Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung und Robotisierung der Gesellschaft stellen sich der Gesellschaft neue Herausforderungen im Blick auf Gerechtigkeit, Sinnstiftung und globale Ungleichzeitigkeit, so Peter G. Kirchschläger.
1 Digitalisierung und Robotisierung der Gesellschaft
Digitalisierung und Robotisierung der Gesellschaft bezeichnet Prozesse, im Zuge derer der Einsatz von Robotik, Digitalisierung und künstlicher Intelligenz einen fortschreitenden technischen Wandel der Gesellschaft und Wirtschaft bewirkt. Innovation und Produktivitätssteigerung charakterisieren diese digitale Transformation. Damit verbundene Veränderungen und Konsequenzen prägen in einer grundlegenden Art und Weise sowohl das alltägliche Leben, die Arbeitswelt als auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen.
2 Chance und Herausforderung
Die Verwendung von intelligenten und selbstlernenden Systemen in wirtschaftlichen Prozessen stellt kein Zukunftsszenario dar, sondern findet bereits statt. Sie umfasst alle wirtschaftlichen Prozesse, Branchen, Berufsgruppen und gesellschaftlichen Bereiche. Digitalisierung, Robotisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz eröffnen einzigartige Chancen. Sie führen z. B. im medizinischen Bereich zu mehr Inklusion und Selbstbestimmung von Menschen mit einer Querschnittlähmung. Durch sie kann zudem eine Senkung der Gesundheitskosten erzielt werden. Ihre Unterstützung von finanzwirtschaftlichen Abläufen führt des Weiteren zu grösseren auswertbaren Datenmengen, zu mehr Präzision und zu höherer Geschwindigkeit.
Darüber hinaus ermöglicht Digitalisierung, Robotisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz neue Geschäftsmodelle bis hin zu neuen Wirtschaftsformen. „Man kann hier von einem disruptiven Charakter der Entwicklung sprechen. Die Wucht der Disruption wird deutlich, wenn man sich Branchen anschaut, die durch den digitalen Wandel gleichsam neu erfunden werden: die Musik- und Medienbranche, Telekommunikationsunternehmen, Reisebüros, Einzelhandel und Versandhändler.“[1] Neue Arbeitsplätze entstehen. Schliesslich entlastet diese technologiebasierte Unterstützung den Menschen und schafft neue Freiräume für andere Aufgaben.
Gleichzeitig wird die zunehmende Digitalisierung und Robotisierung der Gesellschaft und Wirtschaft als eine der grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wahrgenommen. Denn während neue Arbeitsplätze entstehen, werden deutlich mehr von ihnen verschwinden – im Unterschied zu bisherigen Innovationsschüben. „Der Unterschied ist, dass Maschinen nun denken können, wenn auch limitiert. Sie lösen Probleme, treffen Entscheidungen und – am wichtigsten: Sie lernen.“[2] In 15-20 Jahren wird es wahrscheinlich möglich sein, mehr als die Hälfte aller beruflichen Aufgaben durch Roboter auszuführen.[3] Die Verringerung von bezahlten Arbeitsplätzen führt zu einem Verlust von Einkommen sowie von Quellen der Sinnstiftung und des Selbstverständnisses für das Individuum. Gleichzeitig stellt sich das Problem der Schere zwischen Arm und Reich. Ausserdem schliessen sich an die Veränderung der Marktmechanismen – u. a. der monopolisierenden Wirkung aufgrund des Netzwerkeffektes – Fragen nach den adäquaten rechtlichen Rahmenbedingungen, der angepassten Gestaltung von demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozessen und der Verteilung von Rechten und Pflichten[4] an.
3 Verantwortung
Aus der höheren Abstraktion, die Digitalisierung, Robotisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz mit sich bringen, folgt, dass die ethische Auseinandersetzung mit und Bestimmung von Verantwortungsrelationen schwerer fällt. Beispielsweise führt die höhere Komplexität von finanzwirtschaftlichen Handlungen dazu, dass Letztere für einzelne Finanzinstitute bzw. für politische EntscheidungsträgerInnen gar nicht mehr durchschaubar zu sein scheinen.
Wenn Verantwortung in einer siebendimensionalen Matrix verstanden wird – Dimension Verantwortungssubjekt, Dimension Verantwortungsform, Dimension Verantwortungsobjekt, Dimension Verantwortungsumfang, Dimension Verantwortungsart, Dimension Massstab der Verantwortung und Dimension bewertende Instanz[5] –, ergeben sich aufgrund der unterschiedlichen Bestimmung der einzelnen Dimensionen und ihrer Kombination untereinander verschiedene Ausprägungen der Verantwortung. Bleiben diese Verantwortungsrelationen jedoch unter- bzw. gar nicht bestimmt, führt dies zu einer Verwässerung der Zuordnung von Verantwortung. Dies bedeutet, dass die eigentlichen Verantwortungssubjekte vermeintlich unbekannt bleiben und nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.
4 Arbeit
Weniger Menschen in Arbeitsprozessen zu integrieren wird mit einer Kostenreduktion verbunden sein, da bis dann robotisierte Arbeitskräfte billiger als Menschen sind. Gleichzeitig werden die bisherigen arbeits- und gewerberechtlichen Systeme in Frage gestellt. Die klassischen Rollenbilder und Begrifflichkeiten der Arbeitswelt werden durch Digitalisierung, Robotisierung und durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz neu definiert.
5 Bildung
Der zeitliche Horizont dieses steten Wandels der Gesellschaft und Wirtschaft bedeutet konkret: Wenn heute ein Kind die vorschulische Bildung in Angriff nimmt, muss es damit rechnen, dass sich möglicherweise am Ende der schulischen Laufbahn oder ziemlich sicher mit dem Abschluss einer Berufs- oder Hochschul-Bildung bzw. nach ein paar Jahren im Berufsleben die Wirtschafts- und Arbeitswelt so tiefgehend verändert haben wird, dass zum einen die Hälfte der Arbeitsplätze weggefallen sein wird. Zum anderen werden voraussichtlich andere Kompetenzen als heute weiterhelfen.[6] Tragen Bildungssysteme diesen Zukunftsaussichten genügend Rechnung? Welche Aufgaben werden Schulen, Berufsschulen, Hochschulen und Universitäten anvertraut? Wie ist Bildung zu verstehen, und welches Menschenbild liegt ihr zugrunde?
6 Gerechtigkeit
Zu diesen Fragen, die hier nur angesprochen, jedoch an anderer Stelle vertieft werden können, gesellt sich die sich aufgrund von Digitalisierung, Robotisierung und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in Gesellschaft und Wirtschaft ergebende Kernkonsequenz: Immer weniger Menschen werden an einer effizienteren und effektiveren Wertschöpfungskette direkt teilnehmen und teilhaben. Dies bedeutet erstens, dass aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht eigentlich nicht die Menge der zur Verfügung stehenden Mittel die Herausforderung darstellt, sondern vielmehr die Gestaltung eines gerechten[7] Gesellschafts- und Wirtschaftssystems – mit Chancengleichheit für alle, im Dienste der Existenzsicherung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung unternehmerischer Anreize und als Fundament für sozialen Frieden. Bereits heute klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.
Gemäss einer von der Nichtregierungsorganisation Oxfam im Januar 2016 veröffentlichten Studie gehört 62 Menschen gleich viel wie der wirtschaftlich schlechter stehenden Hälfte der Menschheit.[8] Die Grossbank Credit Suisse weist nach, dass die reichsten 1% der Menschheit mehr besitzen als der ganze Rest der Menschheit.[9] Gelingt eine gerechtere Verteilung und die Schaffung von Chancengleichheit, lässt sich eine „Donut-förmige Wirtschaft“[10], in der sich die Kluft zwischen Arm und Reich exorbitant ausweitet und die Mitte wegbricht, unterbinden.
7 Sinnstiftung
Zweitens führt die obige Kernkonsequenz zu weniger Arbeitszeit und mehr freier Lebenszeit. Das muss nicht unbedingt eine schlechte Nachricht sein, wenn sich eine Gesellschaft und ein Wirtschaftssystem entsprechend organisiert, versteht und soziale Einbindung ermöglicht bzw. dem Menschen die Entfaltung eines neuen Selbstverständnisses – mehrheitlich unabhängig von einem bezahlten Arbeitsplatz – gelingt. Wozu ist der Mensch frei, wenn er frei von bezahlter Arbeit ist? „If there is one thing the great institutions of the modern world do not do, it is to provide meaning. Science tells us how but not why. Technology gives us power but cannot guide us as to how to use that power. The market gives us choices but leaves us uninstructed as to how to make those choices. The liberal democratic state gives us freedom to live as we choose but refuses, on principle, to guide us to how to choose.”[11]
Diesbezüglich kann Religionen eine bedeutende Aufgabe zukommen. Die pastorale Begleitung von Menschen im Fragen und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach einem Menschenbild und einem Selbstverständnis sowie die Schaffung von Räumen für diese Auseinandersetzung könnte neben der theologischen Reflexion, Kritik und Mitgestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse einen essentiellen Beitrag von Religionen bilden. „Können die Menschen den Fragen nach Ursprung, Ziel und Sinn ihres Lebens Raum geben oder werden diese Fragen durch kurzschlüssige ‚Antworten’ verdrängt? Versteht sich der Mensch als Betender, also als einer, der sein Suchen und Fragen im Horizont eines personalen Du formuliert und sich einer letzten Offenheit gegenübersieht, oder als einer, der sich selbst die Antworten auf seine letzten Fragen geben muss?“[12]
8 Globale Ungleichzeitigkeit
Drittens erschliesst eine globale Perspektive, dass die auf Digitalisierung, Robotisierung und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz basierenden Prozesse weltweit unterschiedlich intensiv und schnell ablaufen. Zugleich kennen sie grosse Differenzen in Bezug auf die politische Mitsprache bei ihrer Gestaltung und hinsichtlich des Genusses ihrer Sonnenseite (u. a. Gewinnbeteiligung) bzw. des Leidens unter der Schattenseite (u. a. sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen bzw. moderne Sklaverei bei der Rohstoffgewinnung für und bei der Produktion von Technologieprodukten). Dabei handelt es sich um keine neue, aber um eine immer noch aktuelle Herausforderung. Wenn Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Popolorum progressio“ von 1967 die zentrale Bedeutung von Entwicklung hervorhebt (Nr. 76) und wenn der Bischof von Rom Franziskus in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ Fehlentwicklungen eines Wirtschaftssystems kritisiert (Nr. 53-54), sprechen sie Probleme der Gegenwart an. Ihre weltweite Lösung ist im Heute und im Morgen prioritär anzugehen und zu beachten.
[1] Meyer, Matthias, Die Digitalisierung als sozialethische Herausforderung, in: Kirche und Gesellschaft Nr. 424 (November 2015) 1-16, hier 6-7.
[2] Ford, Martin, Intelligente Roboter. „Automatisierung wird die ganze Arbeitswelt erfassen”, Interview in der NZZ am Sonntag 19.2.2016, in: Internet: http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/die-roboter-kommen-die-automatisierung-wird-die-ganze-arbeitswelt-erfassen-ld.5468 (Eingesehen am 29.03.2016).
[3] Vgl. u. a. in Bezug auf die USA Frey, Carl Benedikt/Osborne, Michael A., The future of employment: how susceptible are jobs to computerisation?, in: Oxford Martin School 7 (2013) 1-72, Internet: http://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf (Eingesehen am 29.03.2016); Rotman, David, How Technology Is Destroying Jobs, in: MIT Technology Review (2013, June 12). http://www.technologyreview.com/featuredstory/515926/how-technology-is-destroying-jobs/ (Eingesehen am 29.03.2016).
Vgl. u. a. in Bezug auf die EU Bowles, Jeremy, The computerization of European jobs. Who will win and who will lose from the impact of new technology onto old areas of employment?, in: Internet: http://www.bruegel.org/2014/07/the-computerisation-of-european-jobs (Eingesehen am 29.03.2016).
Vgl. u. a. in Bezug auf die Schweiz Deloitte, Mensch und Maschine: Roboter auf dem Vormarsch? Folgen der Automatisierung für den Schweizer Arbeitsmarkt, Zürich 2015, in: Internet: https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ch/Documents/innovation/ch-de-innovation-automation-report.pdf (Eingesehen am 29.03.2016).
[4] Vgl. dazu Hilgendorf, Eric (Hg.), Robotik im Kontext von Recht und Moral. Robotik und Recht Bd. 3, Baden-Baden: Nomos, 2014; Kirchschläger, Peter G./Kirchschläger, Thomas (Hg.), Menschenrechte und Digitalisierung des Alltags. IHRF-Bd. VII, Bern: Stämpfli Verlag, 2010.
[5] Vgl. Kirchschläger, Peter G., Verantwortung aus christlich-sozialethischer Perspektive, in: ETHICA 22 (1/2014) 29-54.
[6] Vgl. dazu Brynjolfsson, Erik/McAfee, Andrew, The Second Machine Age, New York: W. W. Norton & Company, 2014, 10-11.
[7] Vgl. dazu Kirchschläger, Peter G., Gerechtigkeit und ihre christlich-sozialethische Relevanz, in: Zeitschrift für katholische Theologie 135 (4/2013) 433-456.
[8] Oxfam, An Economy for the 1%. How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped, in: Internet: https://www.oxfam.org/en/research/economy-1 (Eingesehen am 29.03.2016).
[9] Credit Suisse, Global Wealth Databook 2015. Total net wealth at constant exchange rate (USD billion), in: Internet: http://publications.credit-suisse.com/tasks/render/file/index.cfm?fileid=C26E3824-E868-56E0-CCA04D4BB9B9ADD5 (Eingesehen am 29.03.2016).
[10] Keen, Andrew, Das digitale Debakel, München: Deutsche Verlagsanstalt, 2015.
[11] Sacks, Jonathan, Swords Into Plowshares, in: The Wall Street Journal Review, October 3-4, 2015, C1-C2.
[12] König, Franz Kardinal, zitiert nach: Gmainer-Pranzl, Franz, Christus und die Religionen der Erde. In welchem Bekenntnis begegnet Gott? Kardinal König Bibliothek Bd. 2, Wien: Styria, 2015, 94.
Autor: Peter G. Kirchschläger, Uni Luzern