Was den Menschen in der Kirche aufgetragen ist, entwickelt Daniel Kosch aus der Auseinandersetzung mit Gedichten von Jürg Amman.
Im Gedichtband «Lebenslang Vogelzug» von Jürg Ammann*, der erst nach seinem Tod erschien, aber noch von ihm selbst zusammengestellt wurde, finden sich auf einer Doppelseite zwei kurze Gedichte, die beide mit der religiösen Situation unserer Zeit zu tun haben, obwohl ihre Botschaften unterschiedlich, fast gegensätzlich sind:
Anrufung
Wir müssen wieder
die Dome bauen, den Gott
wieder anrufen, ihn an-
locken durch die Behausung
in unserer Mitte.
Gebet I
Aber auch aufgehen
kann uns der Gott wieder, aufstehen
am Rand, aus dem Zwielicht,
wo er unterging, einmal,
einging in seine Ewigkeit.
Warte
Jedes der Gedichte hat einen eigenen Titel. Allerdings beginnt das zweite mit «Aber auch», was gleichzeitig signalisiert, dass das Gedicht an bereits Gesagtes anknüpft und Gegensatz signalisiert. Zudem sind beide Gedichte – bis auf das überschiessende «Warte», welches das zweite (nach dessen Schlusspunkt) abschliesst – gleich lang und sprechen beide von «dem Gott». Auch das «wieder» verbindet die Gedichte, ebenso die je zwei mit «a» beginnenden Verben «anrufen … anlocken», «aufgehen … aufstehen».
Es könnte also sein, dass es sich beim zweiten Gedicht um eine Gegenrede zum ersten handelt: Plädiert das erste für einen aktiven Dom- bzw. Kirchenbau, um Gott wieder anzurufen und anzulocken, erhebt das zweite möglicher Weise Einspruch: «Aber … warte». Nicht wir sollen den Gott wieder «in unsere Mitte» holen oder zumindest anlocken, sondern er soll «wieder aufgehen, aufstehen».
Dass das zweite Gedicht nicht bloss mit «aber» beginnt, sondern dass diesem Gegensatz signalisierenden Wort ein anknüpfendes «auch» folgt, ermöglicht jedoch eine andere Lesart: «der Gott» ist nicht nur dort «in unserer Mitte» präsent, wo er angerufen, wo ihm Dome gebaut und wo er angelockt wird – sondern «auch» anderswo, nämlich «am Rand» im «Zwielicht», ja selbst «wo er unterging».
Was also ist zu tun? Handeln, wieder Dome bauen – was, wie die berühmte Berufungserzählung des Franz von Assisi, in deren Zentrum das Wort «Baue meine Kirche auf» steht, keineswegs wörtlich verstanden werden muss? Oder aber warten, dass Gott aufgeht, der vom «Rand» wieder «in unsere Mitte» tritt?
Hätte der Dichter sich für die passive Variante und gegen die zunächst als Auftrag («wir müssen») empfundene aktive Variante entschieden, so hätte er das Gedicht «Anrufung» weggelassen, zumal auf der nächsten Seite erneut ein explizit religiöses Gedicht folgt, das ebenfalls als Gegenstück oder Fortsetzung von «Gebet I» geeignet gewesen wäre:
tief hinab
wo das urgestein wurzelt
geht meine suche nach gott.
Jürg Ammann lässt beides stehen: bauen und warten. Und in der ich-Form ergänzt er es mit der «Suche nach Gott», die in ihn in die Tiefe führt.
Die drei Gedichte mit ihren Hauptverben «bauen», «warten» und «suchen», und den drei Substantiven «Mitte», «Ränder» und «Tiefe» regen dazu an, darüber nachzudenken, was der Kirche, was ihren Verantwortlichen und was jedem einzelnen ihrer Mitglieder heute aufgetragen ist:
- aktiv gestalten, Anziehungspunkte und Voraussetzungen für die Erfahrbarkeit Gottes «in unserer Mitte» schaffen, für unbehauste Menschen Orte schaffen, wo sie erfahren können, dass Gott dort wohnt und Heimat schenkt;
- aufmerksam sein für den Gott, der «an den Rändern» aufgeht und auf(er)steht, dort wo auch Jesus ihn aufsuchte und dadurch für die «in der Mitte» zur zwielichtigen Gestalt wurde, zum Fresser und Säufer, zum Freund der Zöllner und Dirnen, der Ehebrecherinnen und der psychisch Verwahrlosten, jener, die in ungeordneten Verhältnissen leben, der religiös Randständigen, der Andersgläubigen und Ungläubigen;
- sich selbst auf die Suche machen, nicht an der Oberfläche weltlicher oder kirchlicher Betriebsamkeit bleiben, sondern in die Tiefe gehen, die Überlagerungen und den Schutt der Geschichte durchdringen, um zum «Urgestein» zurückzufinden, zum Anfang des Evangeliums, dort wo der Glaube, wo auch die Kirche «wurzelt». Dorthin, wo der Glaube, wo die Kirche und wo jeder Mensch seine Lebenskraft finden kann: In der Gegenwart dessen, den die Glaubenden zwar anrufen und anlocken können, der aufgeht und aufsteht, über den sie aber nie verfügen und den sie nicht haben und dingfest machen können, sondern auf den alle, ob sie nun in der Mitte oder am Rand stehen, stets warten und lebenslang auf der Suche sind.
(Daniel Kosch)
* Jürg Ammann, Lebenslang Vogelzug. Gedichte, Innsbruck/Wien 2014, zitierte Gedichte: 18-20.