Eines der bedeutendsten Kunstereignisse ist die alle 5 Jahre stattfindende Documenta in Kassel. Viera Pirker (Wien) gibt einen Einblick in die aktuelle Ausstellung – und zwar unter dem Aspekt, was aus dem künstlerischen Zugang für die Theologie zu lernen ist.
Alle fünf Jahre unternimmt die Documenta den Einblick ins Labor. Wo steht die Kunst in der Gegenwart, ästhetisch und material? Welche gesellschaftlichen und anthropologischen Dimensionen verhandelt sie, wo bewegt sich der kunsttheoretische Diskurs? „Von Athen lernen“ lautet das didaktisch anmutende Motto, das der künstlerische Leiter Adam Scymczyk gewählt und mit seinem großen Team dieses Jahr zum ersten Mal an zwei Standorten umgesetzt hat. In Kassel werden Werke von 149 lebenden und 105 bereits verstorbenen Künstler_innen gezeigt. Die ‚Weltkunstschau‘ versucht, in vielerlei Hinsicht außerhalb des Fokus zu bleiben. Nur vor Ort lässt sich tatsächlich herausfinden, was zu sehen ist, vorausgesetzt, die lose an Haken hängenden Werksinformationen wurden nicht mitgenommen. Daher empfehlen sich Selbstvertrauen auf Assoziationskraft und eine gewisse Langsamkeit, zumal sich viele Werke kaum aus ihrer Materialität erschließen, sondern theoretische Referenzrahmen benötigen, um aufzublühen, dann allerdings nachhaltig.
Was lernt die Theologie vom Zugang gegenwärtiger Künstler_innen auf religiös relevante Themen?
Was gibt es in Kassel und von Athen zu lernen? Was lernt die Theologie daraus, wie gegenwärtige Künstler_innen auf religiös relevante Themen zugehen?
Die Inschrift BEING SAFE IS SCARY (Banu Cennetoğlu, 2017) warnt vor dem Versuch, im Fridericianum interpretative Sicherheit herzustellen. Denn keineswegs dürfen die Documenta-Besucher_innen hier die zentralen Weblinien der Gesamtausstellung erwarten. Stattdessen ist es zunächst ein Taumeln direkt ins Subjekt(ive), wenn die Besucher_innen gleich zu Beginn in die Lichtinstallation „The End“ von Nikos Alexiou (2017) eintreten. Sie funktionieren die projizierten bunten Lichter sofort zum Selfie-Hintergrund um, wodurch die digitale Reinszenierung des Bodenmosaiks aus einem Kloster auf dem Berg Athos aus dem 11. Jahrhundert in die Körper von Menschen übergeht. Im ganzen Gebäude erstreckt sich die Sammlung des griechischen Museums für zeitgenössische Kunst EMST, das seit 10 Jahren aufgrund der Finanzkrise nicht eröffnen kann. So ergreift der künstlerische Leiter mit der Documenta 14 Partei dafür, öffentliche und unabhängige Institutionen als Rückgrat der Kunstwelt zu stärken.
Auch wenn im Fridericianum keine Documenta-Kunst zu sehen ist, finden sich einzelne tiefgehende Verhandlungen der Frage nach Transzendenz in der Immanenz. So überzeugt immer noch das slow-motion-Video von Bill Viola, in dem eine Gruppe von Menschen durch den Angriff des Chaos-Wassers zerstoben wird und zueinander findet (The Raft, 2004). Janine Antoni hat die Grenzen von Kunst, Wissenschaft, Praxis und Intimität ineinander geschoben, indem sie ihre REM-Phasen aufgezeichnet, während sie in einem riesigen Webstuhl schläft und die an einem Computer ausgedruckte, zitternde Linie ihrerseits in einen Teppich verwebt (Slumber, 1994). Die feinen Körper-Bild-Leinwände von Statis Logothetis, die als Collagen funktionieren und von der Wand in die Welt ausschreiten (E113, 1970) lassen weiträumige Assoziationen über Mensch und Gewalt, Formung und Formbarkeit, Zeichen und Bezeichnung entstehen.
Das Motto „von Athen lernen“ weist auf die Wiege der Demokratie und ihre Selbst-Infragestellung in den gegenwärtigen politischen Systemen.
Das Motto „von Athen lernen“ weist auf die Wiege der Demokratie und ihre Selbst-Infragestellung in den gegenwärtigen politischen Systemen. Dazu gehört die starke Installation von Marta Minuín auf dem Friedrichsplatz (Parthenon of Books, 2017), ein Tempel in der Größe des athenischen Parthenon, der aus einstmals verbotenen Büchern errichtet ist. Die Künstlerin hat diese Aktion bereits 1983 in Buenos Aires nach dem Ende der Militärdiktatur mit den in Argentinien verbotenen Büchern durchgeführt. Das Kasseler Werk ist breiter angelegt, Bücher können weiterhin gespendet und ins Kunstwerk integriert werden.
Die intendierte Demokratiereflexion versinkt mitunter im Agitprop einer pauschalen West-Europa-Kapitalismus-Demokratie-Kritik: Sergio Zevallos hängt Schrumpfköpfe mit zugenähten Mündern von Ursula von der Leyen, Christine Lagarde, Josemaría Escrivá, Beate Zschäpe und anderen gemeinsam in eine Vitrine (A War Machine, 2017); Piotr Uklański zeigt mit einer Foto-Porträtwand von Schausspieler_innen in Nazi-Rollen (Real Nazis, 2017) eine laute, doch letztlich unreflektierte Position.
Kapitalismus- und Konsumkritik durch Verlangsamung, Praxis und Exklusivität
Aber zum Glück gibt es auch künstlerisch starke und ansprechende Kapitalismus- und Konsumkritik, weil sie auf Verlangsamung, Praxis und Exklusivität setzt: Die ökologisch und fair produzierte Seife von Otobong Nkanga (Carved to Flow 2017) wird an mehreren Standorten sehenswert präsentiert, doch der Erwerb eines Einzelstücks erfordert das Aufspüren eines der performativen Verkaufsorte in Kassel und ein individuelles Gespräch; ähnlich herausgefordert wird die Besucherin bei den in Vukovar wieder in Produktion genommenen Arbeiterinnenschuhen von Irena Haiduk (Nine Hour Delay (2012–58)), welche die Documenta-Mitarbeiter_innen tragen dürfen. Ihr Erwerb ist in dem Ausstellungsraum in der Neuen Hauptpost möglich und ebenfalls an ein Kundengespräch geknüpft.
Am gleichen Ort beeindruckt Theo Eshetu mit einer großen Erzählung in einer Mehrfach-Videoprojektion, die postkoloniale Doppelidentitäten thematisiert (Atlas Fractured, 2017).
Welche Kulturen begegnen einander, welche neuen Perspektiven ergeben sich?
Im Westpavillon der Orangerie reflektiert der Regisseur Romuald Karmakar mit einer LED-Installation „Die Entstehung des Westens – Von den Anfängen in der Antike bis zum Fall von Konstantinopel“ (2017) und zeigt die Videoarbeit „Byzantion“ (2017), in der er griechisch-orthodoxe und russisch-orthodoxe Mönche beim Singen des – von Engeln vertonten, wie die Tradition besagt – Marienhymnus Agni Parthene filmt. In die Athener Ausstellung ist die griechische Uraufführung von Karmakars Films „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ (2017) integriert, der mehrere berühmte DJs bei ihrer Arbeit portraitiert.
Was geschieht an den Rändern von Diskursen, Regionen, Situationen, Geschlechtern, der Sprache?
Die Documenta 14 lenkt den Blick in die Peripherie, sie lehrt das Auffangen der leisen Stimmen, aber auch des Widerstands. Was geschieht vor Ort? Was geschieht an den Rändern von Diskursen, Regionen, Situationen, Geschlechtern, der Sprache? Welche Kräfte stecken in den Individuen, wenn sie den Mut finden, eigenständig zu handeln?
Dies wird deutlich, wenn beispielhaft die palästinensische Künstlerin Ahlam Shibli in einer Fotoserie den Alltag von Migrant_innen dokumentiert, in denen Religion eine große Rolle spielt. In „Heimat“ (2016/17) porträtiert sie das heutige Leben von zwei Bevölkerungsgruppen, die nach Nordhessen eingewandert sind bzw. dort angesiedelt wurden – deutsche Kriegsflüchtlinge nach 1945, die alles hinter sich lassen und neu beginnen mussten, sowie ‚Gastarbeiter_innen‘ der 1960er und 1970er Jahre, die in dieser Region angeworben wurden. Beide Gruppen trafen unvorbereitet auf Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit, Religion und Heimatverbundenheit sind ihnen bis heute Trost.
Flucht und Vertreibung wird vielfach thematisiert und kommt selten ohne religiöse Konnotation vor. Selten dürfte ein Jesuswort („Ich war Fremdling und ihr habt mich beherbergt“) in einer internationalen Kunstausstellung so sichtbar gewesen sein, wie in der 16m hohen Stele, die der US-amerikanische Künstler und Sohn eines Predigers Olu Oguibe auf dem Königsplatz errichtet hat (Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument, 2017).
Mounira Al Solh reinszeniert die libanesische Bäckerei ihres Vaters (Nassibs Bakery, 2017) als Ort der Hoffnung inmitten kriegerischer Wirren und zeigt darin auch kleinteilige Porträtzeichnungen von geflüchteten Menschen (I Strongly Believe in Our Right to Be Frivolous, 2012–17).
Beim Mäandern durch Kassel fügen sich manche Linien und Fluchtpunkte, wachsen ineinander und kehren wieder: Lesen wir die Ausstellung als ein Rhizom mit Fluchtlinien, Stratifizierungen, selbstwachsenden Plateaus und Ineinander von Außen- und Innenperspektiven.
So ziehen sich von den Werken in den sechs Glaspavillons in der Kurt-Schumacher-Straße, dem heimlichen Herz dieser Documenta, Linien durch ganz Kassel, z.B. die großen Malereien von Vivian Suter (Nisyros. Vivian‘s bed, 2016-17)
zu den kleinformatigen Collagen ihrer 1922 in Wien geborenen Mutter Elisabeth Wild (Fantasias, 2016-17) in der Neuen Galerie und zu einem Film im Ottoneum, der beide bei der Werksentstehung an ihrem Wohnort in Guatemala begleitet.
Der Blick richtet sich auf das Individuum und den Körper.
Die Documenta 14 lenkt den Blick auf das Individuum und den Körper, welcher fragil und Veränderungen unterworfen, leicht zum Ort der Aushandlung von Macht und Kolonisierung wird.
So sticht in der Neuen Galerie die archivarisch starke Präsentation Lorenza Boettner (1959-1994) hervor. Als Ernst Laurenz Boettner, Kind deutscher Auswanderer, ist sie in Chile geboren. Durch einen Unfall beider Arme vollständig beraubt und insgesamt im falschen Körper gefangen, studiert sie an der Kunstakademie Kassel, vollzieht die Transformation zu Laurenza und tritt für die Anerkennung hand- und fußmalender Künstler_Innen ein, selbstinszenierend in extensiv performativen, radikalen und zugleich sensibel fragilen Werken, die als leise laute Linie hervorragend in die übervolle Neue Galerie gehängt sind und ein Statement in die nicht enden wollende Gender-Debatte hinein werfen.
Die Documenta fordert persönliches Involviertsein und langsame und intensive Annäherung.
Diese Documenta zielt weder auf den „wow“-Effekt noch auf das erschließende Nicken kunstbeflissener Menschen, sondern fordert persönliches Involviertsein und langsame und intensive Annäherung: Performances finden ein einziges Mal statt, einzelne Werke fordern einen Anweg von 30 Minuten, manche Filme werden nur einmal am Tag gezeigt. Intensität gilt auch für die eindrückliche Arbeit von Anne Gathmann in der kirchlichen Begleitausstellung in Sankt Elisabeth. Hier zwingt eine filigrane und doch raumgreifende Linie aus Metall die Betrachter_innen geradezu zum Nachdenken und Verweilen.
Die Kunst ist größer als das Leben, sie verlangt Widmung, die Kunst ist ein eifersüchtiger und starker Gott im Wettbewerb um Aufmerksamkeit.
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Bildnachweise (aus der Pressemappe der Documenta):
Banu Cennetoğlu, BEINGSAFEISSCARY, 2017, verschiedene Materialien, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14, Foto: Roman März
Theo Eshetu, Atlas Fractured, 2017, auf Banner projiziertes Digitalvideo, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke
Romuald Karmakar, Byzantion, 2017, Digitalvideo, Installationsansicht, Westpavillon (Orangerie), Kassel, documenta 14, Foto: Liz Eve
Marta Minujín, The Parthenon of Books, 2017, Stahl, Bücher, Kunststoffolie, Friedrichsplatz, Kassel, documenta 14, Foto: Roman März
Otobong Nkanga, Carved to Flow, 2017, Performance und Installation, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Liz Eve
Olu Oguibe, Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument, 2017, Beton, Königsplatz, Kassel, documenta 14, Foto: Michael Nast
Ahlam Shibli, Heimat, Nordhessen, Deutschland, 2016–17, Serie von 53 Fotografien, Installationsansicht, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14, Foto: Michael Nast
Mounira Al Solh, Arbeiten aus I Strongly Believe in Our Right to Be Frivolous, 2012–17, Grafit auf Papier, Installationsansicht, Glas-Pavillons an der Kurt-Schumacher-Straße, Kassel, documenta 14, Foto: Fred Dott
Vivian Suter, Nisyros (Vivian’s bed), 2016–17, verschiedene Materialien, Installationsansicht, Glas-Pavillons an der Kurt-Schumacher-Straße, Kassel, documenta 14, Foto: Fred Dott
Elisabeth Wild, Fantasias, 2016–17, Collagen, Installationsansicht, Neue Galerie, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke
Ausstellungszeiten der Documenta 14: Athen: April bis 16. Juli 2017, Di–So 11–21 Uhr; Kassel: Juni bis 17. September 2017, Täglich 10–20 Uhr
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Dr. Viera Pirker ist Assistentin am Institut für Praktische Theologie / Religionspädagogik der Universität Wien.