Die zunehmende Digitalisierung insbesondere der medialen Kommunikationsformen stellt Kirchen vor erhebliche Herausforderungen. Thomas Schlag erläutert, weshalb die Kirchen in diesen Dynamiken ihren institutionellen Markenkern stark machen sollten.
Warum sollte sich eigentlich für die Kirche durch die Dynamiken der Digitalisierung etwas Wesentliches an ihrer Grundlage, ihrer Gestalt und ihrem Auftrag ändern? Die Herausforderungen, vor denen Kirche in ihren unterschiedlichen konfessionellen Formationen steht, mögen sich durch die neuen medialen Formen zwar in quantitativer Hinsicht ändern. Aber gilt dies auch für das «Wesentliche» von Kirche und damit in qualitativer Hinsicht? Der Universalitätsanspruch der «einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen» (Volks-)Kirche hat lange vor den digital universalen Medien bestanden. Und er wird auch dann noch bestehen, wenn längst neue, jetzt noch ganz unvorstellbare neue Formen digitaler Kommunikationspraxis oder gar eine artifizielle, universelle und gottähnliche «Singularität» (Ray Kurzweil) entwickelt sein werden. Die neuen digitalen Medien sind somit aus theologischen Gründen von immer nur relativer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft von Kirche und man sollte schon aus theologischen Gründen nicht deren Zukunft davon abhängig machen, dass sie selbst «digitale Sozialgestalt» annimmt.
Kirche existiert nicht jenseits der faktischen «Kultur der Digitalität» (Felix Stalder).
Dies bedeutet nicht, dass diese neuen digitalen Sozialformen gänzlich unwichtig sind, wenn es darum geht, Kirche im digitalen Zeitalter weiterzuentwickeln. Kirche existiert nicht jenseits der faktischen «Kultur der Digitalität» (Felix Stalder). Insofern wäre es so kurzsichtig wie vermessen, wenn sie in ihrem strategischen Handeln die aktuellen Dynamiken ignorieren würde. Tatsächlich ist man an verschiedenen Orten überaus rege. Ganz unterschiedliche Optionen werden hier in einschlägigen kirchlichen Stellungnahmen und Reformmassnahmen formuliert:
- So wird etwa die Rolle der moralischen Instanz übernommen, auf die Gefahren einer sich weiter beschleunigenden Technikentwicklung und kapitalismusinduzierter Entmündigungsstrategien hinzuweisen – nicht selten mit einer eigenartigen Melange aus dogmatischen und modernitätskritischen Interventionen.
- Gleichzeitig will Kirche mit teilweise hohen Investitionen in eigene Digitalisierungsstrategien «mit dabei» sein und sich als modernitätsoffene und technikkompatible Grossorganisation zeigen – und zwar sowohl nach innen in Hinsicht auf die eigenen Verwaltungs- und Verfahrensabläufe wie nach aussen etwa durch eine digital abgebildete «corporate identity».
Nun lässt sich aber nicht genau einschätzen, von welchem Selbstverständnis Kirche – bei allen konfessionellen Unterschieden – eigentlich ausgeht, wenn sie sich hier positioniert. So ist zu bedenken, ob sie wirklich ein ernsthaftes Interesse daran hat, nicht nur den tiefer liegenden Nutzungspraktiken und Nutzungsmotiven, sondern sich selbst auf den Grund zu gehen. Und hier ist durchaus noch nicht entschieden, ob Kirche bereit ist, freien Raum für individuelle Artikulationen zu geben und sich von der kreativen Nutzungsvielfalt für ihre eigene Programmatik irritieren und gar in Frage stellen zu lassen. Bleibt es womöglich der Struktur nach eben doch bei der alten Sender-Empfänger-Logik, die man aus den klassischen kirchlichen Kommunikationsformen schon zu Genüge kennt?
Ein möglichst kluger Umgang mit den neuen medialen Möglichkeiten
Nun könnte man also im Sinn eines mittleren Weges folgern, dass es für die kirchliche Haltung und Praxis um einen möglichst klugen Umgang mit den neuen medialen Möglichkeiten gehen muss und damit eine Art programmatischer Unaufgeregtheit angezeigt ist. Und tatsächlich wäre ein solcher Weg keineswegs falsch, wie etwa in den durchaus tiefsinnigen Überlegungen Volker Jungs unter dem Titel «Digital Mensch bleiben» nachzulesen ist.
Aber die eigentliche Herausforderung liegt deutlich tiefer: Letztlich bilden sich in den Dynamiken der sozialen Netzwerke bestimmte fluide Formen der religiösen Artikulation und Sinnsuche ab, die sich nicht mehr einfach dogmatisch einhegen, organisationslogisch bespielen oder pragmatisch abarbeiten lassen. Wenn man sich die kirchentheoretische Fassung von Kirche in den Manifestationsformen von Bewegung oder Netzwerkbildung vor Augen führt, wird deutlich, dass Organisationsstrukturen solche Bewegungen weder machen noch einhegen, weder kontrollieren noch gar beschränken können. Für den digitalen Kontext gesagt: Es lässt sich nicht einfach der Netzstecker ziehen oder die Bildschirmoberfläche einschwärzen, schon gar nicht kann Kirche den «digital prosumers» mahnend auf die bewegungsreich tippenden Finger klopfen.
Bestimmte fluide Formen der religiösen Artikulation und Sinnsuche
Nun gibt es drei sinnvolle, in gewisser Weise komplementäre Strategien, die sich denken lassen:
- Die gelassene und zugleich aufmerksam-geschulte Wahrnehmung dessen, was im Netz überhaupt stattfindet. Dazu sollten sich die Kirchen Rat bei den wissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern holen, die hier über die entsprechende Expertise verfügen. Starten die Kirchen hingegen ihre Programme ohne sorgfältige und intensive Analysen, ist mit schlimmstem Stochern im digitalen Nebel zu rechnen.
- Die Bereitstellung eigener Angebote, hier vor allem im Bereich der Aus- und Weiterbildung in digitaler und hermeneutischer Expertise, aber längerfristig auch die religiöse Sozialisation der «digital natives» an den Bildungsorten Schule und Kirche. Hier ist selbst dann zu investieren, wenn sich diese Massnahmen kurzfristig weder in ihrem möglichen Erfolg messen noch garantieren lassen.
- Der Aufbau und die nachhaltige Etablierung von partizipativer Netzwerkstrategien, mit denen digitale User für eine kirchliche Präsenz in den sozialen Medien gewonnen werden. Zu schaffen wäre eine Plattform-Kultur von religiösen InfluencerInnen. In diese Richtung gehen tatsächlich schon manche kirchlichen Initiativen – man denke etwa nur an den EKD-Youtube-Kanal «Jana glaubt» oder das durch die Zürcher Landeskirche gegenwärtig aufgegleiste «reflab».
Die kirchliche Deutungsmacht in digitalen Welten ist der Sache nach begrenzt.
Insbesondere im Blick auf die dritte genannte Strategie ist realistischerweise davon auszugehen, dass die kirchliche Deutungsmacht in digitalen Welten der Sache nach begrenzt ist. Denn wenn «Freiheit» das konstitutive Grundelement aller digitalen Praxis ist, dann entzieht sich eine solche Influencer-Praxis natürlich allen Funktionalisierungsmechanismen – es sei denn, sie sollte unter der Hand vornehmlich als Sprachrohr kirchlicher Interessen dienen. Eine solche subtile Art der Einflussnahme auf vermeintlich «total offene» Art und Weise sollte die Kirche vermeiden, will sie sich nicht dem Vorwurf subkutaner Indoktrination aussetzen. Es müsste dann in jedem Fall deklariert werden, «wes Geistes Kind» der jeweilige «Repräsentant» bzw. die jeweilige «Repräsentantin» wirklich ist.
Aber auch diese Medaille hat eine zweite Seite:
Will man wirklich alles der religiösen Fluiditätsdynamik überlassen? Könnten dann am Ende die religiösen InfluencerInnen zu Zauberlehrlingen werden, die der medial verbreiteten Geister nicht mehr Herr werden? Und würde dies am Ende dann nicht genau zur «self fulfilling prophecy» führen, nämlich der immer weiteren Aushöhlung des institutionellen Kerns von Kirche?
Den institutionellen Markenkern selbst zum substantiellen öffentlichen Gegenstand des digitalen Engagements machen.
Es ist also notwendig, dass sich Kirche auf theologische Weise mit der Kernfrage nach der Substanz aller Mediatisierungsprozesse ernsthaft auseinandersetzt. Und diese liegt in der leibhaften und sichtbaren Präsenz von Kirche als «creatura verbi». Um also nicht auf die Seite organisatorischer Massnahmen einerseits, oder ganz «unkontrollierbarer» Bewegungsdynamiken andererseits zu fallen, geht es darum, den institutionellen Markenkern selbst zum substantiellen öffentlichen Gegenstand des digitalen Engagements zu machen.
Was am Ende überzeugen wird, ist – neben der notwendigen professionellen Präsenz im Netz – die konkrete Wort-Verkündigung, Ansprechbarkeit und wenn man so will, leibliche Präsenz von Kirche durch ihre einzelnen Glieder. Bildschirme und Chatforen können die ganzheitliche gottesdienstliche Gemeinschaft jedenfalls nicht ersetzen. Dies gilt selbst dann, wenn sichtbare Anschaulichkeit via digitaler Oberflächen hergestellt wird. Denn kirchentheoretisch gesprochen lebt die Kirche in ihrer Einheit, Allgemeinheit, Heiligkeit und Apostolizität wesentlich von den einzelnen Gliedern, die genau dieses Wortereignis vor aller Augen immer wieder auf neue und kreative Weise zum Vorschein bringen.
Neu zu denken ist Kirche als Institution, die teilend, helfend und feiernd kommuniziert.
Es wird auch zukünftig darauf ankommen, als Kirche in den Verhältnissen der Gegenwart so menschenfreundlich wie möglich präsent zu sein. Neu zu denken ist Kirche als Institution, die genau diesen Markenkern erfahrbar, d.h. teilend, helfend und feiernd kommuniziert. Denn letztlich ist jedes behauptete Resonanzgeschehen auf unbedingte Annahme und zugleich auf eine erfahrbare leibliche und räumliche Gemeinschaft angewiesen.
Kirche geht jedenfalls nicht in ihren digitalen Präsenzen auf und kann auch nicht darauf reduziert werden. Ansonsten droht am Ende eine digitale Kultur der in ihren «filter bubbles» (Eli Pariser) fensterlos kommunizierenden Monaden, von denen sich jede einzelne selbst genug ist, in denen dann aber der tiefere Sinn und die Tradition präsenter koinonia als «Institution der Freiheit» verlorenzugehen droht.
Kirche geht jedenfalls nicht in ihren digitalen Präsenzen auf und kann auch nicht darauf reduziert werden.
Über die Bedeutung des «creatura verbi» kann aber theologisch nur dann gerungen werden, wenn man deren möglichen Bedeutungsgehalt nicht einfach in den Bereich des «anything goes» verschiebt. Freiheit ist jedenfalls nicht ohne den Sinn und die Verantwortung für das grössere Ganze und damit weit geöffnete Fenster zum Anderen zu denken – und die Energie der Institution ohne den Blick auf ihre geistliche Gründung sowieso nicht. Alles andere wäre kaum mehr als ein digital induzierter Solipsismus.
Die theologische Selbstbesinnung im Horizont einer sozusagen «online-offline-mixed economy» sollte nicht als reaktionäres Rückzugsgefecht verstanden werden, sondern vielmehr als notwendige theologische Strategie gegen die unübersehbaren Tendenzen eines alles vergleichgültigenden «anything goes».
Erkennbar werden als vom Gedanken des Heiligen Geistes Verzauberte.
Aber natürlich bedarf die Institution selbst des Aufbruchs – übrigens: Warum sollten nur Bewegungen aufbrechen können? – Es bedarf tatsächlich einer Art institutioneller Revolution, die sich ihrer eigenen Beharrungstendenzen entledigt und die vorhandenen Ressourcen dazu nutzt, die einzelnen Akteurinnen und Akteure zu ermächtigen, nicht abseitig vom, sondern gerade in der Orientierung am institutionellen Markenkern von Kirche in attraktiven klassischen Begegnungs- und Ritualformen öffentlich das geschriebene und gesprochene Wort zu ergreifen und neue Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Religiöse InfluencerInnen würden dann nicht als Zauberlehrlinge «in Erscheinung» treten, die die Geister, die sie riefen, nicht mehr beherrschen. Sie würden erkennbar werden als vom Gedanken des Heiligen Geistes Verzauberte, die sich des freiheitsstiftenden und solidarischen Pfingstereignisses bewusst sind und dies öffentlich glaubwürdig zu vertreten vermögen. Und dann dürfte sich im Blick auf die Grundlage, Gestalt und den Auftrag von Kirche durch die Dynamiken der Digitalisierung immer wieder Wesentliches ereignen.
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Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie und Vorsitzender der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.
Bild: William Daigneault / Unsplash.com