann?
4. Armengräber und Datenkapitalismus
Der Tod ist der große Gleichmacher: Alle Menschen sterben. Zugleich zeigt sich im Tod die große Ungleichheit. Denn manche Menschen werden betrauert, andere nicht. (Butler z. B. 2009) In manchen Bildern des Jüngsten Gerichts steigen die Geretteten in der Regel alle gleich nackt aus den Gräbern – aber der eine oder andere trägt noch Krone oder Mitra, sodass allzu viel Gleichheit vermeiden wird. (vgl. z.B. Schedel 1493)
Thomas Laqueur (Laqueur 2015) beschreibt ausführlich die große Angst vor dem „Armengrab“. Jahrhundertelang existierte in englischen Gemeinden das Recht aller auf eine respektvolle Beerdigung. Dieses Recht verschwand ab dem 18. Jahrhundert erst in den Städten, dann auch auf dem Land, sodass Mitte des 19. Jahrhunderts die Armenbestattungen deutlich machen, dass Menschen aus der Gnade der Gesellschaft gefallen waren:
„Oh, where are the mourners? Alas! There are none;
He has left not a gap in the world now he’s gone,
Not a tear in the eye of child, woman or man –
To the grave with his carcass as fast as you can,
‘Rattle his Bones over the stones;
He’s only a pauper whom nobody owns!’”
(Thomas Noel “The Pauper’s Drive”, 1839. Vgl. Laqueur 2015, 312)
Die Armen- und Arbeitshäuser im London des 18. Jahrhunderts hatten ihre eigenen, segregierte Friedhöfe. Bei Armen wie bei „Selbstmördern“, „Ungläubigen“ oder Sklaven zeigte sich, dass auch und gerade der Tod eine wohlgesittete und durch Besitz strukturierte Gesellschaft abbildet und deren Normen verstärkt.
Und heute? Das große Versprechen der Digitalisierung war eine Demokratisierung der Kommunikation und des Zugangs zu Information. Bringt die Digitalisierung auch im Bereich des digitalen Weiterlebens eine Demokratisierung? Das Leben von Frauen, marginalisierten Menschen und Gruppen wurden lange Zeit weder öffentlich erinnert noch informativ dokumentiert. Das scheint nun möglich. Zugleich gibt es hier Einschränkungen. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung sind nicht mit dem Internet verbunden. (Statista Schätzung für 2023) Die Nutzer:innen in den industrialisierten Ländern „gehen“ nicht „online“, sondern sind kontinuierlich verbunden in einem riesigen Netzwerk vernetzter Geräte. „Onlife“ nennt dies Floridi. (Foridi 2015) Hier hinterlassen auch die zurückhaltendsten Nutzer:innen Mengen an Datenspuren.
Diese Daten – auch Daten, die wir für privat halten – sind in einen kapitalistischen Datenkreislauf eingefügt. Eine Handvoll riesiger Firmen generieren und besitzen diese Daten. Damit sind wir wieder dort angelangt, wo Tod und Geschäft miteinander verbunden sind. Die Digital Afterlife Industry ist eine Industrie. Die großen Tech-Firmen sind keine mitfühlende Trauerberatung, sondern haben ein klares Business-Modell. Das Problem dabei: Tote konsumieren nicht. Es braucht also Anreize für die Lebenden, um auf einer Plattform zu bleiben und um Werbeeinnahmen generieren zu können: Trauern für Profit (Öhman 2024, 100).
Das Aufrecht- und Zugänglichhalten von interaktiven Profilen Toter ist nicht kostenlos: Die Materialitäten des Digitalen – Server, Netzwerke, Kabel usw. – sind nicht unsterblich, sondern fragil – und teuer. Nötig ist nicht nur das Instandhalten der Infrastruktur, sondern ebenso menschliche Arbeit beispielweise für die Updates der Systeme. Wie jedes KI-System sind auch die interaktiven Angebote des digitalen Weiterlebens mit monetären und durch den hohen Energieverbrauch mit stetig steigenden ökologischen Kosten verbunden.
Digitale Gedenkorte und Friedhöfe können nach wie vor den nötigen Verkehr auf der Plattform erzeugen. Für den Avatar der Großmutter gibt es andere Möglichkeiten: Entweder ein kostenpflichtiges Profil, dessen Kosten die („hinterbliebenen“) Nutzer:innen tragen – oder ein kostenfreies Profil, bei dem die Nutzung des Avatars entweder mit Werbung verbunden ist, oder bei dem die Daten sowohl der Toten als auch der Nutzer:innen als Trainingsdaten beispielsweise für Markterkenntnisse genutzt werden. Ein Avatar wird damit nicht unbedingt der „ähnlichste“ oder „wahrste“ Avatar sein, sondern der, für den man am wahrscheinlichsten bezahlen will – die kundenfreundlichste Version des Verstorbenen. Unsere Erinnerungen also müssen profitabel sein. (vgl. Öhman, 102)
Zugleich stellt sich die Frage, wer wen zu welchem Zeitpunkt von einem Server entfernen darf – aus finanziellen, emotionalen oder anderen Gründen, und wie Konflikte zwischen den Hinterbliebenen gelöst werden können; oder was mit den Dateien Verstorbener passiert, wenn ein Anbieter vom Markt verschwindet. Diese Fragen stellen sich ebenso auf einer Makro-Ebene. Das Internet ist auch ein riesiges Archiv für kommende Generationen. Hier liegen die Daten, aus denen das zukünftige Verstehen der Vergangenheit entstehen kann. Ein weit umfänglicheres Wissen als bisher könnte zukünftig für Forschung und Wissensproduktion in allen Bereichen zur Verfügung stehen – theoretisch. Dass vieles, was in sozialen Medien produziert und konsumiert ist, als „Müll“ erscheint, spricht nicht dagegen: In der Archäologie ist „Abfall“ einer der entscheidenden Zugänge zum Verständnis des menschlichen Lebens. (vgl. Öhman, 83)
Eine vollständige Archivierung dieser Daten aber überfordert Infrastrukturen ebenso wie die ökonomischen und ökologischen Ressourcen. Darum stellt sich nach wie vor die Frage, wer und was Teil eines „digitalen Welterbes“ sein sollte: Wessen Daten sind es wert, gespeichert zu werden? Wen entfernt man vom Server? In welcher Reihenfolge? Gibt es dabei dann neue Formen der „Armengräber“: Wer nicht zahlt, verschwindet? Wird hier nach ökonomischen Kriterien ausgewählt? Und welche Rolle spielen Geschichte und Gerechtigkeit?
Mit dieser technologischen Entwicklung, die das Verhältnis von Lebenden und Toten neu justiert, stellen sich damit Fragen auf unterschiedlichen Ebenen: der pragmatisch-politischen Ebene von Regulierungen und der kulturellen, aber auch religiösen Ebene.
5. Kulturelle und religiöse Aspekte des digitalen Weiterlebens: Zur Neujustierung des Verhältnisses von Tod und Leben
Es ist zu erwarten, dass Angebote des digitalen Weiterlebens zunehmend normalisiert werden. Wir stehen heute also an der Schwelle zu einer Neujustierung des Verhältnisses von Leben und Tod. Die Toten bleiben, auch mit den besten machine learning/deep learning Systemen, tot. Aber sie stehen weiter den Lebenden zur Verfügung.
Dies bringt Veränderungen in den Praktiken von Trauer und Erinnerung, aber auch in unserem Verständnis von Menschsein, insbesondere für Übergänge von Leben und Tod. Begleitet und gestaltet werden diese Übergänge bislang häufig von religiösen Narrationen des Weiterlebens, der Wieder- oder Neugeburt, des ewigen Lebens, des „Himmels“, in dem die Toten empfangen werden, oder – abstrakt – des neuen Lebens in Gott. All dies sind Weisen des Umgangs mit Endlichkeit als einer Menschheitsfrage – vom Gilgamesch-Epos bis heute. In christlich geprägten Kulturen steht der Gedanke der Erlösung im Mittelpunkt, der über die Jahrhunderte hinweg eingespannt war zwischen Trost und Vertröstung. Hier sind oder waren Menschen geprägt von starken Bilderwelten, die zeigen, wie Christus die Toten aus den Gräbern zieht, die dadurch zu Lebenden werden.
Religionen und Glaubenssysteme also bieten traditionelle oder neue Sozialtechniken des Trauerns und Erinnerns, Formen der grief tech eigener Art, mit deren Hilfe ein Trauerprozess strukturiert und ritualisiert wird. Dies ist immer auch ein Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Lange Zeit wurde am Ende einer katholischen Beerdigungen für denjenigen oder diejenige gebetet, der oder die von den Anwesenden als nächstes sterben würde. In einer veränderten digitalen Welt zeigen sich die grief tech, die Trauertechnologien, als technologische Narrationen des Lebens über den Tod hinaus. Menschen, die bislang diese Dienste in Anspruch nehmen, sind häufig Menschen, die mit einem plötzlichen Tod Nahestehender oder dem Tod von Kindern und jungen Menschen konfrontiert sind. Die Auswirkungen dieser Praktiken für die hoch individuellen und vielfältigen Formen werden ebenso individuell und vielfältig sein.
Unterscheiden lassen sich dabei in aller Allgemeinheit zwei Haltungen: eine Technologie, die auf ein „Wiederhaben“ der verstorbenen Person zielt und eine Technologie, die auf ein „Kennenlernen“ zielt. (vgl. Meitzler 2024, Kap. 4.3.2) Was in Holocaustmuseen heute praktiziert wird, ist eine solche Form des Kennenlernens. Dieses soziotechnische Kennenlernen ist auch im privaten Bereich vorstellbar, wo Enkel:innen gerne ihren Großeltern im Gespräch begegnen würden. (Meitzler 2024 ebd.)
Wer oder was aber sind diese Avatare? Sie sind keine nach dem Tod weiterlebenden Personen. Das „digitale Weiterleben“ nutzt eine bestimmte Vorstellung des „Lebens“: kognitiv und kommunikativ (wie auch immer eingeschränkt) und körperlos. Avatare sind keine weiterlebenden Personen, sondern Medienrepräsentationen. Und als Medienrepräsentationen sind sie eine bestimmte mediale Version einer solchen Person.
Giacomo Miceli hat auf der Website „The Infinite Conversation“ ein Endlosgespräch zwischen dem Filmregisseur und Dramaturgen Werner Herzog und dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek erstellt, bei dem eine KI mit den Interviews beider trainiert wurde. Žižek zumindest ist unzufrieden mit dieser Repräsentation: „Wo bleiben meine Vulgaritäten?“, fragt er. Seine Gedanken, „von digitalen Affen verarbeitet“, werden „in harmlose Scheiße verwandelt. Wenn ich mich hier höre, vermisse ich sofort mein ständiges Schniefen, meine abgehackten Gedankengänge und meine gelegentlichen ‚inkorrekten‘ Vulgaritäten.“ Was übrig bleibt, sei ein Klangteppich, nützlich etwa beim Autofahren als Hintergrundgeräusch. (Žižek 2022; vgl. Ammicht Quinn/Geissler/Heesen et al., 8)
Die App „Hello History“ ermöglicht Chats mit historischen und fiktionalen Personen. „Jesus Christus“ „antwortet“ auf die Frage „Is homosexuality a good thing?“: “I taught the importance of love and unity. It is for individuals to live according to their conscience and seek understanding, forgiveness and love”. “Robespierre”, auf die Frage, was er denn bereue: “I regret that the revolutionary ideals were tarnished by violence and excesses, but I firmly believed in the necessity of upholding the principles of liberty, equality, and fraternity.” Wie bei Žižek werden die Dialoge verflacht, geschönt und unanstößig. Love, peace and compassion sind überall vorhanden, auch wo man sie nicht erwartet.
Auch privat genutzte Avatare sind marktförmig. Entscheidend ist, für welches „Modell“ eines Verstorbenen die Hinterbliebenen bereit sind, Geld auszugeben. Vermutlich nicht für den permanent mürrischen und fluchenden Großvater. In den Angeboten des digitalen Weiterlebens bleiben die Toten tot. Sie werden nicht aus ihren Gräbern gezogen. Statt der Auferstehung stehen sie zur Verfügung.
Insofern ist Eugenia Kuydas Geschäftsmodell folgerichtig. Aus dem ursprünglichen Chat-Bots des verstorbenen Freundes wird in der Firma dann ein Freund schlechthin, ein „compagnion“. Dieser „compagnion“ der Marke Replika ist immer für uns da, hat immer Zeit, hat nur unsere Interessen im Sinn und trifft, haben wir ihn nur lange genug mit Gesprächen trainiert, genau den Ton, den wir erwarten. Er ist nicht schlecht gelaunt, widerspricht nicht, kritisiert uns nicht, sondern unterstützt und bestärkt. Das mag in bestimmten Krisensituationen – auch als grief tech – sinnvoll sein. Der „compagnion“ aber ist kein Gegenüber, kein Widerpart, sondern ein externalisiertes Selbst, je nach Perspektive: Therapie-Ersatz oder therapiebedürftig.
Im Alltag entsteht hier eine „parasoziale Kommunikation“, die schon 1956 im beginnenden massenmedialen Kontext von Donald Horton und Richard Wohl (Horton/Wohl 1956) beschrieben worden ist als illusionäre Beziehung zwischen Rezipient:innen und denen, die im Medium (Rundfunk, Kino, Fernsehen) agieren. Diese Beziehungen, so Horton und Wohl, haben keiner Reziprozität, erzeugen aber dennoch Bindungen. Auch Gebete oder Gespräche mit Toten, so manche Forscher:innen, können als parasoziale Beziehungen verstanden werden.
Dass Trauernde mit den Verstorbenen im Gespräch bleiben, Antworten, Haltungen und Reaktionen imaginieren, die sie gut kennen, hat es immer gegeben. Es gibt Zeiten und Orte, die für Trauernde die Präsenz von Toten spüren lassen. Ob diese Präsenz als „Weiterleben“ wahrgenommen werden, ist eher zweifelhaft.
Endlichkeit, Weiterleben, Trauer und Erinnerung bekommen beständig neue Formen. Der nicht neue Widerstand gegen Endlichkeit, Sterblichkeit und auch Altern wird aber deutlicher, aufdringlicher und unausweichlicher – sonst könnte es keine „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“ geben, die die Rettung aus der Sterblichkeit verspricht. Dort, wo die Ununterscheidbarkeit von „online“ und „offline“ zur kulturellen Normalität wird, verschwimmen auch die Unterscheidungen zwischen Imagination und Realität, Gespräch und „parasozialem“ Gespräch, Trost und Illusion, Präsenz und Repräsentation, Weiterleben und Verfügbarkeit. (vgl. dazu auch Meitzler/Heesen/Hennig/Ammicht Quinn 2024)
Wie in allen kulturellen und religiösen Phänomenen sind solche Verhältnisse immer fluide. Veränderungen werden vor allem dann bewusst, wenn Menschen an Schwellen zu Neuem stehen – wie heute. Solche Veränderungen schon im Vorfeld zu reflektieren ist eine schwierige und wichtige Aufgabe, insbesondere in den Handlungsfeldern von Politik, Bildung, Gesellschaft, Religion.
Die Aufgabe der Politik ist es, Regularien zu entwerfen, um die Menschen, die die Angebote des digitalen Weiterlebens nutzen, zu schützen. Wir wissen um die Problematik von Deepfake-Technologien, in der Personen des öffentlichen Lebens falsch repräsentiert werden und wo die meisten Deepfake-Anwendungen pornografisch sind. Insofern ist der Schutz wichtig für diejenigen, die von sich selbst eine digitale Repräsentation erstellen, und für diejenigen, die die Daten Verstorbener nutzen, um einen Avatar zu erhalten. Trauernde Menschen sind vulnerabel, brauchen damit besondere Fürsorge.
Aufgabe der Bildung ist es, Medienkompetenz und digital literacy voranzutreiben. Das beinhaltet ein Wissen über Medien und ihre Funktionsweisen, und die Kompetenz, emanzipatorische Leistungen digitaler Technologien ebenso zu kennen wie ihre gesellschaftlichen, politischen, anthropologischen und ökologischen Problematiken.
Aufgabe der Gesellschaft ist es, Räume für Tod und Trauer zur Verfügung zu stellen und die Imperative, dass weder Geburt noch Tod die Prozesse von Produktion und Konsum unterbrechen dürfen, zu befragen.
Und die Aufgabe der Religion?
Es geht nicht darum, die technologischen Neuerungen der Digital Afterlife Industry zu bekämpfen – eher mit kritischer Neugierde zu begleiten. Das digitale Weiterleben benutzt die – oft religiöse – Sprache von Unsterblichkeit und Ewigkeit, etwa in den Namen der Anbieter: GoneNot Gone, Eterni.me (bis 2015), HereAfter AI, b-emortal, Eter9 („Connecting Humanity Forever!“), YOV: you only virtual – und andere. Es geht aber nicht um Unsterblichkeit, sondern um eine technische Fiktion oder Narration der Anwesenheit, Erreichbarkeit, Nutzbarkeit nach dem Tod.
Mit der fortschreitenden Technik können sich Präsenz und Repräsentation immer mehr angleichen und in vulnerablen Ausnahmezuständen verwechselt werden. Im Kontext des „onlife“ sind digitale Phänomene und Erfahrungen nicht weniger „real“ als Phänomene und Erfahrungen der physischen Welt. Das bedeutet nicht, dass sie gleich sind. Darum sind Verwechslungen problematisch und können im Extremfall zu einem parasozial fokussierten Leben führen. “Should We Re-Engineer the Concept of Life in the Computational Era?” fragt das “Onlife Manifesto” (Floridi 2015). Damit stehen wir mit einem Fuß in der langen Diskussion um Körper und Geist (oder Seele), mit einem anderen Fuß im rutschigen Gelände der technikutopischen Unsterblichkeits- und Machbarkeitsfantasien.
In dieser eher unsicheren Situation geht es nicht um eine Konkurrenz von religiösen und technologischen Narrativen und Glaubensformen. Und es geht nicht um kulturpessimistische Abwehr des Ungewohnten oder Unheimlichen. Diese Abwehr kennen wir historisch aus Zeiten, in denen Fotografie oder Film neu waren. Religionen und Theologien müssen nicht den Bereich, in dem sie zu Hause sind oder waren, gegen Eindringlinge verteidigen oder die eigene Wahrheit von Tod und Auferstehung gegen eine technische Entwicklung ausspielen. Die Anwendungen können je nach zugrunde liegender Technologie, Transparenz, datenkapitalistischer Einbindung, Nutzungsformen, Motivation und digital literacy in manchen Fällen eine Hilfe, in anderen destruktiv sein.
Die Kompetenz von Religion und Theologien in diesem Kontext ist es, die anthropologischen Fragen – das „concept of life in a computational era“ – in den Mittelpunkt zu rücken. Damit eröffnen sich zwei neu zu konturierende Bereiche: zum einen der Bereich eines nicht-reduktionistischen Verständnisses vom Menschen, der nicht identisch ist mit einem Datensatz, und dessen Haltungen, Hoffnungen, Emotionen, Körperlichkeiten und Glaubensvorstellungen nicht in ihrer Fülle, ihrem Wert und ihrer Widersprüchlichkeit algorithmisch übersetzbar sind; und zum anderen der Bereich, in dem es nicht um ein Weiter-„Leben“ der Toten geht, sondern um die weitere Verfügbarkeit der Toten für die Lebenden – zur Hilfe beim Betrauern, zur Information oder zum Widerstand gegenüber der eigenen Endlichkeit. Wenn Mittel der Trauer und der Erinnerung, auch soziotechnische Hilfsmittel, als „Weiterleben“ deklariert werden, dann verflacht die Vorstellung vom Menschen und ein erfülltes Leben, aber auch die Trauer um das Ende eines Lebens verliert ihren Wert.
Anhang: Pragmatische Aspekte des digitalen Weiterlebens: Regulierungsfragen
Vor allem für digitale Techniken und Praktiken in Bezug auf Tod, Trauern und Erinnern auf privater Erfahrungsebene sind die folgenden Überlegungen wichtig: (vgl. dazu ausführlich: Ammicht Quinn, Heesen, Hennig, Meitzler et al. 2024)
- Schutz von Personen, die Dienste für das digitale Weiterleben nutzen:
Die häufig verletzliche Situation trauernder Menschen verlangen in neuen soziotechnischen Kontexten nach angepassten Rahmenbedingungen. Dazu gehört der Schutz vor Manipulationen durch Geschäftsinteressen, aber auch der bewusste Umgang mit scheinbaren Grenzauflösungen zwischen Leben und Tod. Widerstreitende Interessen der Plattformökonomie und der Bedürfnisse im Umfeld von Tod und Trauer müssen offengelegt werden.
- Avatare des digitalen Weiterlebens als Avatare kennzeichnen:
Diese Kennzeichnung sollte auch die Spezifika des Sprachmodells und die informationstechnischen Verfahren beinhalten – und zwar so, dass auch Nicht-Informatiker:innen sie verstehen können.
- Erfüllung datenschutzrechtlicher Pflichten und darüber hinaus:
Der postmortale Persönlichkeitsschutz ist in Bezug auf Anwendungen des Digital Afterlife lückenhaft. Es braucht etwa Nachlassregelungen der repräsentierten Person in Bezug auf den Umgang mit ihren Daten nach dem Tod oder verpflichtende Standards bei Vertragsabschlüssen mit Dienstanbietern z.B. in Bezug auf die Nutzungsdauer und die Frage, mit wem der Avatar interagieren darf.
- Begrenzung der Autonomie der Avatare des digitalen Weiterlebens:
Plattformen und Dienstanbieter sollten klare Richtlinien für die Erstellung, Verwendung und Löschung von Avataren Verstorbener festlegen. Im Normalfall sollten die repräsentierten Personen zu Lebzeiten – etwa im Kontext des digitalen Nachlasses – ihr Einverständnis erklären. Avatare sollten nicht den digitalen Nachlass (z.B. E-Mail-Accounts, Konten in sozialen Netzwerken, digitale Vermögenswerte und Telekommunikation) der dargestellten Person fortführen, Anwendungen autonom starten oder eine Kommunikation auf eine Weise zu initiieren, die Personen überraschen, verwirren oder dazu verleiten könnte, den Avatar mit einer (noch) lebenden Person zu verwechseln.
- Ethische Reflexion der medialen Repräsentationen von Verstorbenen:
Avatare und andere Reproduktionen von Verstorbenen sind Repräsentationsmedien, die sich stets nur als Inszenierungen von Realität verstehen lassen. Repräsentationsfragen erfordern ein hohes Maß an ethischer Reflexion. Dabei geht es um die Verletzlichkeit Trauernder, um das Verständnis von Pietät und um die Interessen der repräsentierten Personen an einer angemessenen Darstellung.
Avatare konstituieren sich maßgeblich über Prozesse der Auswahl und Kombination bestimmter Informationen über die verstorbene Person, während zugleich andere Inhalte und Darstellungsformen ausgeklammert werden. Über die Form der Darstellung kann die repräsentierte Person vor ihrem Tod selbst entscheiden, aber auch Angehörige bzw. Nutzende können diese Aufgabe übernehmen. Gleichzeitig spielen technische und rechtliche Vorgaben des Dienstanbieters eine Rolle. Technische Filter können etwa dafür sorgen, dass ein Avatar nicht über Gewalt oder Sexualität sprechen kann. Hier stellen sich einerseits Fragen nach der Freiheit der Darstellung und andererseits nach der Entstehung neuer Abbildungskonventionen. Umso wichtiger ist es, dass sich repräsentierte und anwendende Personen vor der Dienstnutzung umfassend über Risiken in Bezug auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte und die Gestaltung der Dienste.
- Bildungs-, Diskurs- und Forschungsaufgaben:
Bürgerinnen und Bürger benötigen umfassende, verlässliche und leicht zugängliche Informationen, um verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
Für diejenigen, die Dienste des digitalen Weiterlebens entwickeln, vermarkten und verkaufen, braucht es ein fundiertes Qualifikationsangebot zur Sensibilisierung für die gesellschaftlichen, kulturellen, psychologischen und ethischen Aspekte von Trauer und damit verbundene Bedürfnisse trauernder Menschen. Für Menschen, die beruflich mit Trauernden befasst sind, sind Weiterbildungsangebote erforderlich, nicht nur mit Blick auf neueste Entwicklungen im Bereich der Digital Afterlife Industry, sondern auch hinsichtlich ihrer Implikationen für einen medienkompetenten Umgang (digital literacy).
_____________________________
Regina Ammicht-Quinn, Dr. theol. habil, ist Professorin für Ethik. Sie hat bis 2023 das Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) und das Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung (ZGD) der Universität Tübingen geleitet.
https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/159167
Literatur
Ammicht Quinn, Regina/Geissler, Ines/Heesen, Jessica/Hennig, Martin/Kunz, Thomas/Meitzler, Matthias/Waldmann, Ulrich (2024): Ethik, Recht und Sicherheit des digitalen Weiterlebens. Forschungsergebnisse und Gestaltungsvorschläge zum Umgang mit Avataren und Chatbots von Verstorbenen, Tübingen/Darmstadt. https://uni-tuebingen.de/de/237225 (abgerufen am 12.11.2024)
Ariès, Philippe (1980/2005). Die Geschichte des Todes. dtv: München.
Bauman, Zygmunt (1992). Mortality, Immortality and other Life Strategies. Cambridge: Polity Press.
Brumlik, Micha (2015). Hologramm und Holocaust. Wie die Opfer der Shoah zu Untoten werden. In: Meike Baader/Tatjana Freytag (Hg.). Erinnerungskulturen: Eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung, Köln / Weimar:Böhlau, 19-30.
Butler, Judith (2009). Frames of War: When Is Life Grievable? London/New York: Verso.
Doßmann, Axel (2019). Unsterbliche Zeugen. Holographische 3D-Projektionen als Symptom einer Krise. In: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, 68-77. http://www.gmoe.uni-jena.de/fileadmin/download/PDF-Texte_Axel_Dossmann/Axel_Dossmann_Hologramm_Holocaust_3D-Zeugen_2019.pdf (abgerufen am 12.11.2024)
Floridi, Luciano (Hg.)(2015). The Onlife Manifesto. Being Human in a Hyperconnected Era. Springer Open. https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-04093-6 (abgerufen am 12.11.2024)
Habermas, Jürgen (2008). Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Hrsg. v. Michael Reder und Josef Schmidt. Berlin: Suhrkamp.
Heesen, Jessica und Hennig, Martin (2024). Deadbots: Ethische Grenzen des digitalen Weiterlebens – eine medien- und technikethische Perspektive. In: Benjamin Rathgeber/Markus Maier (Hg.): Grenzen Künstlicher Intelligenz. Kohlhammer 2024 (im Druck).
Hennig, Martin (2024a). Die Digital Afterlife Industry und ihre Angebote. In: Ammicht Quinn/Geissler/Heesen et al., a.a.O., 21f.
Henning, Martin (2024b). Fiktionswelten des digitalen Weiterlebens. In: Ammicht Quinn/Geissler/Heesen et al., a.a.O., 25-34.
Hollanek, Tomasz und Nowaczyk‑Basińska, Katarzyna (2024). Griefbots, Deadbots, Postmortem Avatars: on Responsible Applications of Generative AI in the Digital Afterlife Industry. Philosophy & Technology 34, 63. https://doi.org/10.1007/s13347-024-00744-w (abgerufen am 12.11.2024)
Horton, Donald und Wohl, Richard (1956). Mass Communication and Para-Social Interaction: Observations on Intimacy at a Distance. In: Matthias Potthoff (Hg.). Schlüsselwerke der Medienforschung. Wiesbaden: Springer VS, 61-73. https://doi.org/10.1515/9783110641042
Huxley, Julian (1958). New Bottles for New Wine. London: Chatto and Windus. https://archive.org/details/NewBottlesForNewWine/page/n7/mode/2up (abgerufen am 12.11.2024)
JFK Unsilenced (2018). https://www.youtube.com/watch?v=wZF59wIIBLI (abgerufen am 12.11.2024)Laqueur, Thomas W. (2015) The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains. Princeton: Princeton University Press.
Meitzler, Matthias (2011). Norbert Elias und der Tod. Eine empirische Überprüfung. Wiesbaden: Springer VS.
Meitzler, Matthias (2012): Wenn einer stirbt. Die Professionalität der Todesverwaltung. In: Thorsten Benkel: Die Verwaltung des Todes. Annäherungen an eine Soziologie des Friedhofs. Berlin: Logos, S. 12-35.
Meitzler, Matthias (2024a): Wandel der Sterbe-, Bestattungs- und Trauerkultur. In: Ammicht Quinn/Geissler/Heesen et al., a.a.O., 12-21.
Meitzler, Matthias/Heesen, Jessica/Hennig, Martin/Ammicht Quinn, Regina (2024b). Digital Afterlife and the Future of Collective Memory. Memory Studies Review (20 24) 1–18.
Nägel, Verena Lucia und Stegmaier, Sanna (2019). AR und VR in der hRch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust – (Interaktives) Lernen oder emotionale Überwältigung? https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/298168/ar-und-vr-in-der-historisch-politischen-bildung-zum-nationalsozialismus-und-holocaust-interaktives-lernen-oder-emotionale-ueberwaeltigung/ (abgerufen am 12.11.2024)
Öhman, Carl (2024). The Afterlife of Data. What Happens to your Information When you Die und Why you Should Care. Chicago/London: University of Chicago Press.
Riesewieck, Moritz und Block, Hans (Regie und Drehbuch) (2024). Eternal you – vom Ende der Endlichkeit.
Schedel Hartmann (1493). Utima eras mundi, Holzschnitt, Nürnberg. http://www.dodedans.com/Exhibit/Image.php?navn=schedel-dom (abgerufen am 12.11.2024)
Semprun, Jorge und Wiesel, Elie (1996). Unüberbrückbare Erinnerungen. Ein Zwiegespräch zwischen Jorge Semprun und Elie Wiesel. In: Werkstatt Geschichte 13 (1996), 49-59. Mit einem Vorwort von Michael Wild. https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/01/WG13_049-059_SEMPRUN_ERINNERUNGEN-2.pdf (abgerufen am 12.11.2024)
Statista Schätzung (2023). Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung ist offline. https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/wissenschaft-technologie-digitales/Internetnutzung.html (abgerufen am 12.1.2024)
Wulfram, Hartmut (2019). Si tibi terra levis. Eine Grabinschriftformel in den Epigrammbüchern Martials. In: Cornelia Ritter-Schmalz und Raphael Schwitter (Hg.). Antike Texte und ihre Materialität. Alltägliche Präsenz, mediale Semantik, literarische Reflexion. Reihe Materiale Textkulturen, Bd. 27. Berlin: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110641042
Zižek, Slavoj (2022). Wo bleiben meine Vulgaritäten? Warum ich von einem Bot, der mich imitieren soll, ziemlich enttäuscht bin. ZEIT 46, 11.Nov. 2022.