Simon Reiners stellt mit Donna Haraway eine große US-amerikanische Denkerin mit ihrer Technikkritik, feministischen Wissenschaftskritik und ihrer Perspektive auf die ökologischen Krisen vor.
Am 06. September 2024 wird die Biologin und feministische Theoretikerin Donna Haraway 80 Jahre alt.[1] Über ihre eigene Forschung sagt sie: „Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen.“[2]
Unruhe zu stiften in turbulenten Zeiten und Utopien für eine bessere Zukunft zu entwerfen ist ihr Anliegen der letzten fünf Jahrzehnte gewesen und geblieben. Haraway betrachtet Wissenschaften als die Auseinandersetzung mit den Krisen ihrer Zeit. Insofern schaut sie in ihrer Forschung auf Phasen der Militarisierung im Kalten Krieg, Konflikte der Gentechnologie, Digitalisierung und Kommunikationstechnologien. Mittlerweile steht die ökologische Katastrophe im Mittelpunkt ihres Denkens. Als Naturwissenschaftlerin und Philosophin bearbeitet sie die Themen jeweils an der Schnittstelle von Mensch, Natur und Technik. Heute ist Haraway zu einer der einflussreichsten und innovativsten Philosoph:innen unserer Zeit geworden.[3]
Grenzenlosigkeit
zu denken gelernt
Haraway wird 1944 in Denver, Colorado geboren. Sie wächst in einem katholischen Haushalt auf. Ihre ersten Begegnungen mit der Philosophie macht sie über ihren jesuitischen Beichtvater. Auch wenn Haraways Arbeiten heute keine expliziten Bezüge dazu herstellen, weist sie gerne darauf hin, wie diese Ursprünge ihr eine ganz eigene Art zu denken eröffnet haben. Sie sagt, sie habe beispielsweise gelernt, Grenzenlosigkeit zu denken, ohne diese durch Normen zu beschneiden.
Zudem verortet sie im Katholizismus ihr Denken von Freiheit durch die Aufwertung des Leibes. Im 2023 hat nun auch Papst Franziskus Donna Haraway für sich entdeckt. In seinem Apostolisches Schreiben ‚Laudate Deum‘ zitiert er ihr Buch „When Species Meet“. Darin schreibt sie über ihre Beziehung mit Cayenne Pepper, ihrem Hund. Franziskus möchte durch diese Bezugnahme auf die Verbindung aller Geschöpfe aufmerksam machen. Haraway quittiert dies überrascht und erfreut mit der Aussage: „I had not known before that moment that dog training for the sport of agility was a notable part of catholic doxa!“[4]
Biologie –
eingebettet in ein Netz
von historisch-sozialen Bezügen
Haraway studiert in Colorado, Paris und Yale Biologie und Zoologie sowie Philosophie und Literatur. Die Verflechtung dieser vermeintlich getrennten Wissenschaften und Haraways aufkommendes feministisches Engagement in marxistischen Bewegungen werden zur Grundlage ihres Denkens. 1984 erhält sie die erste Professur für feministische Theorie am History of Conciousness Department der University of California, Santa Cruz. An diesem durch Grenzverschiebung der Disziplinen geprägten Institut forscht sie gemeinsam mit Wissenschaftler:innen wie James Cliffort, Angela Davis, Hayden White oder Anna Tsing. Diese Konstellation ermöglicht ihr die Arbeit an den Schnittstellen von Biologie, Technik und Anthropologie mit Marxismus, Poststrukturalismus und politischen Bewegungen. Als Biologin ist sie davon überzeugt, dass ihre Disziplin nicht bloß der Empirie der Welt dient. Biologie sei eingebettet in ein Netz von historisch-sozialen Diskursen. Mit dieser Ansicht bildet sie gemeinsam mit Bruno Latour eine der zentralen Figuren der Science and Technology Studies (STS).
Primatologie –
Festschreibung bestehender
Herrschaftsverhältnisse
Haraways erste Arbeiten zu feministischen Perspektiven in der Wissenschaftsgeschichte befassen sich in den 1970er und 1980er Jahren mit der zu dieser Zeit prominenten Primatologie.[5] Diese Wissenschaft begibt sich auf die Suche nach biologischen Ursprungsgeschichten der Menschen. Haraway zufolge dient die Primatologie jedoch vor allem der Legitimation von vergeschlechtlichten und rassifizierten Herrschaftsverhältnissen. Diese würden begründet durch die Interpretation von Befunden über die Entwicklung der Natur des Menschen. Die vermeintlich neutrale Primatologie schreibe diese Verhältnisse in ihre Forschung ein und gesellschaftlich fest.
Cyborg-Manifest –
eine feministische Technikkritik
Haraways wohl bekanntestes Werk, „A Cyborg Manifesto“[6], fällt 1985 in die Konflikte der Reagan-Ära. Diese Zeit ist geprägt von intensiver Aufrüstung im Kalten Krieg und neoliberaler Wirtschaftspolitik. Beides drückt sich in rasanter Technologisierung aus. Dementsprechend formuliert Haraway im Cyborg-Manifest eine feministische Technikkritik. Die Figur der Cyborg, die eigentlich ein militärisches Projekt ist, stellt für Haraway die Auflösung des Mensch-Maschine-Dualismus dar. Dabei geht es ihr um die Wiederaneignung des patriarchalen Diskurses um die Macht der Technologien. Oft wird Haraways Cyborg-Figur überstrapaziert als eine transhumanistische Mensch-Computer-Theorie. Sie ist richtig verstanden aber nicht mehr und nicht weniger als eine repolitisierende Figur der Intervention zu einem verantwortungsvolleren, auf Beziehungen statt Trennung ausgelegten Weltverhältnis.
Wahrheit in Verantwortung
für den eigenen Standpunkt
Auf die Technikkritik folgen Haraways Studien zur feministischen Wissenschaftskritik. In ihrem zentralen Aufsatz „Situated Knowledge“[7] von 1988 kritisiert sie den Anspruch moderner Wissenschaften auf einen neutralen Standpunkt. Forscher:innen würden behaupten, quasi von „nirgendwo“ auf ihren Forschungsgegenstand zu schauen. Diese Annahme einer vermeintlich „anspruchslosen Zeugenschaft“ bezeichnet sie als „God Trick“. Stattdessen spiele sich Wissen immer in einem konkreten Raum und zu einer konkreten Zeit ab. Demnach sei Wissen immer situiert, partial und nie rein. Haraway betrachtet das jedoch nicht als Relativismus. Statt Wahrheit grundsätzlich abzulehnen, etabliert Haraway einen Begriff von feministischer Objektivität. Ein solcher übernimmt Verantwortung für den eigenen Standpunkt, anstatt Neutralität zu behaupten, wo es keine geben kann.
Implodierende Grenzen
zwischen Natur und Kultur
Durch die voranschreitende Entwicklung der Gentechnologien in den 1990er Jahren rückt dieses Thema einer ‚Neuerfindung der Natur‘ in den Fokus von Haraways Unruhe. Das Körperinnere wird zum Kampfplatz politischer und ökonomischer Interessen. Die Erforschung des Genoms und DNA-Sequenzierung behaupten die ‚Wahrheit‘ über Mensch und Natur zu sagen. Durch Patente werden diese Daten zeitgleich zur Ware. Eine besondere Rolle spielt dabei Haraways Figur der „OncoMaus“ [8]: Zu Studienzwecken werden diesen Labortieren Krebszellen eingepflanzt. Ihre Natur wird technisch verändert, um menschliches Leben zu verbessern. Das Leiden und Sterben der OncoMaus ist dadurch untrennbar verwoben mit der Zukunft der Menschen. Haraways Kritik an den implodierenden Grenzen von Natur und Kultur bleibt zu jeder Zeit gepaart mit einer feministischen Perspektive, die auch die Konstruktion der vermeintlichen Natur der Frau als Zeichen von Herrschaft begreift.
Wie sich verantwortungsvolles
Leben gestalten lässt
Eine Zuspitzung erfährt die ethische Auseinandersetzung mit Mensch-Naturverhältnissen in den frühen 2000er Jahren in Haraways bereits angesprochenen Arbeiten über ihre Beziehung zu ihrem Hund Cayenne. In ihrem zweiten Manifest, „The Companion Species Manifesto“[9] und dem von Franziskus zitierten Buch „When Species Meet“[10] verlagert Haraway den Fokus von der Fragmentierung von Körpern (z.B. Cyborgs) auf die positive Rolle von Beziehungen. Wer oder was jemand ist, wird bedingt durch die Verbindung mit Anderen, menschlich oder nicht. Haraways Studien gehen weg von epistemologischen Betrachtungen darüber, wie sich Leben beschreiben lässt. Der Fokus liegt nun auf ethischen Frage danach, wie sich verantwortungsvolles Leben gestalten lässt. Sie richtet ihren Blick auf ein verantwortungsvolles Mit-Werden, wie Haraway es bezeichnet. Nichts wird von alleine. Alles besteht in Beziehungen.
Geschichten eines
verantwortlichen Lebens
Es ist wenig überraschend, dass sich Haraways „Unruhig bleiben“ heute auf die gemeinsamen Lebensverhältnisse im Anthropozän, dem Zeitalter der menschgemachten ökologischen Krisen, konzentriert. In dem gleichnamigen Buch[11] von 2016 arbeitet sie zu den katastrophalen Entwicklungen des Klimawandels, zum Artensterben und dem Ende des bisherigen Lebens auf einem geteilten Planeten. Die Auseinandersetzung mit Fragen der Relationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen ist eine explizite Kritik am menschlichen Exzeptionalismus. Der Mensch als selbstverstandener Beherrscher der Natur erfährt heute, dass sich sein Handeln gegen das eigene Überleben richtet. Dem stellt Haraway Geschichten eines kollektiven, sorgsamen und verantwortlichen Lebens auf einem beschädigten Planeten gegenüber. Das gelinge nur durch das Eingehen und Anerkennen mehr-als-menschlicher Beziehungen. Diese bilden ein vielgliedriges, lebendiges Netz von Menschen mit nicht-menschlichen Wesen, anderen Tieren, Dingen, Organismen und so weiter.
Arbeit an einer Welt,
die nachhaltigeres Leben
vorstellbar macht
Das Erzählen von sorgsamen und lebhaften Geschichten als Interventionen in die Krisen ihrer Zeit durchzieht Haraways gesamte Arbeit. In der Form der Cyborg, der anspruchslosen Zeugen, der OncoMaus, von Cayenne und vielen weiteren Figuren spekuliert sie über verantwortungsvolle Beziehungen. Sie arbeitet damit kontinuierlich an einer Welt, die ein anderes und nachhaltigeres Leben vorstellbar macht. In dieser Funktion ist Donna Haraway weiterhin eine hoffnungsvolle und sorgsame Stimme in unruhigen Zeiten.
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Simon Reiners ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. 2023/2024 verbrachte er einen Forschungsaufenthalt am History of Consciousness Department der UC Santa Cruz.
(Foto: Oswald von Nell-Breuning Institut, Frankfurt a.M.)
Titelbild: Wolfgang Beck
Porträtfoto: privat / Campus Verlag
Foto: Buch-Cover “Unruhig bleiben” / Donna Harraway / Campus Verlag
[1] Ich danke Mirjam Schliephak für ihre umfassende Unterstützung am Werden dieses Artikels. Nichts entsteht von alleine, wie Haraway wohl sagen würde.
[2] Haraway, Donna J.: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt, 2018.
[3] Hoppe, Katharina: Die Kraft der Revision. Epistemologie, Politik und Ethik bei Donna Haraway. Frankfurt, 2021.
[4] Das Zitat stammt aus einem Vortrag von Donna J. Haraway von Dezember 2023 in Utrecht.
[5] Haraway, Donna J.: Primate Vision. Gender, Race and Nature in the World of Modern Science. London/New York, 1989.
[6] Haraway, Donna J. A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology and Socialist Feminismin the 1980s, in: Socialist Review 80, 1985.
[7] Haraway, Donna J.: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (3), 1988.
[8] Haraway, Donna J.: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan_Meets_OncoMouse: Femaleman Meets Oncomouse : Feminism and Technoscience. London/New York, 1997.
[9] Haraway, Donna J.: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago, 2003.
[10] Haraway, Donna J.: When Species Meet. Minneapolis, 2007.
[11] Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän.